Frank Novak - Zerreißprobe


Frank Novak - Erzählung
Zerreißprobe


Mittwoch Morgen:


Es war empfindlich kalt geworden und die Straßen glänzten noch von den nächtlichen Regengüssen. Vor dem mehrstöckigen Wohnhaus im viktorianischen Baustil drängten sich die Schaulustigen, stampften zum Aufwärmen mit den Füßen und hatten die Köpfe in ihre Mäntel und Umhänge gezogen. Die Hände steckten tief in den Taschen. Die Polizisten versuchten die Menschenmenge mit stoischer Ruhe zurück zu drängen, damit der Wagen der Spurensicherung rückwärts bei fahren konnte. Doch selbst als der Fahrer den Dieselmotor des Wagens einmal voll aufheulen ließ und die vordersten Gaffer von einer stinkende Abgaswolke eingehüllt wurden, machten sie keine sonderlichen Anstalten den Weg frei zu geben. Die Bereitwilligkeit zum Rückzug änderte sich allerdings schlagartig, als ein dunkler Vauxhall ungebremst über die nasse Strasse heranzischte und dabei rauschend durch eine große Pfütze fuhr. Das aufspritzende Wasser zwang die bis jetzt noch unbeirrbaren Gaffer tropfend, fluchend und geifernd nach hinten zu springen. Der Fahrer brachte seinen Wagen abrupt zum stehen und würgte den Motor ab. Ein älterer Constable, der damit beschäftigt war, die Gaffer im Zaun zu halten, den offenbar aber nichts mehr aus der Ruhe bringen konnte, blickte seinen Kollegen mit einem viel sagenden Blick an.
"Er ist da".
Die Fahrertür flog auf und ein großer Mann entfaltete sich aus dem Auto, schlug den Kragen seiner Weste hoch, drückte die Tür mit dem Absatz zu und ging, ohne die verärgerten Gaffer auch nur eines Blickes zu würdigen auf den Hauseingang zu.


*


"Kennen Sie alle Bewohner des Hauses, Sir?"
Der livrierte Portier nickte indigniert und schaute dem Constable mit einem, während Jahren zum Markenzeichen gewordenen, zutiefst herablassenden Blick an, als könne er nicht verstehen, warum dieser junge Schnösel jemandem wie ihm eine solch unangebrachte und überflüssige Frage stellen konnte. Wer in dieser Straße, in einem dieser altehrwürdigen Appartementhäuser als Portier arbeitete, und das, bitte schön, schon mehr als 15 Jahre lang, war so etwas wie die Seele des Hauses. Aber wie sollte man einem einfachen Constable den würdevollen Status dieses traditionellen Vertrauenspostens in seinem ganzen Umfang darstellen wollen? Der Portier seufze ergeben.
Der junge Polizist nahm von der offensichtlichen Herablassung keinerlei Notiz. Er blickte desinteressiert über die linke Schulter des Uniformierten auf einen imaginären Punkt jenseits der Straße.
"Hat in den letzten drei, vier Stunden jemand Unbekannter das Haus betreten und wieder verlassen?"
Der Portier nickte wieder nur und erging sich erneut in seinen Überlegungen, als ihn die gedämpfte Stimme des herankommenden Mannes auf eine brüske Art und Weise in die Gegenwart zurück beorderte.
"Können Sie auch reden", fauchte der Inspektor," oder soll ich Sie dazu aufs Revier zitieren lassen?" Die Hände steckten noch in seinen Westentaschen. Er hatte sich nicht einmal an den Portier gewandt, als er ihn ansprach.
Der Portier, der ebenso groß gewachsen war, wie der Mann, schaute diesen entgeistert an und öffnete den Mund, als wolle er endlich seine Fähigkeit zu Sprechen unter Beweis stellen. Der Ankömmling deutete die Mimik des Portiers entsprechend, schaute aber auf den Gehsteig vor seinen Füßen und hob nur die Augenbrauen erwartungsvoll:
"Ja ?"
Der Portier stockte wieder und in seinem Gesicht spiegelten sich jetzt Missbilligung und Zorn. Er hob den Kopf in betonter Entrüstung:
"Mit Verlaub, Sir, hören Sie bitte…"
"Mann, dazu befleißigt sich mein Kollege hier ja schon die ganze Zeit. Er hört aber nichts", fiel ihm der Inspektor ins Wort, zuckte kopfschüttelnd die Schultern und setzte an, durch die doppelflügelige Glastür ins Haus zu gehen, Wie ein Wunder begann der Portier plötzlich zu reden.
"Ja, Sir. Ein Mann, jemand, den ich nicht kenne und den ich aufgrund seiner Erscheinung und seines Benehmens auf keinen Fall in Bezug mit einer der hier residierenden Familien bringen könnte".
Der Inspektor blieb stehen und wandte sich halb über die Schulter an den Portier.
"Sie können ja reden wie ein Wasserfall". Der Portier verschluckte sich fast an dem beißenden Sarkasmus. Der Mann drehte den Kopf noch etwas weiter nach hinten und wandte sich an den jungen Constable: "Harry, interviewen Sie bitte dieses Individuum hier und falls es nicht kooperiert, schleppen Sie es an seinen Tressen in mein Büro".
Er blickte den Portier gerade in die Augen und zischte mit zusammengepressten Zähnen:
"Dieser junge Mann kann und darf das, und falls Sie ihr versnobtes Mundwerk nicht sprudeln lassen, wie eine Quelle im Frühling, sorge ich eigenhändig dafür, dass Sie ab morgen im East End die Eingangstür von dem schäbigsten Puff bewachen."
Der Portier stand wie eine Salzsäule. Seine Gesichtsfarbe war ins Graue gerutscht. In seinem bis in die Grundfesten verletzten Ego lösten sich Indignation und Mordlust in hektischem Wechsel ab. Er stand mit offenem Mund, und blickte dem Inspektor noch nach, als dieser schon im Aufzug verschwunden war.
Der junge Constable pflanzte sich wieder vor dem Portier auf und murmelte, als würde er mit sich selbst reden:
" Der Inspektor ist ein viel beschäftigter Mann. Wir alle sind sehr beschäftigt, Sir", und nach einer kleinen Kunstpause, während der er sein Notizbuch aufschlug und umständlich darin blätterte;" … besonders mit solchen Eierköpfen wie Sie, Sir, die den Ernst der Situation nicht verstehen wollen, Sir". Er blickte mit einem betont freundlichen Lächeln zu dem Portier hoch. Dieser überragte ihm um mehr als einen Kopf, so dass er sich nach hinten strecken musste. Beim Portier spielten die Hormone verrückt. Er kam sich vor, wie in einem dieser billigen amerikanischen Filme, in dem die Polizisten alle Bill und Jo hießen und absolute Kulturbanausen waren. Was für eine Welt.
"Ihr Name, Sir".
Er blickte den jungen Constable verzweifelt an und wünschte sich, das alles wäre bloß ein schrecklicher Traum.
"Ihr Name, Sir. Bitte!"


*


Inspektor Algernon Burke verließ den Aufzug im vierten Stockwerk mit weit ausholenden Schritten und prallte ziemlich heftig mit einem dicken Mann zusammen.
"Sorry", murmelte Burke und wollte weitergehen, als die keifende Stimme des Dicken sein Trommelfell auf eine harte Probe stellte.
"Können Sie nicht aufpassen? Sie haben wohl keine Augen im Kopf, sie ungehobelter Rüpel".
Burke erstarrte auf der Stelle. Sein Kopf hob sich leicht und sein ziemlich breiter Rücken spannte sich, so dass seine Weste aus den Nähten zu platzen drohte. Dann atmete er langsam aus, drehte sich gefährlich bedächtig um und sah in die vor Aufregung hektisch flackernden Augen des dicken Mannes. Burke holte tief Luft und auf seinen Lippen bildeten sich schon einige rasiermesserscharfe und, wie er hoffte, zutiefst sarkastische und verletzende Bemerkungen. Er wurde um seinen Lustgewinn betrogen, als er spürte, wie sich eine Hand besänftigend auf eine Schulter legte. Er erkannte Chief-Constable Murphy an dessen sanfter Stimme.
"Lassen Sie es gut sein Chef. Das ist der Mann, der uns gerufen hat. Er ist ein bisschen aufgeregt. Hier geschieht nicht alle Tage ein Mord".
Burke sackte leicht zusammen und entspannte sich. Er mochte Murphy sehr, einen äußerst feinfühligen und besonnenen Kamerad, mit dem ihn fast so etwas wie eine Freundschaft verband. Immerhin arbeiteten sie nun schon fast zehn Jahre ziemlich erfolgreich zusammen. Jetzt aber verfluchte er ihn, weil Murphy ihm mit seiner sanften Stimme den Spaß an einer sarkastischen Entladung all seines Frustes verdorben hatte. Er nickte trotzdem und wandte sich fast wie unter Protest, aber halbwegs manierlich an den Dicken:
"Schon gut Sir, und danke für ihre Hilfe". Der Dicke blickte ihn noch immer feindselig an und in seinem Mundwinkel bildete sich nun ein überhebliches Lächeln.
"Danke für ihre Hilfe", äffte er Burke nach, " wenn ich das schon höre. Ein halbe Stunde hat es gedauert, bis all diese Leute hier waren und mit ihrem polizeilichen Getue die zivilisierte Ordnung und Ruhe in diesem Haus stören. Polizei!! Nicht zu fassen". Er wirbelte seinen dicken Körper herum und trippelte mit hoch erhobenem Kopf, wippendem Bauch und kleinen Schritten auf den Aufzug zu.
Burke kniff die Augen zu und schnappte nach Luft. Er öffnete dem Mund, schloss ihn dann aber wieder, als er von Murphy ein zwar sanftes, aber sehr bestimmtes "Nein, Sir!" vernahm. Er schluckte die unflätige Antwort, die ihm spontan in den Sinn gekommen war, wieder hinunter. Sein Gesichtsausdruck war dem eines bissigen Rottweilers nicht sehr unähnlich. Er schüttelte Murphys Hand unwillig von seiner Schulter, nahm die Hände aus den Westentaschen und ging auf die Appartementtür zu. Murphy folgte ihm auf dem Fuß. Er streckte die Hand aus und wollte dem Inspektor noch etwas mitteilen, als die Tür nach innen aufging und Burke, weil er die Klinke fassen wollte, ins Leere griff und taumelte.
Er blickte auf einen kleinen dünnen Mann in einem weinroten, seidenen Morgenmantel und Pantoffeln, die ohne Zweifel teurer waren als die seinen. Das faltige Gesicht des kleinen Mannes verzog sich abschätzend nach unten, und die wässrigen Augen quittierten Burkes unfreiwillige Geste mit einem zuerst verständnislosen, dann aber zutiefst missbilligenden Blick. Seine nassen Augen fixierten Burke nun kritisch. Als er sprach, öffnete er kaum den dünnlippigen Mund. Er beugte sich leicht nach vorn und schaute Burke von unten her ins Gesicht. Seine Stimme klang wie im Stimmbruch:
"Haben Sie getrunken?"
Burke richtete sich wieder aus seiner schwankenden Haltung auf und schüttelte verständnislos den Kopf.
"W..waas?" Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Ihm wurde langsam der Kragen zu eng. Was wollten all diese Leute? Warum konnten sie ihn nicht in Ruhe seinen Job machen lassen. Zu dem Unwillen gesellte sich die verzweifelte Wut des Hilflosen und Unverstandenen. Der kleine Mann gab ihm jedoch nicht die Spur einer Chance. Er kam direkt auf Burke zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und schnüffelte an seinem Gesicht herum. Burke wandte sich dem Verzweifeln nahe, mit einem Blick resignierender Hilflosigkeit an Murphy. Dieser zuckte unmerklich mit den Schultern, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und hob warnend die Augenbrauen, dann hörte Burke wieder die, sich wie im Tremolo überschlagende und befehlende Stimme des Wichtes.
"Ich fragte Sie, ob sie getrunken haben, Sir".
Während Burke seinen Partner anschaute, erblickte er am Aufzug den Dicken, der mit einem hämischen Zug um den Mund und einem, seine üppige Genugtuung bestätigenden Blick die Szene an der Tür beobachtete. Dann quengelte die brechende Stimme des kleinen Mannes wieder dazwischen.
"Sollte ich meine Frage wiederholen müssen, Sir?"
Die ersten Irrlichter blitzten vor Burkes Augen und er spürte, wie es in seinem Schläfen zu pochen begann. Seine Halsadern schwollen an und er wollte gerade dem Zwerg mit Inbrunst den Hals umdrehen, als Murphy erneut schlichtend eingriff:
"Inspektor, darf ich ihnen Super Intendent Bloomsbury a.D. vorstellen. Er wohnt hier im Haus und bot uns spontan seine Hilfe und jahrelange Berufserfahrung bei den Ermittlungen an."
Er schickte Burke noch einen bittenden und um Kooperation heischenden Blick zu, dann wandte er sich an den Zwerg und machte eine Handbewegung in Richtung Burke." Sir, das ist Inspektor Burke. Er leitet die Ermittlungen".
Der kleine Mann namens Bloomsbury wandte sich mit einem gönnerhaften Blick an den Chief-Constable: "Danke junger Mann, sie können jetzt gehen". Mit einem zweifelnden Blick auf Burke, dem die Schläfen wie Dampfhämmer pochten und dem es vor den Augen arg zu drehen begann: "Ich hätte schwören können, dass sie getrunken haben, … so wie Sie hier herein geschwankt sind?"
Bloomsbury war noch näher herangetreten und jetzt roch Burke seinerseits sehr deutlich die süßliche Fahne, die ihm aus dem leicht geöffneten Mund dieses komischen kleinen Mannes entgegen wehte. Der Druck in seinem Kopf wurde etwas milder. Er hob kurz seine leicht gerümpfte Nase und als er sprach, troff seine Stimme förmlich vor Ironie:
"Trockener Sherry?", meinte er betont hämisch und fuhr mit der Hand angewidert durch die Luft, als wolle er eine ekelhafte Duftwolke wegwischen. "Aber einer der billigen Sorte, nicht wahr, Sir?"
Er genoss mit unverhohlener Schadenfreude jede Sekunde, mit der die Mimik in Bloomsburys Gesicht in Kaskaden Purzelbäume schlug.
"Noch einen schönen Tag, Sir", sagte Burke artig, aber es klang eher wie eine messerscharfe Zurechtweisung.
Er ließ den kleinen Bloomsbury achtlos stehen und stakte an ihm vorbei in die Wohnung.
"Sie werden noch von mir hören, Inspektor", quengelte der Super Intendent a.D. ihm nach und Burke dachte an etwas ungezogen Unflätiges, das Bloomsbury bei ihm unterhalb des Rückens machen solle.
Er stampfte an ein paar ringsum ihn beschäftigten Beamten der Spurensicherung vorbei, ignorierte ihre Grüße und ging geradewegs auf das nächste Fenster zu. Indem er auf das Fenster zeigte, bellte er den jungen Beamten an, der daneben stand:
"Spuren gesichert?"
"J…ja, Sir. Ja".
Burkes wilder Blick und seine bellende Stimme hatte nicht bloß den Beamten neben dem Fenster alarmiert. Im Zimmer hoben alle wie auf Kommando fast pflichtbewusst erstaunt und erwartungsvoll die Köpfe. Alle blickten auf Burke, wie er das Fenster öffnete, seine Krawatte lockerte, die Hände auf die Fensterbank stützte, den Kopf nach hinten bog und tief einatmete.
Dann beugte er sich nach vorn und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er griff in die Westentasche und klaubte eine Zigarette aus dem Päckchen, steckte sie schon fast demonstrativ zwischen die Lippen und zündete sie an. Er inhalierte tief und blies den Rauch schroff wieder aus, wohl wissend, dass er eine der elementarsten Regeln der Polizei an einem Tatort verletzte. Das Ritual war beendet. Als er sich zu den Anwesenden umdrehte, blitzten eine Augen streitlustig und provozierend. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Seine Stimme klang erregt und leicht hysterisch, als er sich von der Festerbank abstieß:
"Ihr wollt es wissen? Wollt ihr das? Hah? Ok. Ich hab die Nacht kein Auge zugetan, weil irgendwo irgendein Arschloch meinte, einem anderen Arschloch eine Schere in den Wanst rammen zu müssen. Weil in Paddington ein voll gedröhnter Junkie einem Taxifahrer die Kehle aufgeschlitzt hatte. Weil im Hafenviertel ein russischer Mafiascheißer glaubte, nichts Besseres zu tun zu haben, als einer Prostituierten Azeton ins Gesicht zu schütten. Endlich zuhause, musste ich den Liebhaber meiner Frau aus dem Haus prügeln und mir dann eine Stunde lang das Gezeter meiner Herzallerliebtsen anhören, bis ich ihr eine scheuerte und ihr hysterisches Geblöke den Kleinen aufweckte, der seinerseits nun auch in ihren Sirenangesang einstimmte. Als ich dabei war meine Klamotten zu packen, rief die Zentrale an und beorderte mich hierher, wo ich zuerst über ein Hausfaktotum aus der viktorianischen Epoche und dann einen Fettsack der hausinternen Oberklasse stolperte, um einem quengelnden Gnom mit dem Rang eines pensionierten Superarschlochs in die Arme zu fallen, der mich allen Ernsts fragte, ob ich besoffen sei".
Er inhalierte einen tiefen Zug und der Rauch entwich seinem Mund in kurzen Stößen, als er weiter sprach:
"Ich habe verdammt noch mal die Schnauze gestrichen voll. Also glotzt mich nicht so bescheuert an, sondern macht eure Arbeit!"
Murphy atmete aus und senkte den Kopf. EIn Hauch von einem Grinsen erschien in seinen Mundwinkeln. Der Sturm war vorbei und am Tatort kehrte wieder emsige Betriebsamkeit ein.


Burke warf seine angerauchte Zigarette zu Boden, trat sie aus und wandte sich wie beiläufig an seinen Assistenten:
"Kann ich bei dir parken, bis ich eine Wohnung gefunden habe?" Murphy blickte ihn mit gerunzelter Stirn zuerst ein bisschen verständnislos an, dann überkam ihn die Fülle der Erkenntnis. Das was er für einen der gewohnten Wutausbrüche seines Chefs gehalten hatte, stimmte also. In Burkes Augen sah er die Bestätigung.
"Danke, Mortimer", murmelte Burke und legte Murphy bestätigend die Hand kurz auf die Schulter. Bevor der Chief-Constable antworten konnte, hatte Burke den Raum wieder verlassen. Murphy murmelte etwas, das wie "keine Ursache" klang, schaute einen Moment ziemlich belämmert drein, zwang sich aber dann dazu, wieder zur Tagesordnung zurückzukehren.


Der Dicke stand noch immer am Aufzug und schaute in Richtung der Appartementtür, begann aber dann, als er den Inspektor mit wild rollenden Augen auf sich zukommen sah, hastig und nervös auf den Rufknopf für den Aufzug zu tippen.


Mittwoch Nachmittag:




Er hatte den Wagen zwei Straßen weiter am Bordstein abgestellt und ging den Rest zu Fuß. Er hatte gehofft, dass die feuchte Kälte und ein paar tiefe Atemzüge ihm den Kopf klarer machen würden. Allein, je näher er dem Haus kam, desto schlechter fühlte er sich. Sein Nacken war gespannt und er verspürte ein leichtes Ziehen bis in den Hinterkopf hinein. Den Kragen seiner Weste hatte er hochgeschlagen und den Kopf quasi zwischen die Schultern gezogen. Er fröstelte. Nicht dass es extrem kalt gewesen wäre. Er hatte nur seit achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen, war gereizt, nervös und wahrscheinlich auch ein bisschen überarbeitet. Scheiße, nein! Er war stocksauer und es hatte wieder angefangen Bindfäden zu regnen.


Er machte sich nichts vor. Er hatte es immer wieder von sich gewiesen, aber wenn es nicht heute Morgen passiert wäre, dann wahrscheinlich übermorgen oder nächste Woche. Vielleicht nächsten Monat. Länger hätte es kaum noch gedauert. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Ein Zusammenkommen von Gegebenheiten. Heute Morgen war es soweit gewesen.


Er hatte die letzten Stunden viel zuviel geraucht und einen säuerlichen Geschmack im Mund. Er spuckte aus, griff in die Westentasche und nestelte an seinem Zigarettenpäckchen herum. Dann ließ es wieder sein. Er war so gut wie da.


Der Ford stand noch immer vor der Tür. Hatte er sich nicht getraut ihn abzuholen? Hatte er es nicht gewagt? Oder war er schon wieder da? Saß er jetzt bei ihr und redete begütigend auf sie ein. Oder versuchte er seinen schäbigen Abgang mit ellenlangen intellektuellen Sprüchen zu rechtfertigen.
Heute Morgen hätte er ihn reuelos totschlagen können. Auf die mieseste Art. Es hätte ihm gut getan. Verdammt ja, es hätte ihn erleichtert, richtig befriedigt. Er hätte ihm die Eier wie überreife Pflaumen zertreten können. Ein paar satte Schläge auf die Milz. Die kurzen Rippen hätte er ihm in den Rumpf hinein gestampft. Es hätte aber nichts mehr geändert. Dafür war es längst zu spät und das Schwein hat es gewusst. Er hatte es ausgenutzt. Der Drecksack hatte sie ausgenutzt, ihre Lage, ihre Unzufriedenheit und dass sie fast immer allein war.


Und heute Morgen hatte er das Haus wie ein geschasster Straßenköter mit eingezogenem Schwanz verlassen. Er war gelaufen, hingefallen und wieder aufgestanden und weitergelaufen. Der Rotz war ihm aus Mund und Nase gelaufen. Auch Blut. Seinen Wagen hatte er stehen gelassen und die blutende Nase in seinem seidenen Taschentuch verhüllt. Und immer wieder hatte es zurück geschaut, ob ihm jemand folgen würde.
Ob er wohl zurückgekommen war und jetzt im Salon saß und große Töne spuckte. Oder lag er in irgendeiner Notaufnahme und ließ sich verpflastern?


Burke erreicht seine Wohnung, kramte den Haustürschlüssel aus seiner unergründlichen Westentasche, stieg die paar Stufen zur Tür hinauf und sperrte auf. Hätte er klingeln sollen? Anstandshalber? Er stieß ein hartes heiseres Lachen aus und schüttelte den Kopf. Wo war hier noch Anstand angebracht? Fairness? Er drückte die Tür auf und trat in den Hausflur.


Am Haken der Garderobe hing noch immer sein Mantel. Am Boden standen zwei Koffer. Er selbst hatte sie hier abgestellt, als er zum Tatort gerufen worden war. Er blickte ihn den Spiegel und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Zwei müde Augen, zu Schlitzen verengt, die an den äußeren Enden kleine Fältchen bildeten. Die Ringe unter den Augen waren noch dunkler geworden und die Wangen eingefallen. Es war ein kantiges, hartes und unrasiertes Gesicht. Und es war bleich. An den Wangenknochen schimmerte die Haut bläulich vor Kälte und Regen. Um den Mund lag ein verkrampfter zynischer Zug. Aus den kurz geschnittenen Haaren tropfe die Nässe und rann an dünnen Fäden in die Augenbrauen. Burke sank ein bisschen in sich zusammen und schluckte hart um das Weinen zu unterdrücken.


Er war allein in der Wohnung und das war gut so. Er hätte sie jetzt nicht treffen wollen. Den Kleinen schon gar nicht. Dann spürte er wieder, wie sein Hals anschwoll und dann kamen die Tränen. Er konnte nichts dagegen tun. Er wollte nichts dagegen tun. Unter heftigem Schluchzen ging er ins Badezimmer.


Er hatte die Dusche voll aufgedreht und das heiße Wasser prasselte wie kleine Kieselsteine auf sein aufgeweichtes Hemd. Er fummelte unbeholfen daran herum, um es auszuziehen, doch es gelang ihm nicht. Schließlich rastete er aus und riss sich das Hemd mit einem klagenden Schrei in Fetzen vom Körper. Eine Weile blieb er mit hängenden Armen stehen und hob sein Gesicht in den Wasserstrahl. Langsam ging er in die Hocke, setzte sich ins Duschbecken, zog die Knie an und legte den Kopf darauf. Das heiße Wasser schoss aus der Brause und nagelte seinen Nacken. Über ihm begann seine Welt zu reißen und bröckelte Stück für Stück auf ihn hernieder. Ein Weinkrampf versetzte seinen ganzen Körper in fast epileptische Zuckungen.


Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte. War das wichtig? War überhaupt noch etwas wichtig? In der Duschkabine hatte sich der Dunst gestaut und lief nun in kleinen Bächen an den kalten Kacheln hinunter. Unbeholfen versuchte er aufzustehen. Sein linker Fuß rutschte weg. Er fiel hin, schlug hart mit dem Kopf an die Mauer und rutschte bewusstlos ins Becken hinein. Ein dünner Blutfaden vermischte sich mit dem heißen Wasser zu einer rosa Brühe.


Er hatte dröhnende und pochende Kopfschmerzen. Als er die Augen öffnete, waren da nur Feuer und Blitze. Nur langsam wurde sein Blick einigermaßen klar und er stellte fest, dass er im Schlafzimmer auf dem Bett lag. Wie eine Lawine kam die Erinnerung wieder. Seine pochenden Schläfen schienen seinen Schädel sprengen zu wollen. Er schloss die Augen, doch der Schmerz blieb. Alles blieb und die Erinnerung machte es nicht besser.


"Hier, trink das!" Chief-Constable Murphy beugte sich leicht über ihn und reichte ihm eine Tasse mit dampfendem Kaffee. Viel Zucker und viel Milch. Genau so, wie er ihn mochte. Als er sich aufrichtete wirbelte ein Feuerblitz vor seinen Augen und er glaubte für einen Moment, sein Kopf würde platzen. Doch der Anflug ging vorüber. Behutsam schwang er die Beine vom Bett und setzte sich hin. Er nahm die Tasse in beide Hände und führte sie an den Mund. Der Duft des starken Kaffees stieg ihm in die Nase und die Welt um ihn begann wieder Formen anzunehmen. Er trank und spülte jeden Schluck dieses kostbaren Getränks mit dicken Backen ausgiebig im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte. Er trank die Tasse leer und reichte sie Murphy, der einen Schritt vor ihm stand.
"Danke". Er wagte es nicht hoch zu blicken. Die Blitze waren verschwunden und er wollte sie nicht zurück beschwören.
"Wie spät ist es"? Er massierte vorsichtig seine Schläfen und stellte erleichtert fest, dass die Wellen der Kopfschmerzen auf ein erträgliches Maß zurückgegangen waren. Langsam öffnete er die Augen und sah auf Murphys Schuhe.
"Viertel nach elf", antwortete Murphy mit seiner sanften Stimme. Burke war ihm dankbar dafür, denn lauten Geräuschen war er noch nicht gewachsen.
"Ich bin eine halbe Stunde nach Ihnen vom Tatort weg und hierher gekommen". Er hüstelte verlegen:" Das Badewasser war schon ziemlich rot. Sie müssen einiges Blut verloren haben".
Burke nickte instinktiv und da waren wieder die zuckenden Blitze. Er musste vorsichtiger sein.
"Ist noch Kaffee da"?
"Ich hole welchen". Murphys Füße entfernten sich. Burke stand vorsichtig auf, darauf gefasst, dass die Blitze ihn wieder heimsuchten, aber es hielt sich in Grenzen. Unsicher wie ein Blinder tastete er sich an den Möbeln entlang zum Flur.
Murphy sah ihm zu, bereit einzuspringen. Er wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte, Burke irgendeinen Rat zu geben. Er fasste ihn am Unterarm und geleitete ihn in die Küche. Burke setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl, legte die Unterarme auf die Tischplatte und klammerte sich an die Tasse.
Vor Jahren schon, als fest stand, dass Murphy und er als festes Team arbeiten würden, hatten sie Hausschlüssel ausgetauscht. Man wusste nie, wann sich diese Gepflogenheit einmal als nützlich erweisen würde, manchmal sogar lebensrettend, wie sich jetzt herausstellte.


"Wie ist das passiert"? Murphy goss noch einmal Kaffee nach.
"Ganz banal", murmelte Burke. "Ich bin ausgerutscht und mit dem Kopf an die Wand geschlagen. Filmriss". Er hob vorsichtig den Kopf und schaute Murphy an:
"Da war niemand. Ich war allein im Haus".


Burke begann unruhig umher zu schauen. Murphy reichte ihm die Zigaretten und das Feuerzeug. Burke fischte sich eine Zigarette aus der zerknautschten Papierpackung und zündete sie mit noch zitternden Händen an. Als er inhalierte bekam er einen Hustenanfall und vor seinen Augen versank die Welt erneut in einer flackernden roten Glut. Er ließ den Glimmstängel fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Es wollte nicht enden. Murphy war aufgesprungen, doch Burke winkte ab.
"Geht schon", keuchte er mit heiserer Stimme und sabberndem Mund. Dann wurde ihm schlecht und sein Bauch begann konvulsivisch zu zucken. Er sprang auf, während die Blitze vor seinen Augen explodierten und taumelte zum Waschbecken. Er glaubte, das Innere würde sich nach außen kehren und erbrach sich.




*




"Jetzt wissen Sie, was eine Gehirnerschütterung ist", dozierte der noch recht junge Arzt und studierte mit Andacht die Scanneraufnahmen. "Keine Fraktur. Sie haben einen harten Schädel Inspektor. Eine Platzwunde über der linken Schläfe. Ich habe Sie rasiert und die Wunde genäht. Die Haare werden wieder nachwachsen und die Schwellung ist nach ein paar Tagen wieder platt." Er blickte Burke direkt an: "Kann man sie wirklich nie allein lassen?"
Burke grinste verdrossen und kassierte die Anspielung. Der Polizeiarzt hatte ihn schon zweimal zusammengeflickt und konnte sich seine Bemerkung ungestraft erlauben.
"Eine Woche lang keine Morde und sonstige Schwerverbrechen. Bleiben sie der Zentrale fern und üben sie sich im Nichtstun. Ok?"
Er stand auf und reichte Burke seine schmale Hand.
"Wir sehen uns in einer Woche."
Burke schüttelte dem Arzt die Hand, grinste ein ehrliches "Danke" und wandte sich zum gehen.
"Lassen Sie die Finger vom Alkohol und wenn es hoch kommt, kaufen Sie sich einen Apfel oder joggen um den Block."
Burke verkrampfte sich ein bisschen. Murphy hatte geplaudert. Auch er hatte keine Patentlösung zur Hand gehabt. Er selbst übrigens auch nicht. Er schaute den Arzt in die ernsten Augen und setze zum Sprechen an. Der Arzt winkte ab:
"Machen Sie mir nichts vor, Burke. Ich brauche nicht Murphys Erklärungen oder Beschwichtigungen. Dafür kenne ich Sie schon zu gut."
Er tat einen Schritt auf Burke zu und steckte die Hände in seine Kitteltaschen.
"Ich bin schwul, sie wurden von ihrer Frau verarscht und das meiste von der Welt ist Scheiße, sonst hätten Sie und ich in unseren Jobs nicht so viel zu tun."
Er hob die Hand, rückte seine Brille zurecht und schaute Burke direkt in die Augen:
"Machen sie keinen Scheiß, Burke. Es tut verdammt weh, aber sie schaffen das."
Burke nickte. Er blieb stehen und schaute nachdenklich auf seine Füße.
"Ja, das werd ich", murmelte er und hob den Kopf. Der Arzt nickte, sagte aber nichts. Er mochte diesen Mann und fragte sich insgeheim, ob da nicht doch ein bisschen mehr war. Aber er wusste auch, dass Burke für ihn in dieser Hinsicht unerreichbar blieb.


Mittwoch Spätnachmittag:




Sie war ausgezogen, während er beim Arzt gewesen war und danach in seinem Büro kurz nach den Rechten gesehen hatte. Ihr Kleiderschrank war leer, nur der Duft ihres Parfüms war geblieben. Ein Duft, der ihn jetzt abstieß, obwohl Burke ihr das Eau de parfum erst vor einem halben Jahr geschenkt hatte. Er duftete stickig und schien ihm den Atem zu nehmen. Er schloss den Schrank mit der Gewissheit, ihn in absehbarer Zeit nicht mehr zu öffnen. Die Schubläden der Kommode waren ausgeräumt. Das Bett war ordentlich gemacht. Ihr Kopfkissen hatte sie demonstrativ mitgenommen. Im Badezimmer herrschte gähnende Leere, jetzt, da die Fläschchen, Döschen und Tuben mit ihren Kosmetikartikeln samt ihren Bürsten und Kämmen nicht mehr da waren. Die Bade- und Handtücher waren säuberlich aufgeteilt worden und ihre Hälfte fehlte. Sogar den kleinen blauen Mülleimer für Badezimmerabfälle hatte sie noch geleert. Es wirkte so, als ob nichts mehr an sie erinnern sollte. Sie war weg.
Burke seufzte abgrundtief und befühlte geistesabwesend seine Beule, während er in den Salon eintrat. Im sonst sehr gut bestückten Bücherschrank klafften einige Lücken und der Fernseher samt Videoanlage war auch weg. Die Stereoanlage hingegen hatte sie ihm wohlweislich da gelassen und seine CD-Sammlung war quasi unberührt.
Schon fast intuitiv richtete sich sein Blick auf die schmalen Rückseiten der Cds, wanderte über Shostakovichs Werke hin zu Mahlers Symphonien. Er schüttelte leicht den Kopf. Nein, Mahler war nicht gerade das, was er jetzt brauchte. Kurzerhand zog er Griegs Peer Gynt aus dem Regal und bald darauf tröstete ihn der romantisch-melancholische Sound nordischer Weiten. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm sich vor, das Rauchen einzustellen. Wenn er es jetzt in dieser Lage schaffte, dann war er noch nicht ganz versackt, denn genau so fühlte er sich im Moment: schlaff, ohne Antrieb und absolut lustlos.
"Nein", sagte er laut in die ungewohnte Stille hinein, drehte das Potentiometer der Anlage höher und ging in die Küche um sich einen starken Kaffee zu brauen. An das, was nunmehr an Papierkram und lästigen Auseinandersetzungen mit Anwälten auf ihn zukam, wollte er jetzt noch nicht denken. Was einem doch alles einfiel, wenn man sich plötzlich bewusst wurde, in Zukunft zumindest für eine Weile allein leben zu müssen: Rechnungen bezahlen, Einkäufe tätigen, Wohnung sauber halten, Abwaschen, Wäsche waschen, …Angelegenheiten, die er durch seinen Beruf, der eine höchst unregelmäßige Arbeitszeit mit sich brachte, völlig verdrängt hatte und die jetzt wie enorme Lasten auf ihn einstürmten.


Er konnte sie nicht länger unterdrücken. Er musste sie zulassen und Farbe bekennen. Mit nachhaltigem Druck drängten sich die Gedanken an seinen Sohn nach vorne und fielen wie ein Hagelschlag über ihn her. Er wurde emotional hin und her gerissen wie eine rückgratlose Stoffpuppe, die dem Zorn eines Kindes ausgesetzt ist. Er liebte den Kleinen, er vergötterte ihn regelrecht und fragte sich in seiner depressiven Gemütslage, ob er überhaupt der leibliche Vater sei. Dieser Gedanke erschreckte ihn, erschien ihm einerseits unerhört und unangebracht angesichts des Kindes, andrerseits brannte sich die Frage durch, ob der Kleine nicht schon die Konsequenz ihres Auseinanderlebens war. War das Kind eine Lüge, die er trotz einer latenten Ahnung freiwillig geglaubt hatte? Tränen stiegen ihm in die Augen und er wusste nicht mehr, ob er um den Verlust des Kindes, oder wegen seiner eigenen Lage weinte. Der innere Schweinehund rief unablässig Freiheit! Freiheit! und seine Emotionen geboten ihm Verantwortung, Standhaftigkeit und Moral. Sein Kopf begann wieder zu schmerzen und sein Blick wurde verdächtig trübe. Die Zigarette schmeckte nicht und der Rauch reizte ihn zu husten. Er drückte die Zigarette aus und trank seinen Kaffee. Zumindest dessen Wirkung ließ ihn nicht im Stich.


So sachlich, methodisch und erfolgreich er auch in seinem Beruf war, umso unbeholfener und ratloser war er jetzt, wo es darauf ankam, sein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er paddelte ohne Paddel in einem Strudel und verhedderte sich hilflos in den Entscheidungen, die er zu treffen hatte. Im Beruf ein Meister, im Leben ein Versager?
Er hatte die ganze Wohnung durchstreift, als wolle er sich mit einem Blick an die Leere gewöhnen. Das Kinderzimmer aber hatte er gemieden, als laste ein böser Fluch darauf. Er öffnete die Tür wie unter Hypnose. Das Zimmer war leer. Es hatte es nie gegeben. Es war nur Einbildung gewesen. Selbstbetrug. Er atmete durch den geöffneten Mund. Sein Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und die Tränen liefen in Bächen über seine Wangen in den Hemdkragen. Irgendwo im Hinterkopf hörte er das helle Klingeln der Türglocke.
Mit nassem Gesicht und geröteten Augen, die Kaffeetasse in der Linken öffnete er die Haustür. Es war wie ein unerwartetes Schlag ins Gesicht und er spürte, wie die angestaute Wut wie eine mächtige Welle über ihm kam. Wie saumäßig blöde war der Kerl, wie unerhört kaltschnäuzig um jetzt und hier, in diesem Moment aufzutauchen.
Burkes Gegenüber war es jedoch alles andere als wohl in seiner Haut. Er stand ziemlich verunsichert und mit flackernden Augen vor ihm und seine Unterlippe zitterte, als er zu sprechen ansetzte.
Burkes Augen bohrten sich in die seines Gegenübers, derart, dass dessen Kinnlade in Erwartung des Schlimmsten herunter zu rutschen begann. Burkes Hand spannte sich um die Tasse und seine Worte kamen heiser und gepresst:
"Schere dich bitte zum Teufel, oder ich bringe dich um". Tränen der Wut und der Trauer rannen ihm aus den brennenden Augen. Er spürte die sengende Hitze, die aus seinem Bauch nach oben stieg und er meinte, was er sagte. Er war übermannt von dem unbändigen Drang zu töten, zu zerfetzen, zu verstümmeln, seine irre Wut und Hilflosigkeit aus der Welt zu schaffen.
Sein Gegenüber zuckte zusammen, duckte sich, ging unsicher rückwärts die Stufen und weiter rückwärts den Gehsteig hinunter, drehte sich dann abrupt um und begann zu rennen.


Burke stand noch eine Weile da und schaute ins Leere. Die Wut und der Hass waren verklungen. Er fühlte sich plötzlich leer und ausgebrannt. Ein Passant schaute ihn neugierig an, entschied sich dann aber nicht zu grüßen, zog den Kopf ein und ging weiter. Das Leben ging weiter.
"Es tut verdammt weh, aber Sie schaffen das". Die Worte des Arztes hallten in seinen Ohren wider. Burke nickte: "Ja, das werde ich". Er schloss die Tür, ging in die Küche und füllte heißen Kaffe in seine Tasse, gab drei Stück Zucker hinzu und eine Menge Milch, so wie er ihn gern hatte. Grieg hatte aufgehört zu spielen und in der Wohnung war es wieder still geworden.








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Zwei Jahre später




Die Kopfschmerzen hatten mit der Zeit nachgelassen. Ob es daran lag, dass Burke sich fast von Schmerzmitteln ernährte, dass er die Pillen mit Fusel hinunterspülte, den er in den letzten Monaten in immer billigerer Qualität kaufte? Er dachte nicht darüber nach und öffnete ein neues Päckchen Zigaretten. Vor ihm auf dem Küchentisch lag ein Umschlag, dessen Inhalt ihm Angst machte. Eine Angst, wie er sie bislang noch nicht gekannt hatte. Die unangezündete Zigarette in der Hand, griff er nach dem Glas und führte es zitternd zum Mund. Der Whiskey brannte in seiner Kehle und als er den ersten Zug der Zigarette inhalierte, glaubte er sein Hals würde in Flammen stehen. Er fühlte sich elend und müde.


Seit man ihn vor zweieinhalb Monaten vom Dienst suspendiert hatte, irrte er umher wie ein Geist. Die Therapie hatte er kategorisch abgelehnt und die Tür hatte er heftig hinter sich zugeschlagen. Nach zwanzig Jahren Dienst und mit einer der höchsten Verhaftungs- und Verurteilungsquoten des Landes, nach hunderten von durchgearbeiteten Nächten und Wochen hatte man ihn mit einem einzigen Fußtritt vor die Tür gesetzt. Er sei untragbar geworden, hieß es; unberechenbar und untauglich für den Posten, den man ihm vor zwölf Jahren quasi auf Knien angeboten hatte. Hoch qualifiziert stand in seinem Berufungsschreiben und er hatte in den nachfolgenden Jahren den Beweis erbracht, dass sie sich nicht geirrt hatten. Und dann war der Morgen gekommen, an dem er vor den Scherben seines Privatlebens stand.


"Sie werden das schaffen", hatte der Arzt gesagt und Burke hatte genickt, aber er war nicht überzeugt gewesen. Seine immer heftiger werdenden Wutausbrüche, sowohl am Arbeitsplatz gegenüber den Kollegen als auch an den Tatorten, bei Verhören und im Umgang mit Verdächtigen hatte er nicht mehr kontrollieren können. Auch nicht dann, als er damit begann, sie mit einem gelegentlichen Glas Scotch zu dämpfen. Murphy hatte nichts gesagt, sondern ihn nur beobachtet. Vielleicht glaubte Mortimer, er hätte es nicht gemerkt. Alle beobachteten ihn, als lauerten sie darauf, einen Vorwand zu finden, um ihn definitiv abzusägen. Er traute niemandem mehr. Er zog sich immer mehr in sich zurück und lag seinerseits auf der Lauer. Jedessmal wenn zwei die Köpfe zusammen steckten, wusste er, spürte er, dass sie über ihn redeten. Über wen oder über was sonst? Er hatte sie angebrüllt und beschimpft und sich damit selbst erniedrigt. Er hatte alles getan, um die Freundschaften zu verscherzen, die in den langen Jahren der Zusammenarbeit gewachsen waren.




Zum Scheidungstermin war er nicht erschienen, sondern hatte sich in irgendeinem Pub vollaufen lassen und denjenigen, mit dem er schließlich Streit angefangen hatte, vorher nicht richtig angeschaut. Er erwachte in der Notaufnahme mit einer gebrochenen Nase und dem Gefühl neben sich zu liegen. Eine Woche hatte es gedauert, bis er wieder einigermaßen gehen konnte und seitdem hatte er das Haus kaum noch verlassen. Er hasste die Welt draußen und schämte sich gleichzeitig wegen seiner erbärmlichen Schäbigkeit.
Seine Hand zitterte unkontrollierbar, als er nach dem Umschlag griff. Er wusste was drin war, wusste aber nicht, wie die Laboruntersuchung ausgefallen war. Vor einem knappen Monat, als der Hass und Traurigkeit ihn wieder einmal überfielen, hatte er sich das Einverständnis seiner Frau erbettelt um einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Er hatte gebettelt und gedroht und schließlich hatte seine Frau am Telefon eingewilligt. Warum bloß hatte sie ja gesagt und ihn in seiner Ohnmacht nur noch gestärkt. Wollte er es wirklich wissen? Wollte er leiden und sich selbst Schmerzen zufügen. Wie würde er sich fühlen, wie würde er reagieren, wenn sich herausstellen würde, dass er tatsächlich nicht der Vater war? Dass er vielleicht doch der Vater war? Was erhoffte er sich?
Ihr Freund hatte sie schon längst verlassen und er hatte sich hämisch darüber gefreut. Er hatte es genossen. Die Genugtuung war sein. Es gab noch eine Gerechtigkeit, davon war er nun überzeugt und fühlte sich anschließend so erbärmlich schäbig wie nie zuvor. Sie wohnte mit ihrem Sohn in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt und arbeitete tagsüber in einem Supermarkt.




Manchmal rief sie an und fragte, wie es ihm ging und jedes Mal fühlte er sich schuldig und wünschte sie zum Teufel. Wenn sie wieder eingehängt hatte, bereute er seien schroffen Ton und wünschte, sie würde wieder anrufen. Ob sie zurückkommen solle, hatte sie einmal, sicher unter Überwindung all ihrer Selbstachtung gefragt und er war sprachlos. Er hatte nichts antworten können. Er hatte es nicht über sich gebracht, ja zu sagen. Er hätte ihr nicht so unter die Augen treten können; nicht ihr, nicht seinem Sohn, der inzwischen fast schon zwei Jahre alt war und sich kaum an seinen Vater erinnern konnte. Welchen Vater, dachte Burke und in seiner Brust krampfte sich alles zusammen. Er schaute auf das leere Glas in seiner Hand und warf es in einem heftigen Anflug von wütender Selbstverachtung in die Zimmerecke, wo es klirrend am Heizkörper zerschellte. Er blickte an sich herunter. Wann hatte er zuletzt geduscht, sich rasiert, etwas Ordentliches gegessen? Er fühlte sich plötzlich dreckig, abstoßend und ekelte sich vor sich selbst. Er blickte wieder auf den Umschlag, schob in von sich weg und verließ den Raum.


Vor zwei Jahren hatte er in der Dusche einen Griff anbringen lassen, an dem man sich beim Duschen festhalten konnte. Er klammerte sich ängstlich daran, als fürchte er um sein Leben und das heiße Wasser prasselte auf seinen Kopf und die Schultern. Er zitterte am ganzen Körper und wagte es kaum, den Griff los zu lassen um sich einzuseifen. Zögernd, als könnte er sich verletzen, tastete er seine Narbe an der Schläfe ab. Er spürte nicht die Tränen, die in Bächen über sein Gesicht rannen und vom Duschwasser weggespült wurden. Er klammerte sich krampfhaft an den Bügel..




Der Kaffee duftete herrlich und seit langem erlaubte er sich wieder ein vages Gefühl der Freude und Behaglichkeit. Sehr schwarz, viel Zucker und viel Milch. Er hatte dieses starke Gebräu gegen billigen Fusel eingetauscht und sich selbst zu Grunde gerichtet. Einmal hatte er die Selbsthilfegruppe besucht, doch das euphorische Gejammer der Anwesenden hatte ihn die Flucht ergreifen lassen. Dort gehörte er doch nicht hin, oder? Wahrscheinlich doch, dachte er, aber dazu würde es nicht mehr kommen, dass er zurückgehen würde. Er führte die Tasse an den Mund und spülte den Mund mit dicken Backen, bevor er schluckte. Mit dem Kaffe rann seine letzte Chance die Kehle hinunter in den Bauch, der die Wärme willig aufnahm. Burke trank die Tasse aus und füllte sie sogleich nach. Er verspürte so etwas wie Dankbarkeit, oder war es Demut? Nicht für den Kaffee, sondern für die letzte Chance, den ersten Schritt machen zu dürfen. Den ersten Schritt zurück ins Leben, nach einer Abwesenheit, die ihm jetzt wie eine Ewigkeit vorkam. Zwei verlorene Jahre. Zwei weggeworfene Jahre, vergeudete Jahre seines Lebens. Er setzte sich hin, zündete eine Zigarette an und griff nach dem Umschlag.




Das Telefon klingelte. Der junge Polizeiarzt entschuldigte sich bei dem Constable, der zu einer Routineuntersuchung gekommen war und nahm den Hörer in die Hand:
"Ja bitte?"
Seine Miene blieb unbewegt, lediglich zwischen den Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte.
"Ich frage Sie nicht, wie es Ihnen geht. Ich möchte es von Ihnen selbst und unter vier Augen hören. Noch heute, sagen wir in einer halben Stunde". Er hängte ein und schaute einen Moment nachdenklich aufs Telefon, so als erwarte er von ihm die Bestätigung, dass seine Hoffnung berechtigt sei.
Dann ging er wieder zu seinem Patienten.
"Manchmal muss man bis hinunter in die Hölle um zu lernen, was man aus seinem Leben hätte machen können". Der Constable schaute verblüfft hoch:
"Wie bitte?"
"Ach nichts, nur ein verschollener Freund, der den Weg zurück nach hause gefunden hat".


Burke hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand und schaute auf den Umschlag vor ihm auf dem Tisch. Er hatte ihn geöffnet und er hatte ihn gelesen. Sein Hals war eng geworden und ein heißes Glückgefühl hatte ihn durchströmt. Er spülte den Druck im Hals mit einer weiteren Tasse Kaffe hinunter, lehnte sich nach hinten und fragte sich zum ersten Mal seit zwei Jahren, wie sein Sohn heute aussehen würde. Dann verließ er das Haus. Der junge Arzt wartete.