Charles Dickens - Der Kampf des Lebens


Charles Dickens - 6. Weihnachtsgeschichte
Der Kampf des Lebens
Eine Liebesgeschichte.




Erster Teil


Lang, lang ist's her – wann und wo in England, mag uns gleichgültig sein – da ward eine hitzige Schlacht geschlagen. Sie wurde geschlagen an einem langen Sommertage, da das Gras grün wogte. Manche stolze Blume, geschaffen von des Allmächtigen Hand zu einem duftenden Pokal für den Tau, sah an diesem Tage ihren bunten Kelch von Blut überfließen und verging schaudernd. Manches Insekt, das in unschuldigen Flügeln und Kleidern von zarter Farbe leuchtete, ward an diesem Tag neu gefärbt von sterbenden Menschen und bezeichnete seine hastige Flucht mit einer widerlichen Spur. Der farbige Schmetterling trug auf dem Rand seiner Flügel Blut in die Luft. Der Bach floß rot vorbei. Aus dem zerstampften Erdboden wurde ein Sumpf, wo in trübem Schlamm, der voll Spuren von menschlichen Füßen und Pferdehufen war, die überall vorherrschende Farbe unheimlich in der Sonne glänzte.
Möge uns der Himmel vor dem Anblick eines Schauspiels behüten, wie es der Mond auf dieser Kampfstätte sah, als er über den waldumsäumten schwarzen Hügelrücken am Horizont heraufstieg und über das flache Feld herniederschaute. Dies Feld war besät mit Gesichtern, die zum Himmel gewandt waren, mit Gesichtern, die einst an der Brust der Mutter sicher geschlummert hatten. Der Himmel behüte uns vor den Geheimnissen, die der mit Leichenduft beladene Wind über dem Schauplatz von dieses Tages Arbeit und dieser Nacht Tod und Leiden wob. Mancher einsame Mond glänzte über dieser Kampfstätte empor: mancher Stern hielt trauervoll darüber Wache, mancher Wind, aus allen Himmelsrichtungen, wehte darüber hin, bevor die Spuren dieses Kampfes vergingen.
Sie bestanden noch lange Zeit, aber nur in geringfügigen Dingen; denn die Natur, hinausgehoben über die schlechten Leidenschaften des Menschen, gewann bald ihre Heiterkeit zurück und lächelte auf das sündige Schlachtfeld herab wie einst, als es noch sündlos war. Die Lerchen trillerten droben in den Lüften, die Schatten der fliehenden Wolken jagten sich spielend über Wiese und Wald und über Dächer und Kirchtürme der von Hainen umgebenen Stadt bis hin in die leuchtende Ferne, da Erde und Himmel ineinander übergehen und das Abendrot verdämmert. Saaten wurden gesät, keimten auf und wurden geerntet. Der Bach, der mit Purpur gefärbt gewesen, drehte ein Mühlrad: Männer pfiffen hinter dem Pfluge; Mäher und Garbenbinder arbeiteten in gelassenen Scharen; Schafe und Kühe grasten auf der Weide; Knaben lärmten auf den Feldern, um die Vögel zu verjagen; Rauch stieg aus den Feueressen empor; Sonntagsglocken ließen ihr Geläut ertönen; alte Leute lebten und starben; die scheuen Geschöpfe des Feldes und die einfachen Blumen des Waldes und des Gartens blühten und vergingen in der gewohnten Zeit auf jener blutigen Kampfstätte, wo tausend und abertausend Menschen in der großen Schlacht gefallen waren.
Aber anfangs sah man noch dunklere Stellen in der jungen Saat, die die Leute mit scheuem Grauen betrachteten. Jahr für Jahr kamen sie wieder; und man wußte, daß an diesen fruchtbaren Stellen Menschen und Pferde in wechselvollem Durcheinander begraben lagen und den Boden düngten. Der Landmann, der dort pflügte, ekelte sich vor den großen Würmern, die hier in der Erde hausten; und die Garben, die man dort band, wurden viele, viele Jahre lang die Schlachtgarben genannt und besonders heimgebracht, aber niemals gelangte eine Schlachtgarbe zum Erntefest auf den letzten Wagen. Lange Zeit noch gelangte mit jeder Furche, die gepflügt wurde, eine Spur des Gefechts zum Vorschein. Lange noch gewahrte man verletzte Bäume auf der Kampfstätte und halbzerstörte Hecken und Mauern an den Stellen, wo mörderischer Nahkampf gedauert hatte, und festgestampfte Stellen, an denen kein Halm wachsen sollte. Lange noch scheute sich jedes Mädchen, sich Haar oder Brust mit der schönsten Blume dieses Totenfeldes zu schmücken; und viele Jahre glaubte man, die dort wachsenden Beeren hinterließen in der Hand, die sie pflückte, unvertilgbare Spuren.
Aber die Jahreszeiten, obwohl sie so flüchtig vorübergingen wie die Sommerwolken, ließen in ihrem Verlauf selbst diese Erinnerungszeichen des alten Kampfes verschwinden und tilgten die sagenhaften Andenken daran aus dem Gedächtnis der Menschen, bis sie zu Altenweibermärchen zusammensanken und mit jedem Jahre mehr in Vergessenheit gerieten. Wo die wilden Blumen und Beeren so lange ungepflückt geblieben waren, befanden sich jetzt Gärten und Häuser, und Kinder spielten Krieg auf der Wiese. Die verwundeten Bäume waren schon lange als Weihnachtsholz verbrannt worden. Die dunkelgrünen Stellen waren nicht frischer als das Gedächtnis derer, die darunter beerdigt lagen. Noch immer förderte der Pflug von Zeit zu Zeit Stücke verrosteten Eisens hervor, aber es war schwer zu erkennen, wozu es gedient hatte, und die Finder grübelten und stritten sich darob. Ein alter schwarzer Harnisch und ein Helm hatten so lange in der Kirche gehangen, daß derselbe schwache halbblinde Greis, der sich jetzt vergebens bemühte, sie oben an der weißen Wölbung wiederzuerkennen, sie schon als Kind staunend betrachtet hatte. Wenn das auf dem Feld erschlagene Heer einen Augenblick lang in der Gestalt, wie jeder gefallen, und auf dem Platze, da er seinen Tod gefunden, hätte aufstehen können, dann hätten gespaltene Schädel zu Hunderten in die Türen der Hütten und in die Fenster hineingeschaut. Sie wären erschienen um den friedlichen Herd; wären aufgestapelt gewesen in den Scheunen; wären emporgestiegen zwischen dem Kind in der Wiege und seiner Wärterin; sie hätten den Bach gestaut, wären über das Mühlrad gedreht, hätten den Obstgarten und den Rasen angefüllt, den Heuschober hoch beladen mit Sterbenden. So verwandelt war die Kampfstätte, wo tausend und aber Tausende von Menschen in der großen Schlacht gefallen waren.
Nirgends war sie vielleicht indessen mehr verwandelt vor etwa hundert Jahren, als in einem kleinen Obstgarten hinter einem alten Haus aus Steinen mit einer Jelängerjelieber-Laube vor der Tür. Dort wurden an einem schönen Herbstmorgen Musik und heiteres Lachen vernehmlich, und zwei Mädchen tanzten lustig auf dem Rasen, während ein halbdutzend Landfrauen auf Leitern standen und Äpfel von den Bäumen sammelten, jedoch mitunter in ihrer Arbeit innehielten und den Fröhlichen zuschauten. Das war ein anmutiges, schlichtes Schauspiel; ein schöner Tag, ein stiller Platz; und die beiden Mädchen tanzten nach Herzenslust ganz froh und ungezwungen.
Wenn auf der Welt niemand sich hervortun wollte – das ist meine Ansicht, und ich nehme an, ihr stimmt mit mir überein – so würden wir viel besser weiter kommen und uns einander viel mehr Freude bereiten. Es war ganz wundernett zu sehen, wie die beiden Mädchen tanzten. Sie hatten keine Zuschauer als die äpfelpflückenden Frauen auf den Leitern. Sie freuten sich sehr, daß sie ihnen Spaß machten, aber sie tanzten zuerst um der eigenen Freude willen (wenigstens mußte man das glauben); und man konnte sich ebensowenig der Verwunderung wie sie sich des Tanzens enthalten. Und wie tanzten sie!
Nicht wie Ballettänzer. Durchaus nicht! Und nicht wie Madame Soundsos ausgezeichnete Elevinnen. Nicht im mindesten! Es war keine Quadrille, kein Menuett, nicht einmal eine einfache Chaine Anglaise. Es war weder nach dem alten, noch nach dem neuen Stil; nicht nach dem französischen, nicht nach dem englischen Stil; eher von ungefähr ein bißchen im spanischen Stil, der, wie man sagt, ein freier und frischer Stil ist und von den klirrenden Kastagnetten den Charakter einer wunderhübschen Improvisation bekommt. Wie sie unter den Obstbäumen tanzten, und den Garten hinauf und hinunter walzten, sich wechselseitig umeinander drehten, da schien sich die Wirkung ihrer lustigen Bewegung auch der sonnigen Umgebung mitzuteilen, wie ein immer größer werdender Kreis im Wasser. Ihr fliegendes Haar und ihr wehendes Gewand, das schmiegsame Gras zu ihren Füßen, die Zweige, die sich in dem Morgenwind bogen, die glänzenden Blätter und ihre behenden Schatten auf dem frischgrünen Boden – der leichte erquickende Wind, der das Land durchwehte und sich darauf freute, die fernen Windmühlen zu drehen – alles zwischen den beiden Mädchen und dem pflügenden Bauer auf jener fernen Anhöhe, wie er sich vom Himmel abhob, als stünde er am Ende der Welt – schien gleichfalls mitzutanzen.
Endlich sank die jüngere der tanzenden Schwestern außer Atem und fröhlich lachend auf eine Bank, um sich zu erholen. Die andere lehnte sich an einen Baum ihr zur Seite. Die Spielleute, eine Harfe und eine Geige, schlossen mit einem vollen Akkord, als prahlten sie mit ihrer Ausgelassenheit, obwohl die Musik eigentlich so rasch gespielt worden und mit dem Tanzen so eifrig um die Wette dahingejagt war, daß sie es keine halbe Minute länger hätten aushalten können. Die äpfelpflückenden Frauen auf den Leitern spendeten Beifall und fingen dann wieder an eifrig zu arbeiten, wie Bienen.
Um so tätiger vielleicht, weil ein älterer Herr, namens Doktor Jeddler, in eigener Person – es war Doktor Jeddlers Haus und Garten, müßt ihr wissen, und die beiden Mädchen waren Doktor Jeddlers Töchter – zum Nachsehen kam, um zu forschen, was eigentlich los sei und wer zum Donnerwetter auf seinem eigenen Grund und Boden vor dem Frühstück musiziere. Denn Doktor Jeddler war ein großer Gelehrter und nicht sehr musikalisch.
»Musik und Tanz heute!« sagte der Doktor zu sich selbst und hielt verwundert inne. »Ich glaubte, sie hätten Respekt vor dem heutigen Tag. Es ist eben eine kuriose Welt. Aber Grace, aber Marion!« fügte er lauter hinzu, »ist die Welt heute morgen verdrehter als gewöhnlich?«
»Wenn dies der Fall wäre, so sei heute nicht böse, Vater«, antwortete ihm die jüngere Tochter Marion. Dabei trat sie zu ihm und schaute zu ihm empor: »denn heute hat jemand Geburtstag.«
»Jemand hat Geburtstag, mein Kind?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß alle Tage jemand Geburtstag hat? Weißt du nicht, wie viele Neulinge jede Minute das wunderliche und lächerliche Wesen – ha, ha, ha! man kann gar nicht ernsthaft davon reden – das man das Leben nennt, anfangen?«
»Nein, Vater!«
»Natürlich nicht: du bist ja auch eine Frau – beinahe«, sagte der Doktor. »Übrigens«, fügte er hinzu und blickte in das hübsche Gesicht, das sich dicht an das seine schmiegte, »glaube ich, es ist dein Geburtstag.«
»Ach was! Wirklich, Vater?« rief seine Lieblingstochter und bot ihm die Lippen zum Kuß.
»Da! Und meine Liebe dazu«, sagte der Doktor und küßte sie: »und möge der Tag oft, sehr oft, wiederkehren – welche Idee! Die Idee, eine häufige Wiederholung in einem solchen Possenspiel zu wünschen«, sagte der Doktor vor sich hin, »ist gut! Ha, ha, ha!«
Doktor Jeddler war, wie der Leser schon weiß, ein großer Philosoph; und der Scherz seiner Philosophie war, die ganze Welt als einen ungeheuren Scherz anzusehen, als etwas zu Törichtes, als daß ein vernünftiger Mensch ernsthaft darüber nachdenken könnte. Dieser Fundamentalsatz war ursprünglich ein Ergebnis des Schlachtfeldes, auf dem er wohnte, was ihr nun bald erfahren sollt.
»Wie seid ihr eigentlich zu der Musik gekommen?« fragte der Doktor. »Natürlich sind es Hühnerdiebe. Woher kommen die Musikanten?«
»Alfred hat sie hierher gesandt«, gab seine Tochter Grace zur Antwort und steckte ein paar schlichte Blumen, mit denen sie ihrer Schwester Haar vorher geschmückt hatte und die durch den Tanz gelockert waren, wieder fest.
»Also Alfred hat die Musik hergeschickt?« versetzte der Doktor.
»Ja, er begegnete ihnen unterwegs, als er früh hineinschritt. Die Leute wandern zu Fuß umher und hatten heute in der Stadt übernachtet. Weil nun heute Marions Geburtstag ist, und er ihr eine Freude zu machen gedachte, so sandte er sie hierher mit einem Billett des Inhalts, daß sie, wenn ich es für gut fände, ihr ein Ständchen bringen sollten.«
»Ja, ja«, sagte der Doktor flüchtig, »er fragt immer nach deiner Ansicht.«
»Und da meine Ansicht dann günstig war«, sagte Grace fröhlich und hielt einen Augenblick inne, um den hübschen Kopf, den sie schmückte, zu bewundern; »und da Marion sehr lustig war und zu tanzen anfing, so tanzten wir zuletzt beide nach Alfreds Musik, bis wir keinen Atem mehr hatten. Die Musik aber gefiel uns um so mehr, weil Alfred sie geschickt hatte. Nicht wahr, liebe Marion?«
»O, ich weiß nicht, Grace. Wie du mich mit dem Alfred peinigst!«
»Ich sollte dich peinigen, wenn ich deinen Geliebten nenne!« sagte ihre Schwester.
»Ich kann nur sagen, daß es mir ziemlich gleichgültig ist, ob er genannt wird oder nicht«, sagte die kleine Schnippische und zerpflückte ein paar Blumen, die sie in der Hand hielt, so daß sich die Blätter auf dem Boden verstreuten. »Ich habe es beinahe satt, von ihm zu hören: und wenn du behauptest, er sei mein Geliebter ....«
»Ruhig! Sprich nicht so leichtfertig von einem treuen Herzen, das ganz dir ergeben ist, Marion«, rief ihre Schwester aus: »selbst im Scherz nicht. Es gibt kein treueres Herz auf der Welt als Alfred!«
»Nein, o nein!« sagte Marion und machte eine krause Stirn mit einer komischen Miene flüchtigen Nachdenkens, »vielleicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob dies ein großes Verdienst ist. Ich – ich mag ihn eigentlich gar nicht so sehr treu haben. Ich habe ihn nie darum gebeten. Wenn er denkt, daß ich –. Aber, beste Grace, warum müssen wir gerade augenblicklich von ihm sprechen?«
Es war ein heiterer Anblick, die beiden anmutigen Gestalten der blühenden Schwestern Seite an Seite unter den Bäumen wandeln und miteinander sich unterhalten zu sehen, wie dabei Ernst dem leichten Sinn, auf jeden Fall aber Liebe der Liebe zärtlich antwortete. Und seltsam genug war es, daß in den Augen der jüngern Schwester eine Träne glänzte und daß ein tiefes und herzliches Gefühl durch den Mutwillen ihrer Worte schimmerte und stark dagegen ankämpfte.
Beide Mädchen mochten ihrem Alter nach nicht mehr als vier Jahre auseinander sein. Aber Grace erschien, wie oft in solchen Fällen, wo keine Mutter über beide wacht (des Doktors Frau war gestorben), in der mütterlichen Liebe zu ihrer jüngern Schwester älter, als sie war; und von natürlicher Anlage aller Neigung – außer durch mitfühlende Liebe, zu deren mutwilligen Laune ferner, als man nach ihren Jahren hätte meinen sollen. Hoher Mutterberuf, der selbst in diesem seinem Schattenbild das Herz läutert und das geheiligte Gemüt in Sphären des Engels erhebt!
Des Doktors Seele, während er ihnen nachschaute und zuhörte, beschäftigte sich im Anfang nur mit verschiedenen lustigen Gedanken über die Dummheit, etwas zu lieben und gern zu haben, über den eitlen Traum, durch den sich junge Herzen täuschen, wenn sie einen Augenblick glauben, es könnte etwas Ernstes hinter einer solchen Seifenblase, wie die Liebe ist, stecken, bis sie zuletzt sich enttäuscht sehen, und zwar in jedem Falle. Aber das anspruchslose, liebende Wesen seiner älteren Tochter, ihr sanftes Gemüt, das doch mit so viel Festigkeit und Frische gepaart erschien, rückte ihm stets den Kontrast ihrer stillen seelenvollen Erscheinung zu der glänzenden Schönheit seiner jüngeren Tochter vor Augen: und es tat ihm um ihretwillen leid, daß das Leben eine so lächerliche Angelegenheit war.
Der Doktor dachte nie daran, zu fragen, ob seine Kinder auf irgendeine Weise danach strebten, es zu einer ernsten Sache zu machen. Dafür war er eben ein Philosoph.
Von Natur ein Mann von gefühlvollem und warmem Herzen, war er durch Zufall auf jenen gewöhnlichen Stein der Weisen gestoßen (viel leichter zu finden als der, den die Alchimisten suchen), der oft gutmütigen Geistern ein Bein stellt und die unangenehme Eigenschaft hat, Gold in Schlacke und jedes kostbare Ding in etwas Wertloses zu wandeln.
»Britain!« rief der Doktor. »Britain! Hallo!«
Ein kleiner Mann mit hervorragend mürrischem und bissigem Gesicht trat jetzt aus dem Hause und beantwortete diesen Ruf ziemlich gleichmütig mit den Worten: »Nun, wo brennt's denn?«
»Wo befindet sich der Frühstückstisch?« fragte der Doktor.
»Im Hause«, gab Britain zur Antwort.
»Wirst du ihn hier draußen decken, wie ich es dir gestern abend anordnete?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß Gesellschaft kommt? Daß, ehe die Landkutsche vorbeifährt, hier noch Geschäfte abgewickelt werden müssen? Daß heute ein besonders festlicher Tag ist?«
»Konnte ich denn etwas herrichten, Doktor Jeddler, bevor die Weiber ihre Äpfel gepflückt hatten, he?« sagte Britain und steigerte seine Stimme allgemach, so daß er zuletzt förmlich brüllte.
»Nun, sind sie denn jetzt fertig?« sagte der Doktor und blickte auf die Uhr. »Vorwärts, nun aber schnell! Wo ist Clemency?«
»Hier bin ich, Herr«, rief die Stimme von einer der Leitern herab, auf der ein Paar plumpe Füße rasch abwärts stiegen. »Wir sind fertig. Räumt fort, ihr Mädchen. In einer halben Minute soll alles aufgeräumt sein, Herr.«
Mit diesen Worten machte sie sich eifrig an die Arbeit und zeigte sich dabei in so eigenartiger Aufmachung, daß wohl einige Worte von ihr gesagt werden dürfen.
Sie war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein ziemlich rundwangiges und freundliches Gesicht, obwohl sie sich dazu einen Ausdruck von gesetztem Wesen angenommen hatte, was ihr sehr drollig stand. Aber ihre außerordentlich linkische Art stellte das noch in Schatten. Wenn wir sagen, sie habe zwei linke Beine und Arme gehabt, die eigentlich einem andern gehörten, und daß diese vier Gliedmaßen ausgerenkt und gar nicht an ihrer rechten Stelle angesetzt zu sein schienen, so geben wir damit nur der Wahrheit so schonend wie möglich die Ehre. Wenn wir aber sagen, daß sie mit dieser Begabung völlig zufrieden war und ihre Arme und Beine gebrauchte, wie sie waren, daß sie deren Launen durchaus keinen Zwang auferlegte, so werden wir ihrer Gelassenheit nur im geringsten Maß gerecht. Ihr Anzug bestand aus ein paar riesengroßen, eigenwilligen Schuhen, die immer anderswohin wollten, als ihre Füße, aus blauen Strümpfen und einem bunten Kattunkleid vom häßlichsten Muster, das man für Geld überhaupt bekommen könnte, und einer weißen Schürze. Sie trug immer kurze Ärmel und hatte sich stets die Ellbogen wundgescheuert. Dabei nahm sie an diesen solch lebhaften Anteil, daß sie sich ständig bemühte, sie in jeder Stellung, selbst wo es ganz unmöglich war, herumzudrehen und zu besehen. Gewöhnlich saß eine kleine Mütze irgendwo auf ihrem Kopf, obwohl sie nur selten auf dem Platze zu sehen war, den dieses Kleidungsstück bei andern Leuten meistens einnimmt; aber vom Scheitel bis zur Zehe, war sie überaus propre und zeigte eine Art linkischer Gefälligkeit.
Dies war die äußere Erscheinung und Kleidung von Clemency Newcome, die man im Verdacht hatte, selbst, obzwar unschuldig daran, eine Verfälschung ihres Taufnamens Klementine veranlaßt zu haben (aber niemand wußte es gewiß, denn ihre taube alte Mutter, die ihres hohen Alters wegen ein reines Wunder war, und die sie fast von ihrer Kindheit an unterstützt hatte, war gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht mehr). Jetzt war sie damit beschäftigt, den Tisch zu decken, und stand von Zeit zu Zeit da, die roten Arme übereinander geschlagen, den wundgestoßenen Ellbogen mit der Hand des andern Armes reibend und sie seelenruhig betrachtend, bis sie sich plötzlich auf etwas besann, was noch fehlte, und dann forteilte, um es zu holen.
»Da kommen die beiden Anwälte, Herr!« sagte Clemency in nicht sehr freundlichem Ton.
»Ah!« rief der Doktor und ging ihnen entgegen. »Guten Morgen, guten Morgen! Liebe Grace! Marion! Hier sind Mr. Snitchey und Mr. Craggs. Wo bleibt Alfred?«
»Er wird gewiß sofort kommen, Vater«, sagte Grace. »Er hatte diesen Morgen mit den Vorbereitungen zur Abreise so viel zu tun, daß er schon in der Morgendämmerung aufgestanden und ausgegangen ist. – Guten Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, meine Damen«, sagte Mr. Snitchey, »für mich und Craggs« – dieser verneigte sich »guten Morgen, mein Fräulein« – zu Marion – »ich küsse Ihnen die Hand«, was er auch wirklich tat. »Und ich wünsche« – das sah man ihm freilich nicht an; denn im ersten Anblick mochte man ihm eigentlich nicht sehr viel gute Wünsche für andere Leute zutrauen – »daß dieser glückliche Tag hundertmal wiederkehren möge.«
»Ha, ha, ha!« lachte der Doktor ironisch, die Hände in die Taschen gesteckt. »Das große Possenspiel in hundert Akten!«
»Sie werden doch sicherlich nicht wünschen, Doktor Jeddler«, sagte Mr. Snitchey und stellte einen kleinen blauen Aktenstoß auf den Tisch, »das große Possenspiel für diese Schauspielerin abzukürzen?«
»O nein«, entgegnete der Doktor. »Gott bewahre! Möge sie leben und darüber lachen, solange sie lachen kann, und dann sagen mit jenem Franzosen: Die Komödie ist aus, laßt den Vorhang fallen.«
»Der Franzose«, sagte Mr. Snitchey und guckte auf den blauen Stoß, »hatte unrecht, Doktor Jeddler; und Ihre Philosophie hat auch völlig unrecht, darauf können Sie sich verlassen. Ich habe das Ihnen schon oft gesagt. Es gäbe keinen Ernst im Leben! Als was bezeichnen sie dann einen Prozeß?« »Als Spaß«, erwiderte der Doktor.
»Haben Sie einmal einen Prozeß gehabt?« fragte Mr. Snitchey, von dem blauen Stoß aufblickend.
»Nie«, antwortete der Doktor.
»Wenn Sie einmal zu einem gelangen«, sagte Mr. Snitchey, »so lernen Sie wohl anders darüber denken.«
Craggs, der von Snitchey vorgestellt zu werden und sich seines besondern Daseins und Ich's nur wenig oder gar nicht bewußt zu sein schien, gab jetzt einen eigenen Gedanken zum besten. Dieser bezog sich auf die einzige Idee, die er nicht mit Snitchey zur gleichen Hälfte innehatte; dafür nahmen sie noch einige andere kluge und erfahrene Leute in Anspruch.
»Die Prozesse weiden den Leuten viel zu leicht gemacht«, sagte Craggs.
»Die Prozesse?« fragte der Doktor.
»Ja«, sagte Mr. Craggs, »wie alles andere. Alles auf der Welt ist heutigentags nur dazu da, um zu leicht gemacht zu werden. Das ist die Schwachheit unserer Zeit. Wenn die Welt ein Spaß ist (ich bin nicht geneigt, dies in Abrede zu stellen), so sollte sie ein sehr schwieriger Spaß sein. Das Leben sollte ein möglichst anstrengender Kampf sein, Sir. Dazu ist es doch da. Aber jetzt wird es leicht gemacht. Wir schmieren die Türangeln des Lebens gut ein. Aber sie sollten rostig sein. Sie werden sich bald ganz alleine auftun lernen. Und doch sollten sie in der Angel knirschen, Sir.«
Mr. Craggs schien selbst mit seinen Türangeln zu knirschen, als er seine Meinung darlegte, deren Eindruck er durch sein Äußeres bedeutend verstärkte, denn er war ein kalter, trockener, finsterer Mann, in Grau und Weiß gehüllt wie ein Feuerstein, und hatte kleine funkelnde Augen, als ob man Feuer aus ihnen schlüge. Alle drei Reiche der Natur hatten eigentlich ihren Vertreter unter diesen drei Männern: denn Snitchey glich einer Elster oder einem Raben (nur, daß er nicht so glatt und glänzend aussah), und der Doktor hatte ein streifiges Gesicht wie ein Zitronenapfel, und dazu hier und da ein Grübchen, als ob dort die Vögel gepickt haben könnten, und hinten hing ihm ein kleines Zöpfchen, das den Stiel bedeutete.
Da erschien die schmucke Gestalt eines hübschen Jünglings im Reiseanzug. Er war begleitet von einem Mann, der sein Gepäck trug, und näherte sich der Gartentür mit schnellem Schritt und einem Gesicht voll Fröhlichkeit und Hoffnung, wie es zu dem Morgen paßte. Da traten ihm die drei entgegen, wie die Brüder der drei Parzen, oder wie die höchst effektvoll verkleideten drei Grazien, oder wie die grauen Propheten in der Einöde, und begrüßten ihn.
»Also noch viele solche glücklichen Tage, Fred«, sagte der Doktor obenhin.
»Möge dieser glückliche Tag hundertmal sich wiederholen, Mr. Heathfield«, sagte Mr. Snitchey und verbeugte sich tief.
»Möge er sich vielmal wiederholen!« sagte als Echo Craggs im tiefen Baß.
»Welch Gruß!« rief Alfred aus und blieb stehen, »und eins – zwei – drei – lauter Propheten von nichts Gutem auf dem großen Lebensmeer. Ich bin froh, daß sie nicht die ersten sind, die ich heut morgen erblicke; ich hätte es für üble Vorbedeutung genommen. Aber Grace war die erste – meine liebe, teure Grace – so nehme ich euch alle in den Kauf.«
»Wenn Sie erlauben, Herr, ich war die erste«, sagte Clemency Newcome. »Sie wissen, Sie gingen hier draußen in der Morgendämmerung spazieren. Ich war drin im Hause.«
»Das ist wahr! Clemency war die erste«, sagte Alfred. »So setze ich Clemency als Gegengewicht gegen euch.«
»Ha, ha, ha! – gegen mich und Craggs«, sagte Snitchey. »Welches Gegengewicht!«
»Sie ist vielleicht nicht so schlecht, wie sie ausschaut«, sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand, dann auch Snitchey und Craggs und blickte sich um. »Wo sind die – lieber Himmel!«
Mit einer schnellen Wendung, die auf einen Augenblick Jonathan Snitchey und Thomas Craggs in intimere Berührung miteinander brachte, als sie dies in ihrem Geschäftskontrakt vorgesehen hatten, eilte er dorthin, wo die beiden Schwestern standen, – ich brauche nicht erst zu erzählen, wie er zuerst Marion und dann Grace begrüßte, und möchte nur feststellen, wie Mr. Craggs vielleicht gefunden haben wird, daß er es sich zu leicht mache.
Vielleicht in der Absicht, die Aufmerksamkeit abzulenken, eilte Doktor Jeddler an den Frühstückstisch, und alle ließen sich zum Mahl nieder. Grace saß an der Spitze der Tafel, verstand es aber, sich so zu placieren, daß sie ihre Schwester und Alfred von der übrigen Gesellschaft trennte. Snitchey und Craggs saßen sich vis-à-vis, zwischen sich den blauen Stoß zur Sicherung. Der Doktor aber hatte seinen üblichen Platz Grace gegenüber. Clemency schwebte irrlichterierend um den Tisch als Kellnerin; und der melancholische Britain übte an einem kleinen Seitentisch das Amt des Tranchierens.
»Fleisch?« sagte Britain, indem er sich Mr. Snitchey, Tranchier und Gabel in der Hand, näherte und ihm die Frage wie einen Stein an den Kopf schleuderte.
»Ja«, antwortete der Anwalt.
»Wünschen Sie welches?« sagte dann Britain zu Craggs.
»Mager und gebräunt«, antwortete dieser.
Nachdem er die Wünsche dieser beiden erledigt und den Doktor leidlich bedient hatte (er schien zu wissen, daß die anderen nach Speise kein Verlangen trugen), blieb er den beiden Anwälten so nahe, wie es nur der Anstand erlaubte, und beobachtete sie mit starrem Blick. Nur einmal besänftigte sich sein unfreundliches Gesicht ein wenig, nämlich als Mister Craggs, dessen Zähne nicht die besten waren, sich verschluckt hatte und von einem heftigen Hustenanfall befallen wurde. Da rief er mit besonderer Lebhaftigkeit aus: »Ich dachte, er sollte ersticken!«
»Nun, Alfred«, sagte der Doktor, »ein paar Worte über Geschäftssachen, solange wir noch beim Frühstück sind.«
»Solange wir noch beim Frühstück sind«, sagten Snitchey und Craggs, die noch gar nicht ans Aufhören denken mochten.
Obwohl Alfred nicht gefrühstückt hatte und offenbar nachgerade beschäftigt war, so gab er doch ehrerbietig zur Antwort: »Wie es Ihnen angenehm ist, Sir!«
»Wenn es etwas Ernsthaftes geben sollte«, begann der Doktor, »in diesem – «
»In diesem Possenspiel«, fuhr der Doktor fort, »so wäre es solch ein Zusammentreffen des Abschiedstages mit einem doppelten Geburtstage, an den sich für uns vier manche freundliche Erinnerung knüpft, und der uns immer unser langes und freundschaftliches Zusammensein ins Gedächtnis zurückrufen wird. Doch das gehört nicht hierher.«
»O doch, Doktor Jeddler«, sagte der Jüngling. »Sicher gehört es hierher, das sagt mir mein Herz heute morgen, und das Ihre würde es auch tun, wenn Sie nur darauf hören wollten. Ich verlasse heute Ihr Heim; ich höre heute auf, Ihr Mündel zu sein; wir scheiden als halbe Verwandte, die ein Band lösen, während andere Bande schon in der Zukunft locken«, er blickte bei diesen Worten auf Marion, die an seiner Seite saß, hernieder, »Bande, so reich an Hoffnungen, wie es Worte nicht auszudrücken vermögen. Sie sehen«, setzte er fröhlich hinzu, »Sie sehen, Doktor, es ist noch ein Körnchen Ernst in diesem großen närrischen Haufen Nichtigkeit. Heute wollen wir wenigstens eingestehen, daß noch ein Körnchen Ernst vorhanden ist.«
»Heute!« rief der Doktor. »Hört nur, hört! ha, ha, ha! Gerade heute von allen Tagen im Lauf des närrischen Jahres. Was, heute, wo hier die große Schlacht geschlagen wurde? Auf diesem Platze, wo wir jetzt sitzen, wo ich meine Mädchen heute morgen tanzen sah, wo das Obst für unser Frühstück von diesen Bäumen gepflückt wurde, von Bäumen, die nicht in der Erde, sondern in Menschen wurzeln, traf so viele der Tod, daß in meiner Jugend noch – und auch für spätere Generationen wird das der Fall sein – ein guter Kirchhof voll Gebeine, und Staub von Gebeinen, und Splitter gespaltener Schädel hier ausgegraben wurden. Und doch wußten nicht hundert Menschen in dieser Schlacht, wofür und warum sie kämpften; nicht hundert derer, die über den Sieg frohlockten, warum sie es taten! Nicht fünfzig Menschen wurden glücklicher durch den Gewinn und den Verlust. Nicht sechs Menschen können sich bis heute über die Ursache und die Wirkungen einigen; kurz, niemand, außer denen, die um die Erschlagenen trauerten, hat jemals etwas Genaues davon gewußt. Ernst!« sagte der Doktor lachend. »Eine solche Welt!«
»Aber mir kommt dies alles ernst genug vor«, sagte Alfred. »Ernst genug«, rief der Doktor. »Wenn Sie solche Dinge als ernst gelten lassen wollen, so müssen Sie wahnsinnig werden oder sterben oder auf einen hohen Berg steigen und Asket werden.«
»Und dann ist es lange her«, sagte Alfred.
»Lange her!« entgegnete der Doktor, »wissen Sie, was die Welt seit jener Zeit getrieben hat? Ich weiß es nicht!«
»Sie hatte ein bißchen prozessiert«, bemerkte Mr. Snitchey und rührte seinen Tee um.
»Obgleich es den Leuten zu leicht gemacht worden ist«, sagte sein Gefährte.
»Und mir gestatten Sie bitte, Ihnen zu sagen, Doktor«, fuhr Mr. Snitchey fort, »wiewohl ich es Ihnen schon tausendmal auseinandergesetzt habe, daß ich in der Welt, indem sie prozessiert, und überhaupt in dem Systeme ihres Gerichtswesens etwas wirklich Ernsthaftes, etwas durchaus Reelles erkenne, etwas, was sein Ziel und seinen Zweck hat.«
Clemency Newcome stieß jetzt an die Tafel, daß alle Teller und Tassen klapperten.
»Nun, was gibt es denn?« rief der Doktor.
»Es ist der dumme Aktenstoß«, sagte Clemency, »der einem immer zwischen die Gliedmaßen gerät.«
»Was sein Ziel und seinen Zweck hat, sagte ich«, wiederholte Snitchey, »etwas, das unsere Achtung verlangt. Das Leben wäre ein Narrenspiel, Doktor Jeddler? Das Leben mit der Gerichtsbarkeit?«
Der Doktor lachte und sah Alfred an.
»Zugegeben, daß der Krieg eine Dummheit ist«, sagte Snitchey, »darin stimmen wir überein. Zum Beispiel, hier sehen wir eine entzückende Gegend.« Er deutete mit der Gabel ins Freie. »Ehedem aber war sie bedeckt mit Scharen von Soldaten – jeder einzelne des Landfriedensbruches schuldig – und sie war verwüstet durch Feuer und Schwert. Ha, ha, ha! Nur der Gedanke allein, daß sich ein Mensch aus freien Stücken dem Tod durch Feuer und Schwert ausliefert! Das ist dumm, ist vollkommen lächerlich; man muß die Schultern zucken über seine Mitmenschen, wenn man daran denkt! Aber nehmen wir diese freundliche Gegend, wie sie jetzt ist. Denken wir an die aus dem Grundeigentum entspringenden Rechtsverhältnisse; an die Vererbung und Schenkung des Grundeigentums; an Freipacht, Erbpacht, zeitweise Pacht; denken wir«, sagte Mr. Snitchey mit solcher Hingerissenheit, daß er mit den Lippen schmatzte, »denken wir an die komplizierten Gesetze, die sich auf das Besitzrecht und den Beweis des Besitzrechtes erstrecken, nebst allen sich widersprechenden Präzedenzfällen und Gesetzesakten, die dazu gehören; an die unendliche Fülle von verwickelten und endlosen Kanzleigerichtsprozessen, zu denen diese schöne Serie den Anlaß gibt: – und geben Sie zu, Doktor Jeddler, daß dies eine Oase in der Welt ist! – Ich hoffe«, sagte Mr. Snitchey mit einem Blick auf seinen Kompagnon, »daß ich im Namen der Firma rede, Mr. Craggs.«
Da Mr. Craggs zustimmte, bemerkte Mr. Snitchey, dessen Appetit durch die Rede gesteigert worden war, »daß er noch eine Scheibe Fleisch und eine Tasse Tee zu sich nehmen wolle«.
»Ich möchte nicht das Leben im allgemeinen verteidigen«, fügte er hinzu und rieb sich, während er in sich hineinlachte, die Hände; »es ist voller Torheit, voll von noch Schlimmerem. Versicherungen der Treue, des Vertrauens und der Uneigennützigkeit, und Ähnliches. Ach, was! Wir wissen, was sie wert sind. Aber Sie dürfen nicht über das Leben lachen; Sie haben eine Partie zu spielen; eine sehr schwierige Partie! Alle Menschen spielen gegen Sie, und Sie spielen gegen alle Menschen. O, es ist eine recht interessante Geschichte. Es sind raffinierte Züge auf diesem Spielbrett. Sie dürfen nur lachen, Doktor Jeddler, wenn Sie gewinnen; aber auch dann nicht zu laut. Ha, ha, ha! und auch dann nicht zu laut!« wiederholte Snitchey, indem er den Kopf hin und her drehte und das eine Auge zukniff, als wollte er hinzufügen: »Sie können dafür das machen!«
»Nun, Alfred«, fragte der Doktor, »was sagen Sie dazu?«
»Ich sage nur«, erwiderte Alfred, »Sie können mir und vermutlich auch sich selbst keinen größeren Gefallen erweisen, als daß Sie manchmal versuchten, dieses Schlachtfeld zu vergessen. Nicht minder aber andere, die Teile dieses großen Schlachtfeldes des Lebens überhaupt sind; eines Schlachtfeldes, das die Sonne täglich bescheint.«
»Nun, ich fürchte, das würde ihn nicht milder stimmen, Mr. Alfred«, sagte Snitchey. »Die Kämpfer in dieser Lebensschlacht sind sehr grimmig und erbittert gegeneinander. Ganz empörend ist das Schlagen und Stechen, und das heimliche Niederstoßen von rückwärts; ferner das Zu-Boden-Treten und Erdrücken; kurz, es ist eigentlich eine böse Geschichte.«
»Ich glaube, Mr. Snitchey«, sagte Alfred, »daß in dieser Schlacht stille Siege und Kämpfe, große Selbstaufopferung und edle, heldenmütige Taten – selbst in scheinbaren Nichtigkeiten und Widersprüchen – sich ereignen. Sie sind gewiß nicht minder schwer zu vollbringen, weil sie in keiner irdischen Chronik verzeichnet werden, weil kein irdisches Publikum sie sieht; Taten, die jeden Tag in verborgenen Winkeln, in Hütten und in männlichen und weiblichen Herzen geschehen – von denen eine einzige den strengsten Kritiker mit dieser Welt versöhnen und ihn belehren könnte, auf sie zu vertrauen und zu bauen, selbst wenn eine Hälfte ihrer Bewohner im Krieg, und ein Viertel ins Prozessieren verwickelt wäre; und das ist doch noch übertrieben.«
Beide Schwestern lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Na schön!« sagte der Doktor, »ich bin zu alt, um noch bekehrt zu werden, selbst von meinem Freund Snitchey hier, oder von meiner guten Schwester, Martha Jeddler. Sie hat ja ihre Schicksalsprüfungen durchgemacht, wie sie es nennt, und seitdem ist sie mildtätig und voll Erbarmen gegen allerlei Leute geworden. Sie ist auch durchaus Ihrer Meinung (nur ist sie als Frau weniger vernünftig und hartnäckiger), daß wir uns nicht vertragen können und daher selten sehen. Ich bin geboren auf diesem Schlachtfeld. Von Kind auf wandten sich meine Gedanken auf die Geschichte dieses Schlachtfeldes. Sechzig Jahre sind an mir vorübergezogen, und ich habe immer erfahren, daß die ganze christliche Welt, mit wer weiß wie viel zärtlichen Müttern und leidlich braven Töchtern, wie den meinen, sich ganz toll auf dem Schlachtfeld gebärdet hat. Dieselben Widersprüche finden wir allenthalben. Man muß entweder lachen oder weinen über diese absurden Inkonsequenzen; und ich lache lieber darüber.«
Britain, der jedem einzelnen Sprecher in tiefster Aufmerksamkeit zugehört hatte, schien sich plötzlich der gleichen Ansicht anschließen zu wollen, wofern ein ganz dumpfer, ein tiefster Grabeston, den er von sich gab, für ein Lachen gehalten werden durfte. Sein Gesicht blieb aber dabei so unbewegt, daß, obgleich ein paar der Frühstücksgäste erschreckt von dem unheimlichen Ton sich umwandten, doch niemand auf den Urheber Verdacht warf.
Ausgenommen die mitbedienende Clemency Newcome versetzte ihm mit einem ihrer Lieblingsgliedmaßen, dem Ellbogen, einen Stoß und fragte ihn mit vorwurfsvollem Lispeln, worüber er lachte.
»Nicht über Sie!« sagte Britain.
»Über wen denn?«
»Über die Menschheit«, sagte Britain. »Das ist ein Spaß.«
»Wahrhaftig, zwischen dem Herrn und diesen Anwälten wird er mit jedem Tag dümmer!« rief Clemency und gab ihm noch einen Stoß mit dem anderen Ellbogen. »Wissen Sie, wer Sie sind? Wollen Sie an die Luft befördert werden?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Britain mit leerem Blick und unveränderter Miene. »Ich kümmere mich um nichts. Ich glaube an nichts. Ich strebe nach nichts.«
Wenn auch vielleicht diese trübe Behauptung in einem Anfall von Melancholie etwas übertrieben war, so hatte doch Benjamin Britain – zuweilen Klein-Britannien genannt zum Unterschied von Großbritannien; wie man von Jung-England spricht, um Alt-England durch Gegensatz zu charakterisieren – seine wahre Geistesverfassung besser gekennzeichnet, als man hätte meinen sollen. Denn da der Arme Tag für Tag den zahllosen Vorträgen zuhörte, die der Doktor über verschiedene Leute ergehen ließ und die alle auf den Beweis hinausliefen, daß sogar seine Existenz im besten Falle ein Irrtum und eine Groteske sei, so war er schließlich in einen solchen Abgrund verwirrter und sich widersprechender Vorstellungen, die ihn von außen und von innen bedrängten, geraten, daß die brunnentiefe Wahrheit im Vergleich mit Britains geistig tiefer Verdunkelung sich noch hoch oben auf flacher Erde befand. Das einzige, was er wirklich einsah, war, daß das neue Element, das Snitchey und Craggs gewöhnlich in diese Diskussionen brachten, diese nur unverständlicher machte, und daß dies für den Doktor stets eine Art Vorteil und Bestätigung darzustellen schien. Darum betrachtete er die beiden Anwälte als Miturheber seines Gemütszustandes und verabscheute sie tief innerlich.
»Aber damit haben wir jetzt nichts zu tun, Alfred«, sagte der Doktor. »Sie hören heute auf, mein Mündel zu sein, und verlassen uns, ausgerüstet mit dem, was Ihnen die lateinische Schule und Ihre Studien in London und ein alter einfacher Landdoktor, wie ich, lehren konnten, um in die Welt zu treten. Der erste Abschnitt Ihrer von Ihrem seligen Vater festgesetzten Probezeit ist nun vorüber. Sie gehen entsprechend seinem zweiten Wunsch als Ihr eigener Herr in die Welt hinaus, und lange, bevor Ihr dreijähriger Aufenthalt auf den ärztlichen Schulen des Auslands beendet ist, werden Sie uns vergessen haben. Beim Himmel, Sie werden uns binnen einem halben Jahr vergessen!«
»Wenn ich das tue – aber Sie wissen es ja besser: warum sollte ich mit Ihnen streiten?« sagte Alfred lachend.
»Ich weiß gar nichts Derartiges«, erwiderte der Doktor. »Was meinst Du dazu, Marion?«
Marion, mit ihrer Tasse spielend, schien zu sagen – aber sie sagte es nicht – daß er sie nur immer vergessen möge, wenn er es könne. Grace schmiegte ihr schönes Gesicht an Marions Wangen und lächelte.
»Ich bin, wie ich hoffe, nicht ein sehr ungerechter Verwalter des mir anvertrauten Gutes gewesen«, sprach der Doktor weiter: »aber jedenfalls muß ich heute meines Amtes offiziell enthoben und aus ihm entlassen werden; und hier sind unsere guten Freunde Snitchey und Craggs mit einem ganzen Stoß von Papieren, Rechnungen und Dokumenten über das Vermögen, das ich Ihnen zu übertragen habe (ich wollte, es wäre erheblicher, Alfred, aber Sie müssen ein tüchtiger Mann werden und es vergrößern), und anderem törichten Kram dieser Art. Der ist nur zu unterzeichnen, zu siegeln und zu übergeben.«
»Und rechtskräftig zu bestätigen, wie es das Gesetz vorschreibt«, sagte Snitchey. Er schob seinen Teller beiseite, holte die Papiere hervor, die sein Sozius auf dem Tische ausbreitete, und fuhr fort: »Da ich und Craggs gemeinschaftlich mit Ihnen, Doktor, Verwalter des Vermögens waren, so werden uns Ihre beiden Hausangestellten als Zeugen dienen – können Sie lesen, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, mein Herr«, sagte Clemency.
»Ach, Verzeihung. Ich konnte mir dies denken«, sagte Snitchey lächelnd und betrachtete zugleich die wunderliche Erscheinung. »Sie können lesen?«
»Ein bißchen«, erwiderte Clemency.
»Sie lesen wohl am liebsten, von früh bis abends, das Verheiratungsformular, nicht wahr?« bemerkte scherzend der Anwalt.
»Nein«, sagte Clemency. »Zu schwer. Ich lese nur den Fingerhut.«
»Den Fingerhut?« wiederholte Snitchey. »Was soll das bedeuten?«
Clemency nickte und sagte: »Und das Muskatsieb«.
»Sie ist verrückt! Etwas für den Lord Oberkanzler!« sagte Snitchey und fixierte sie.
»Wenn sie Vermögen besitzt«, bemerkte Craggs.
Jetzt mischte sich aber Grace dazwischen und erklärte ihnen, daß auf die beiden genannten Gegenstände ein Motto geschrieben sei, und daß sie auf diese Weise die Taschenbibliothek Clemencys bildeten, die sich mit Büchern nicht viel abgab.
»Ach, das bedeutet es, Miß Grace!« sagte Snitchey. »Ja, ja. Ha, ha, ha! ich dachte, das gute Mädchen wäre im Verstand nicht richtig. Sie sieht ganz danach aus«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Was aber steht auf dem Fingerhut, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, Mister«, bemerkte Clemency.
»Na, dann nur Newcome. Wird das passen?« sagte der Anwalt. »Was steht auf dem Fingerhut, Newcome?«
Wie Clemency, ehe sie diese Frage beantwortete, eine Tasche aufklappte und in ihrer gähnenden Tiefe nach dem Fingerhut suchte, der nicht darin war – und wie sie es mit der andern Tasche ebenso machte, und ihn tief unten wie eine Perle von großem Werte zu entdecken schien; wie sie dann alle dazwischenliegenden Hindernisse, als da waren ein Schnupftuch, ein Kerzenstummel, ein rotbäckiger Apfel, eine Orange, ein Glückspfennig, ein Schloß, eine Schere in Futteral, eine Handvoll Glasperlen, mehrere Garnknäuel, eine Nadelbüchse, eine vollständige Sammlung von Haarwickeln und ein Zwieback, beiseite räumte und jedes dieser Dinge einzeln Britain zu halten gab – das kümmert uns wenig. Auch nicht, wie sie bei ihrem Bemühen, die Tasche zu packen und festzuhalten (denn diese hatte merkwürdige Neigung zu schaukeln und in die nächste Ecke zu schlüpfen), eine Haltung annahm und diese festhielt, obwohl sie allem Anschein nach mit der menschlichen Anatomie und den Gesetzen der Schwerkraft im vollkommensten Widerspruch stand. Es genügt uns, daß sie zuletzt mit Triumph den Fingerhut auf den Finger steckte, und mit dem Muskatsieb klirrte, wobei zu beachten ist, daß die Literatur dieser beiden Geräte infolge der übermäßigen Abnutzung dem Verschwinden nahe war.
»Das ist also der Fingerhut?« sagte Mr. Snitchey, um sich auf ihre Kosten zu amüsieren. »Und was sagt der Fingerhut?«
»Er sagt«, antwortete Clemency und buchstabierte langsam die Inschrift heraus: »Ver – giß – und – ver – gib.«
Snitchey und Craggs lachten vergnügt. »Das ist nett!« sagte Snitchey. »Nicht übel!« sagte Craggs. »Soviel Menschenkenntnis verratend«, sagte Snitchey. »So praktisch fürs tägliche Leben«, sagte Craggs.
»Und das Muskatsieb?« forschte Snitchey weiter.
»Das Muskatsieb sagt«, entgegnete Clemency: »Was – du – willst – daß – dir – die – Leute – tun – das – tue – du – ihnen – auch.«
»Tue den Leuten etwas, damit sie dir nichts tun, wollen Sie wohl sagen?« sagte Mr. Snitchey.
»Das verstehe ich nicht«, antwortete Clemency und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Anwalt.«
»Ich fürchte, wenn sie es wären, Doktor«, sagte Mr. Snitchey, indem er sich schnell zu diesem kehrte, als wollte er im voraus den Eindruck verwischen, den diese Antwort vielleicht hervorrufen könnte, »würden sie finden, daß dies die Moral ihrer meisten Klienten wäre. Darin sind sie sehr ernsthaft – so komisch sonst die Welt ist – und schieben dann die Schuld uns zu. Wir Juristen sind im Grund nur eine Art Spiegel, Mr. Alfred; aber meistens wenden sich hitzige, zornige und zänkische Leute, die nicht zum besten aussehen, an uns um Rat. Es ist daher eigentlich unrecht, auf uns zu schimpfen, wenn wir den Leuten unfreundliche Gesichter zeigen. Ich glaube«, sagte Mr. Snitchey, »ich spreche zugleich die Meinung unseres Mr. Craggs aus.«
»Ganz und gar«, sagte Craggs.
»Und so wollen wir denn, wenn Mr. Britain uns etwas Tinte gestatten will«, sagte Mr. Snitchey und nahm die Papiere wieder zur Hand, »sobald wie möglich unterzeichnen, besiegeln und übergeben; sonst kommt die Landkutsche, noch ehe wir wissen, wie weit wir sind.«
Wenn man nach dem Äußern urteilen wollte, so war es sehr wahrscheinlich, daß die Kutsche vorbeifuhr, noch bevor Mr. Britain wußte, wo er war; denn er stand ganz in Gedanken verloren da und wog die Argumente des Doktors gegen die der Anwälte, und der Anwälte gegen den Doktor, und der Klienten gegen beide bei sich gegeneinander ab; er machte schwache Versuche, den Fingerhut, und das Muskatsieb (ein ihm ganz neuer Begriff) mit irgendeiner ihm geläufigen Philosophie in Einklang zu bringen. Kurzum, er zerbrach sich, wie nur je seine große Namensvetterin, den Kopf mit Theorien und Systemen. Aber Clemency – die sein guter Geist war – obgleich er, weil sie sich nur selten um abstrakte Gedankengänge kümmerte und immer bei der Hand war, um das Rechte zur rechten Zeit zu tun, nur eine zu geringe Meinung von ihrer Vernunft hatte – war währenddem mit der Tinte erschienen und half ihm ferner noch dadurch, daß sie ihn durch einen Stoß mit dem Ellbogen aus seiner Zerstreutheit wieder zu sich brachte und ihn ganz munter machte.
Ich unterlasse es zu erzählen, wie ihn die bei Leuten seines Standes, die mit der Feder nicht umzugehen verstehen, häufige Besorgnis peinigte, daß er ein nicht von ihm selbst geschriebenes Schriftstück nicht mit einem Namen unterzeichnen könnte, ohne sich einer noch unbekannten Gefahr auszuliefern oder sich unbewußt zur Zahlung ungeheurer Summen zu verpflichten; oder wie er sich den Dokumenten nur mit Zagen und gezwungen vom Doktor näherte, und sie durchaus erst durchsehen wollte, ehe er unterschrieb (die Schreibschnörkel und gar erst die juristischen Ausdrücke waren für ihn so gut wie chinesisch), und das Blatt umwenden, um zu sehen, ob auf der anderen Seite nicht Gefährliches stünde: und wie er, nachdem er seinen Namen unterzeichnet hatte, ganz unglücklich wurde wie einer, der sein Vermögen und seine Rechte preisgegeben. Ich kann auch nicht ausführlich schildern, wie der blaue Beutel, der seine Unterschrift aufbewahrte, später eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf ihn ausübte, so daß er nicht von ihm weichen mochte; ferner wie Clemency Newcome, ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen bei dem Gedanken, sie sei eine Person von Wichtigkeit, sich mit ihren beiden Ellbogen über die ganze Tafel legte und den Kopf auf dem linken Arm ruhen ließ, ehe sie anfing, ihre rätselhaften Zeichen zu machen, zu denen sie sehr viel Tinte benötigte, und die sie gleichzeitig mit ihrer Zunge in der Luft nachmalte. Ferner wie sie, nachdem sie einmal Tinte geschmeckt, durstig danach wurde, wie der Tiger, wenn er Blut geleckt, und alles mögliche unterzeichnen und ihren Namen in alle Ecken schreiben wollte. Schließlich aber wurde dabei der Doktor seines Amtes und seiner Verantwortlichkeit enthoben, und Alfred nahm diese selbst auf sich und trat seine Studienreise an.
»Britain!« sagte der Doktor, »eile zur Gartentür und sieh, ob die Kutsche kommt. Die Zeit entflieht, Alfred.«
»Ja, Herr, ja«, entgegnete der Jüngling hastig. »Liebe Grace! einen Augenblick! Marion – so jung und schön, so liebenswert und so bewundert, meinem Herzen so lieb wie nichts auf der Welt – vergiß es nicht! Ich empfehle Marion in deine Hände.«
»Sie war mir immer ein teures Vermächtnis, Alfred. Jetzt ist sie mir doppelt teuer. Ich werde mich deines Vertrauens würdig erweisen«, sagte Grace.
»Ich glaube es, Grace«, versetzte Alfred. »Ich weiß es. Wer könnte in dein Auge schauen, deine innige Stimme hören, und es nicht wissen? Ach, liebe Grace! hätte ich dein sicheres Gefühl, dein ruhiges Gemüt, wie unbekümmert würde ich heute diese Stätte verlassen.«
»Glaubst du?« antwortete sie mit ruhigem Lächeln.
»Und doch, Grace – Schwester möchte ich beinahe sagen –«
»Sag es!« unterbrach sie ihn lebhaft. »Ich höre es gern, nenne mich niemals anders.«
»Schwester also«, sagte Alfred, »und doch ist es besser für Marion und für mich, wenn uns dein beständiges und getreues Gemüt hier hilft und uns glücklicher und besser macht. Selbst wenn ich es vermöchte, würde ich sie nicht meinetwegen mitnehmen.«
»Die Kutsche hat die Höhe erreicht!« rief Britain.
»Die Zeit vergeht, Alfred«, mahnte der Doktor.
Marion hatte beiseite gestanden, die Augen zu Boden gesenkt; aber jetzt führte Alfred sie liebevoll zur Schwester hin und legte sie an deren Brust.
»Ich habe Grace gesagt, liebe Marion«, sprach er, »daß ich dich ihrer Obhut anvertraue, dich ihr beim Scheiden als mein teuerstes Kleinod übergebe. Und wenn ich wiederkomme und dich zurückfordere, Geliebteste, und die schöne Zukunft unseres Ehelebens sich vor uns breitet, da soll es eine unserer schönsten Freuden sein, darüber nachzudenken, wie wir Grace glücklich machen, ihren Wünschen zuvorkommen, ihr unsere Liebe und Dankbarkeit beweisen und ihr etwas von der Schuld zurückzahlen können, die wir ihr gegenüber haben.«
Die jüngere Schwester hatte eine Hand in die seine gelegt; mit der andern hielt sie ihre Schwester umschlungen. Sie sah in die sicheren heiteren Augen ihrer Schwester mit einem Blick, in dem sich Liebe, Bewunderung, Trauer und fast Verehrung vermischten. Sie blickte empor zum Gesicht der Schwester, als wäre es das Antlitz eines himmlischen Engels. Und mit heiterer, seliger Ruhe schaute dieses Antlitz auf sie und ihren Geliebten herab.
»Und sobald die Zeit kommt, wenn sie einmal kommen muß«, sagte Alfred; »es wundert mich, daß sie noch nicht gekommen ist: aber Grace weiß dies am besten, und Grace hat immer recht – wo sie das Herz eines Freundes nötig hat, dem sie sich vertrauen kann, wie wir ihr vertrauten: wie treu wollen wir dann zu ihr sein, Marion, und wie wollen wir uns freuen, daß unsere gute Schwester liebt und geliebt wird, wie sie es immer wert ist!«
Immer noch sah ihr die jüngere Schwester in die Augen und wandte sich nicht ab – nicht einmal nach ihm hin. Und immer noch verweilten diese treuen Augen mit friedvoller Ruhe auf ihr und ihrem Geliebten.
»Und wenn das alles vergangen ist und wir alt sind und in enger Gemeinschaft leben und oft von vergangenen Zeiten reden«, sagte Alfred, »dann soll diese vor allem anderen unsere Lieblingszeit sein – vornehmlich dieser Tag! und dann werden wir uns erzählen, was wir beim Abschied dachten und fühlten und hofften und fürchteten; und wie wir uns nicht Lebewohl zu sagen vermochten.«
»Die Kutsche fährt durch das Wäldchen«, rief Britain.
»Ja! Ich bin bereit – und wie wir trotz allem uns so glücklich wiedersahen: diesen Tag wollen wir zum glücklichsten im ganzen Jahre machen und als einen dreifachen Geburtstag feiern. Nicht wahr, Liebe?«
»Ja!« sagte die ältere Schwester feurig mit strahlendem Lächeln. »Ja! Alfred, aber verweile nicht länger. Es bleibt keine Zeit mehr übrig. Verabschiede dich von Marion, und möge Gott dich beschützen!«
Er zog die jüngere Schwester an seine Brust. Als er sie wieder losließ, lehnte sie sich erneut an Grace und sah wieder mit dem gleichen empfindungsreichen Blick in das ruhige Auge.
»Leben Sie wohl, Alfred!« sagte der Doktor. »Von ernsthaftem Briefwechsel oder tiefer Zuneigung und Verpflichtung und so weiter in diesem – ha, ha, ha! – Ihr wißt, was ich sagen will – zu reden, das wäre natürlich ein Unfug. Ich vermag nur festzustellen, daß, wenn Sie und Marion desselben vernarrten Sinnes bleiben, ich gegen Sie als Schwiegersohn, wenn die Zeit reif sein wird, nichts zu bemerken hätte.«
»Auf der Brücke!« schrie Britain.
»Möge sie kommen!« sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand. »Gedenken Sie bisweilen meiner, mein alter Freund und Vormund, so ernst, wie es Ihnen möglich ist! Leben Sie wohl, Mr. Snitchey! Leben Sie wohl, Mr. Craggs!«
»Sie fährt die Straße herunter!« rief Britain.
»Einen Kuß für Clemency Newcome, in alter Freundschaft, – hier die Hand, Britain – Marion, liebstes Herz, lebe wohl! Schwester Grace, vergiß nicht!«
Die mütterliche Gestalt mit dem in seiner heiteren Ruhe so schönen Antlitz wandte sich ihm zu; aber Marions Auge vermochte nicht mehr, sich von der Schwester abzuwenden.
Die Kutsche war vor der Tür. Das Gepäck wurde hinaufgehoben. Die Kutsche fuhr weiter. Marion rührte sich nicht.
»Er winkt dir mit dem Hut nach, Liebe«, sagte Grace. »Dein Bräutigam, teures Herz. Sieh!«
Die jüngere Schwester sah auf und wendete für einen Augenblick das Haupt. Als sie aber nun zum erstenmal dem vollen Blick dieser ruhigen Augen begegnete, warf sie sich der älteren Schwester weinend um den Hals.
»O Grace, Gott segne dich! Aber ich kann das nicht sehen, Grace! Es zerbricht mir das Herz.«




Zweiter Teil


Snitchey und Craggs hatten ein nettes kleines Bureau auf dem alten Schlachtfeld, wo sie ein nettes, kleines Geschäft betrieben und viele kleine Schlachten für viele streitende Parteien lieferten. Obgleich man eigentlich nicht behaupten konnte, daß diese Kämpfe leichte und muntere Schützengefechte waren – denn sie verliefen gewöhnlich recht langsam und mühselig – so konnte man doch die Beteiligung der Firma daran insofern unter dieser Kampfesart charakterisieren, als sie bald einen Schuß auf diesen Kläger, bald eine Kugel auf jenen Verteidiger abfeuerten, bald mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfielen, bald aber wieder ein Scharmützel mit einem beliebigen Korps kleiner Schuldner hatten, je nachdem wie sich dazu die Gelegenheit bot und der Feind sich ihnen stellte. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die Zeitung ein wichtiges und höchst interessantes Blatt; und von den meisten Unternehmungen, in denen sie ihr Feldherrntalent gezeigt, erklärten die Kämpfenden später, daß sie wegen des vielen Rauchs, von dem sie umwölkt gewesen, sich nur sehr schwer hätten erkennen und kaum hätten erfahren können, was sie eigentlich machten.
Das Bureau der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem am Markte hinter einer offenen Tür und zwei polierten abwärtsgesenkten Stufen, so daß jeder erboste Pächter, den es nach einem Prozeß gelüstete, mit der größten Leichtigkeit hineinstolpern konnte. Ihre Besprechungen hielten sie in einem Hinterzimmer, eine Treppe hoch, ab; einem Raum mit einer niedrigen dunklen Decke, als ob dieser Raum die Brauen in düsterm Grübeln über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Seine Einrichtung bestand aus einigen Lederstühlen mit hohen Lehnen, besteckt mit großen runden Messingnägeln, von denen einzelne ausgefallen waren, vielleicht auch von dem bewußtlosen Finger wirr gewordener Klienten herausgezogen worden waren. Außerdem gewahrte man einen Kupferstich von einem berühmten Richter, der mit jeder Locke seiner großen Perücke einem Menschen die Haare vor Erstaunen sträuben konnte. Papiere füllten in Ballen die staubigen Schränke, Regale und Tische. Die untere Täfelung aber war verdeckt von Reihen feuersicherer Kisten, mit Vorlegeschlössern und groß darauf geschriebenen Namen. Harrende Klienten sahen sich wie durch einen unbarmherzigen Zauber veranlaßt, diese Namen vorwärts und rückwärts zu buchstabieren, während sie scheinbar Snitchey und Craggs zuhörten, ohne ein Wort von dem, was diese redeten, zu verstehen.
Snitchey und Craggs waren beide verehelicht. Snitchey und Craggs waren die dicksten Freunde von der Welt und schenkten einander wirkliches Vertrauen. Aber wie es häufig im Leben vorkommt, musterte Mrs. Snitchey aus Prinzip Mr. Craggs mit argwöhnischen Blicken, und dasselbe tat in bezug auf Mr. Snitchey Mrs. Craggs. »Mit deinem Snitchey«, pflegte die letztere Dame zuweilen zu Mr. Craggs zu sagen, »ich weiß gar nicht, was du mit deinem Snitchey willst. Du vertraust viel zu sehr auf deinen Snitchey, sage ich, und ich hoffe nur, daß du nie von ihm getäuscht wirst.« Dagegen äußerte sich Mrs. Snitchey zu ihrem Mann über Craggs, daß, wenn er sich jemals von einem Menschen auf Irrwege verleiten ließe, es durch diesen Mann geschehen würde; und daß, wenn ein Mensch einen falschen Blick habe, es Craggs sei. Trotzdem waren sie aber doch im ganzen recht gute Freunde; und zwischen Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs bestand ein enges Schutz- und Trutzbündnis gegen das Bureau, das in ihren Augen eine Mörderhöhle und ein gemeinschaftlicher Feind voll gefährlicher und geheimnisvoller Einrichtungen war.
Und doch erzeugten in dieser Klause Snitchey und Craggs ihren Honig. Hier standen sie zuweilen an schönen Abenden bei dem Fenster ihres Empfangszimmers, das auf das alte Schlachtfeld hinausging, und wunderten sich (aber das war meistens der Fall, wo die Assisen »fest« waren, und wo rastlos gutgehende Geschäfte sie sentimental stimmten) über die Torheit der Menschenkinder, die nicht immer in Frieden miteinander leben und ihre Zwistigkeiten in Seelenruhe vor Gericht ausfechten konnten. Hier strichen Tage, Wochen, Monate und Jahre an ihnen vorbei, und ihr Gerichtskalender, die allgemach sich verringernde Zahl der messingenen Nägel in den Lederstühlen und die wachsende Last von Papieren auf dem Tisch zeugten genugsam davon. Hier hatten fast drei seit jenem Lunch im Obstgarten vergangene Jahre die einen vermindert und die anderen vermehrt, als sie eines Abends bei einer Besprechung zusammensaßen.
Sie waren nicht allein, sondern zusammen mit einem Mann von ungefähr dreißig Jahren, der ein wenig nachlässig in seiner Haltung, etwas schmal im Gesicht, aber sonst wohlgebaut, wohlgekleidet und von schmuckem Aussehen war. Er saß in dem Staatslehnstuhl, die eine Hand oben in der Falte des Rocks, die andere in dem ungeordneten Haar, in trübes Nachdenken versunken. Snitchey und Craggs saßen daneben. Eine der feuersicheren Kisten stand geöffnet auf diesem; ein Teil des Inhalts lag auf dem Tisch ausgebreitet, während der Rest durch die Hand Mrs. Snitcheys ging, der ein Dokument nach dem andern gegen das Licht hielt, jedes Papier einzeln prüfte, dabei den Kopf schüttelte und es Mr. Craggs hinreichte, der es ebenfalls prüfte und den Kopf schüttelte. Zuweilen hielten sie damit inne, schüttelten beide den Kopf und sahen ihren in Gedanken versunkenen Klienten an. Da auf der Kiste geschrieben stand: Michael Warden Esquire, dürfen wir aus allem folgern, daß Name und Kiste jenem gehörten und daß die Angelegenheiten Michael Wardens, Esquire, nicht günstig standen.
»Das ist alles«, sagte Mr. Snitchey, und legte das letzte Papier nieder. »Ich sehe keinen Weg weiter. Keinen Weg weiter.«
»Alles verloren, durchgebracht, verpfändet, verliehen und verkauft?« sagte der Klient und blickte auf.
»Alles«, antwortete Mr. Snitchey.
»Weiter ist nichts zu machen, sagen Sie?«
»Gar nichts«, war die Antwort des Advokaten.
Der Klient biß sich in die Nägel und versank wieder in sein altes Grübeln.
»Und sogar meine persönliche Sicherheit ist gefährdet, glauben Sie?« fing er nach einer Pause wieder an.
»In jedem Bezirk der vereinigten Königreiche Großbritannien und Irland«, erwiderte Mr. Snitchey.
»Also nichts als ein verlorener Sohn, der zu keinem Vater mehr zurückkehren kann, keine Schweine zu hüten hat und keine Treber mit diesen teilen kann?« fuhr der Klient fort, indem er ein Bein über das andere schaukelnd schlug und zu Boden blickte.
Mr. Snitchey hustete, gleichsam als wollte er die Zumutung zurückweisen, an irgendeiner allegorischen Deutung eines Rechtsverhältnisses sich zu beteiligen. Mr. Craggs hustete gleichfalls, als wolle er zu verstehen geben, daß dieses in der Tat die Auffassung des Hauses sei.
»Zugrunde gerichtet mit dreißig Jahren«, sagte der Klient. »Hach!«
Snitchey und Craggs bei der Abrechnung mit Michael Warden.
»Nicht zugrunde gerichtet, Mr. Warden«, entgegnete Snitchey. »So arg ist es noch nicht. Sie haben zwar alles dazu getan, muß ich sagen, aber Sie sind nicht zugrunde gerichtet. Etwas Einschränkung –«
»Zum Kuckuck mit der Einschränkung«, rief der Klient.
»Mr. Craggs, wollen Sie mir eine Prise gestatten? Ich danke Ihnen.«
Als der gemächliche Rechtsanwalt die Prise ersichtlich mit großer Vorfreude und ganz in diesen Genuß vertieft in die Nase steckte, verzog sich das Gesicht des Klienten schließlich zu einem Lächeln, und er sagte: »Sie reden von Einschränkung. Wie lange?«
»Wie lange?« wiederholte Snitchey und schnippte sich den Tabak von den Fingern, während er angestrengt nachzudenken schien. »Bei treuen Händen – sagen wir in Snitcheys und Craggs Namen – sechs oder sieben Jahre.«
»Sechs oder sieben Jahre hungern!« sagte der Klient mit verdrießlichem Lachen und rückte ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.
»Sechs oder sieben Jahre zu hungern, Mr. Warden, wäre freilich etwas Außerordentliches«, sagte Snitchey. »Sie könnten mit der Zeit allein dadurch, daß Sie sich ausstellen ließen, ein neues Grundstück verdienen. Aber wir glauben nicht, daß Sie dies vermöchten, und raten es Ihnen daher auch nicht.«
»Was raten Sie mir dann also?«
»Einschränkung«, wiederholte Snitchey. »Ein paar Jahre Einschränkung unter unserer Geschäftsaufsicht würde Sie wieder auf die Beine bringen. Aber dann müßten Sie ins Ausland gehen. Was das Darben angeht, so könnten wir Ihnen selbst jetzt schon ein paar hundert Pfund abgeben, Mr. Warden.«
»Ein paar hundert Pfund?« sagte der Klient. »Und ich habe Tausende benötigt!«
»Daran«, entgegnete Mr. Snitchey und legte die Papiere sorgfältig in den eisernen Kasten, »daran ist gar kein Zweifel. Gar kein Zweifel«, wiederholte er langsam, indessen er seine Tätigkeit nachdenklich fortsetzte.
Der Anwalt kannte sicherlich seinen Mann; jedenfalls hatte seine trockene und humorvolle Manier einen günstigen Eindruck auf die Niedergeschlagenheit des Klienten hervorgerufen und veranlaßte ihn, offen und mitteilsamer zu sein. Oder vielleicht wußte der Klient Bescheid über seinen Mann und hatte die ermutigenden Angebote nur herausgelockt, um einen Schachzug, den er enthüllen wollte, besser verteidigen zu können. Er erhob jetzt langsam den Kopf und schaute seine erhabenen Ratgeber mit einem Lächeln an, aus dem bald ein Lachen wurde.
»Im Grunde, mein verehrter Freund –« Mr. Snitchey wies auf seinen Kompagnon: »Snitchey und – entschuldigen Sie – Craggs.«
»Ich bitte Mr. Craggs um Verzeihung«, sagte der Klient. »Im Grunde aber, meine verehrten Freunde«, er beugte sich dabei vor und ließ die Stimme fallen, »wissen Sie noch gar nicht, wie schlimm es mit mir steht.«
Mr. Snitchey blickte ihn ganz erstaunt und erschreckt an. Mr. Craggs musterte ihn mit denselben Blicken.
»Ich bin nicht nur schrecklich verschuldet«, sagte der Klient, »sondern auch schrecklich –«
»Doch nicht verliebt?« schrie Snitchey.
»Ja!« sagte der Klient, indem er auf den Stuhl zurücksank und die beiden Anwälte ansah. Die Hände hatte er dabei in die Taschen gesteckt. »Schrecklich verliebt.«
»Und nicht in eine Erbin?« fragte Snitchey.
»Nicht in eine Erbin.«
»Auch nicht in eine reiche Dame?« forschte der Anwalt weiter.
»Nicht reich, soweit ich weiß – außer an Schönheit und Vorzügen des Charakters.«
»Hoffentlich eine unverheiratete Dame?« sagte Mr. Snitchey mit großem Nachdruck.
»Selbstverständlich!«
»Nicht in eine von Doktor Jeddlers Töchtern?« sagte Snitchey, und stützte die Ellbogen auf die Knie, wobei er sein Gesicht mindestens einen halben Meter vorschob.
»Doch!« entgegnete der Klient.
»Nicht in seine jüngere Tochter?« fragte Snitchey.
»Doch!« war die Antwort Mr. Wardens.
»Mr. Craggs«, sagte Snitchey erleichtert, »wollen Sie mir eine Prise gestatten? Danke bestens! Es freut mich, Ihnen sagen zu können, Mr. Warden, daß das nichts schadet; sie ist schon verlobt, Sir, sie ist Braut. Mein Kompagnon kann das bezeugen. Wir sind über die Angelegenheit informiert.«
»Wir sind über die Angelegenheit informiert«, wiederholte Craggs.
»Was macht das? Sie wollen Männer von Lebenserfahrung sein und hätten nie gehört, daß ein Weib ihren Sinn geändert hätte?«
»Es sind allerdings Klagen wegen Brechens von Eheversprechen vorgekommen«, sagte Mr. Snitchey, »sowohl gegen Jungfrauen, wie gegen Witwen, indessen in den meisten Affären – – «
»Affären – –!« unterbrach ihn der Klient ungeduldig. »Reden Sie mir nichts von Affären. Das Leben ist ein viel stärkeres und inhaltreicheres Buch als Ihre juristischen Bände. Und im übrigen: glauben Sie vielleicht, ich hätte umsonst sechs Wochen lang in dem Haus des Doktors mich aufgehalten?«
»Ich glaube, Sir«, bemerkte Mr. Snitchey und wandte sich ernst an seinen Sozius, »ich bin der Ansicht, daß von allen Streichen, die Mr. Warden von seinen Rennpferden gespielt worden sind – und sie waren ziemlich zahlreich und ziemlich kostspielig, wie er und wir beide am besten wissen – der schlimmste der war, daß ihn eins von ihnen mit drei gebrochenen Rippen, einem ausgerenkten Schulterblatt und der Himmel weiß, mit wie viel Beulen an der Gartenmauer des Doktors zurückgelassen hat. Damals, als wir ihn unter des Doktors Obhut und Dach gesunden sahen, ahnten wir so Schlimmes nicht. Aber es steht sehr böse, Sir, böse! Es steht sehr böse. Und Doktor Jeddler – unser Klient, Mr. Craggs.«
»Und Mr. Alfred Heathfield – ist auch so etwas wie ein Klient, Mr. Snitchey«, meinte Mr. Craggs.
»Und Mr. Michael Warden auch so etwas wie ein Klient«, fiel der Besuch ruhig in die Rede, »und kein schlechter, weil er zehn oder zwölf Jahre lang leichten Sinnes verbracht hat. Aber Michael Warden hat sich jetzt ausgetobt; dort in dem Kasten liegen die Ergebnisse und Instrumente, um reuig fortan sein klügeres Leben zu beginnen. Und um das zu beweisen, hat Mr. Warden die Absicht, Marion, des Doktors liebenswürdige Tochter, zu heiraten und mit sich fortzuführen.«
»Wirklich, Mr. Craggs?« hub Snitchey an.
»Wirklich, Mr. Snitchey und Mr. Craggs«, unterbrach sie der Klient. »Sie wissen Ihre Pflichten gegen Ihren Klienten, und wissen ferner genau, daß Sie nicht verpflichtet sind, sich in eine Sache zu mischen, die bloß eine Liebesgeschichte ist und die ich Ihnen anvertrauen muß. Ich möchte die junge Dame nicht ohne ihre Zustimmung davonführen. Dabei ist nichts Ungesetzliches. Ich war niemals Mr. Heathfields Busenfreund. Ich mache mich durchaus nicht eines Vertrauensbruchs gegen ihn schuldig. Ich liebe, wie er liebt, und gedenke zu gewinnen, was er gewinnen wollte, wenn es mir möglich ist.«
»Es ist ihm nicht möglich, Mr. Craggs«, sagte Snitchey, offenbar sehr beunruhigt. »Es kann ihm nicht möglich werden, Sir. Sie hängt sehr an Mr. Alfred.«
»Mr. Craggs, sie hängt sehr an ihm«, beteuerte Snitchey.
»Ich habe nicht vergebens sechs Wochen lang in des Doktors Haus gelebt; und ich hatte bald daran meine Zweifel«, meinte Mr. Warden. »Sie würde ihn lieben, wenn es nach dem Wunsch ihrer Schwester geschähe, aber ich habe sie beobachtet. Marion mied es, ihn zu nennen und zu erwähnen; sie litt bei der leisesten Anspielung auf ihn offensichtlich.«
»Wieso sollte sie dies, Mr. Craggs? Warum sollte sie dies, Sir?« forschte Snitchey.
»Wieso, weiß ich nicht, wiewohl es viele Gründe der Erklärung dafür gibt«, sagte der Klient lächelnd ob der Betretenheit und Verwirrung, die in Snitcheys Gesicht zu lesen war, und ob der vorsichtigen Manier, auf die er selbst die Unterhaltung lenkte, um von der Angelegenheit mehr zu erfahren, »aber ich weiß, daß es sich so verhält. Sie war sehr jung, als sie sich verlobten – wenn man das überhaupt so bezeichnen darf – und hat es vielleicht bereut. Vielleicht – es klingt anmaßend, aber ich meine es wirklich nicht so – hat sie sich in mich verliebt, wie ich mich in sie verliebt habe.«
»He, he! Mr. Alfred, ihr alter Spielkamerad«, sagte Snitchey verlegen lächelnd, »kannte sie ja schon von früher Kindheit an!«
»Um so wahrscheinlicher ist es, daß sie es satt hat, an ihn zu denken«, fuhr der Klient selbstsicher fort, »und daß sie nicht abgeneigt ist, ihn gegen einen neuen Liebhaber einzutauschen, der ihr unter romantischen Voraussetzungen entgegentritt – oder hoch zu Roß sich produziert; der in dem für ein Mädchen vom Lande recht lockenden Ruf steht, leichten Sinnes und flott gelebt zu haben nach dem Motto: Leben und leben lassen! und der es seinem Äußern nach – das mag sich wieder anmaßend anhören, indessen bei meiner Ehre, ich meine es nicht so – wohl auch noch mit Mr. Alfred aufnehmen könnte.«
Dies letztere ließ sich gewiß nicht bestreiten, und Mr. Snitchey, als er seinen Klienten anblickte, dachte das gleiche. Gerade sein nonchalantes Wesen lieh ihm eine gewisse natürliche Anmut und machte ihn interessant. Es schien zu sagen, daß sein nettes Gesicht und seine wohlgebaute Gestalt viel besser sein könnten, wenn er nur wollte; und daß er, wenn er sich einmal zusammenraffte und Ernst macht, voll feuriger Tatkraft fein könnte. Das ist ein gefährlicher Spitzbube, sagte sich der menschenkundige Anwalt, er scheint das beseelende Feuer, das ihm mangelt, aus eines Mädchens Augen zu gewinnen.
»Darum hören Sie, Snitchey«, fuhr er fort, indem er aufstand und ihn bei einem Rockknopf ergriff, »und Sie, Craggs«, er packte ihn gleichfalls an einem Knopf, und stellte den einen rechts, den andern links neben sich, so daß sie ihm nicht entgehen konnten, »ich frage Sie nicht um Rat, Sie verfahren sehr richtig, wenn Sie sich von dieser Sache unbedingt ganz fernhalten; denn es gehört sich hierbei nicht, daß sich gereifte Männer, wie Sie es sind, einmischen. Ich will nur kurz meine Situation und meine Absichten dartun und es dann Ihnen überlassen, für mich in betreff meiner Finanzen so geschickt wie möglich zu operieren; denn Sie sehen ein, wenn ich jetzt mit des Doktors schöner Tochter entfliehe (und ich denke das zu erreichen und durch ihre Liebe ein anderer Mensch zu werden), so wird das für den Augenblick mehr Kosten verursachen, als wenn ich allein entfliehe. Aber ich werde dies durch ein anderes Leben bald wieder einholen.«
»Meiner Meinung nach ist es besser, wir hören das nicht an, Mr. Craggs?« sagte Snitchey und blickte auf seinen Sozius.
»Ich meine das auch«, sagte Craggs. Indessen hörten beide aufmerksam zu.
»Sie brauchen es nicht anzuhören«, entgegnete ihr Klient. »Ich will es aber doch mitteilen. Ich habe nicht die Absicht, den Doktor um seine Erlaubnis zu fragen, denn er würde sie mir doch nicht erteilen. Aber ich will dem Doktor nichts Böses zufügen. Ich will ja nur sein Kind (zudem sagt er überdies, daß solche Bagatellen keine ernsten Sachen sind), meine Marion, von etwas befreien, was sie – wie ich weiß – mit Furcht und Schmerz nahen sieht; ich meine die Rückkehr ihres Freundes. Wenn etwas in der Welt wahr ist, so ist es eben die Tatsache, daß sie sich vor seiner Rückkehr fürchtet. Allerdings lebe ich jetzt wie ein gejagter Hund, wage mich bloß im Dunkeln heraus, und darf mein Haus und meinen eigenen Besitz nicht betreten; aber dieses Haus und dieser Besitz wird eines Tages wieder mein sein, wie Sie wissen und selbst zugeben; und Marion wird als Gattin in zehn Jahren – Sie sagen es selbst und Sie sind nicht optimistisch-verschwommen – wahrscheinlich reicher sein, als wenn sie sich mit Alfred Heathfield vermählt, dessen Rückkehr sie voll Furcht erwartet (vergessen Sie das nicht), und dessen Liebe nicht – und keine auf der Welt – glühender sein kann als die meine. Wem geschieht dabei ein Unrecht? Alles erfolgt recht und billig. Meine Sache ist so gerecht wie seine, wenn sie sich eben für mich entscheidet; und auf ihre Entscheidung will ich es ankommen lassen. Es wird Ihnen angenehm sein, nicht mehr von dieser Sache zu hören, und ich werde Sie auch nicht weiter damit belästigen. Sie wissen jetzt meine Absichten und was ich nötig habe. Wann muß ich England verlassen?«
»In einer Woche«, sagte Snitchey. »Mr. Craggs –?«
»Noch etwas früher, würde ich empfehlen«, gab Craggs zur Antwort.
»In einem Monat«, sagte der Klient, nachdem er die beiden Gesichter prüfend beobachtet hatte. »Heute in einem Monat. Heute ist Donnerstag. Glücklich oder unglücklich, heute in einem Monat reise ich ab.«
»Das ist zu lange«, sagte Snitchey; »viel zu lange. Aber schließlich meinetwegen. Ich dachte schon, er würde sich drei ausbedingen«, bemerkte er brummend zu sich selber. »Wollen Sie gehen? Gute Nacht, Sir.«
»Gute Nacht!« versetzte der Klient und drückte beiden die Hand. »Sie werden es noch erleben, wie ich meinen Reichtum gut zu verwenden verstehe. Von jetzt an ist Marion mein Stern des Glückes.«
»Passen Sie auf der Treppe auf, Sir«, sagte Snitchey; »denn dort leuchtet er nicht. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!« entgegnete Mr. Warden.
Die beiden Kompagnons blieben bei der Treppe stehen und leuchteten ihm hinunter; als er gegangen war, standen sie immer noch und blickten sich an.
»Was sagen Sie dazu, Mr. Craggs?« fragte Snitchey.
Mr. Craggs schüttelte den Kopf.
»Wir glaubten doch, daß an dem Tag, wo die Mündigkeitserklärung stattfand, an der Manier, wie das Paar voneinander Abschied nahm, etwas Bemerkenswertes gewesen, daran erinnere ich mich«, sagte Snitchey.
»Ja, ja«, sagte Mr. Craggs.
»Vielleicht irrt er sich«, fuhr Mr. Snitchey fort, schloß den feuerfesten Kasten zu und stellte ihn an seinen gewohnten Ort, »wenn das aber nicht der Fall ist, so wäre etwas Wankelmut und Untreue auch kein Wunder, Mr. Craggs. Freilich hätte ich das schöne Gesichtchen für sehr treu gehalten. Mir erschien es so«, meinte Snitchey, indem er seinen Mantel und die Handschuhe anzog (es war recht kalt draußen) und ein Licht löschte, »als ob ihr Charakter gerade jetzt fester und ernster würde. Mehr noch als der ihrer Schwester.«
»Mrs. Craggs war der gleichen Auffassung«, meinte Craggs.
»Es sollte mich wirklich freuen«, sagte Snitchey, der im Grunde ein sehr gutes Herz hatte, »wenn ich annehmen könnte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Aber so leichtsinnig und ruhelos er auch ist, so kennt er doch die Welt und die Menschen (und es wäre schlimm, wenn dies nicht der Fall wäre, denn diese seine Kenntnis ist ihm teuer genug zu stehen gekommen); und ich kann es mir nicht recht wahrscheinlich vorstellen. Das beste ist für uns, daß wir uns nicht hineinmischen; wir können nicht mehr tun, Mr. Craggs, als schweigen.«
»Nicht mehr«, war Craggs Antwort.
»Unser guter Freund, der Doktor, nimmt solche Dinge gleichgültig«, sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ich will nur hoffen, daß er seine Philosophie nicht nötig hat. Unser Freund Alfred redet von dem Kampf des Lebens.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich hoffe zum mindesten, daß er nicht schon im Anfang des Kampfes fallen wird. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich will das andere Licht auslöschen.«
Als Mr. Craggs bejahte, tat Mr. Snitchey wie er gesagt, und sie tasteten sich zum Besprechungszimmer hinaus, das jetzt so dunkel war, wie das Thema ihrer Rede oder wie die Justiz im allgemeinen.
***
Meine Geschichte führt mich jetzt in ein kleines ruhiges Studierzimmer, wo am selben Abend die Schwestern und der muntere alte Doktor vor dem behaglichen Kamin saßen. Grace hatte eine Näharbeit, Marion las aus einem Buch vor. Der Doktor in Schlafrock und Pantoffeln, die Füße auf dem warmen Teppich, saß im Lehnstuhl, hörte der Lesenden zu und blickte auf seine Töchter. Sie waren sehr schön von Aussehen. Zwei erquickendere Gesichter hatten noch nie eine Kaminecke vertraut und heilig gemacht. Etwas von verschiedenem Wesen hatten die verflossenen drei Jahre gemildert; und auf der reinen Stirn der jüngeren Schwester, in ihrem Auge und in dem Klang ihrer Stimme war die gleiche ernste Innigkeit wahrnehmbar, die bei ihrer ältern Schwester die mutterlos verlebte Jugend schon längst zur Reife geführt hatte. Aber immer noch schien sie lieblicher und zarter als die andere; immer noch schien sie ihr Haupt an ihrer Schwester Brust zu legen und auf sie zu achten, und Rat und Hilfe in ihren Augen zu suchen. In diesen seelenvollen Augen, die so ruhig, so sicher und so freundlich waren, wie ehedem.
»Und als sie jetzt im Vaterhaus weilte«, las Marion aus dem Buche, »das ihr so teuer durch alle diese Erinnerungen, begann sie zu empfinden, wie die schwere Prüfung ihres Herzens bald kommen müsse und nicht weiter zu bannen sei. O Vaterhaus, unser Trost und unser Freund, wenn alle andern uns verlassen, von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab –«
»Liebe Marion!« rief Grace.
»Mein Herzblatt!« sagte der Vater, »was ist mit dir?«
Sie ergriff die Hand, die ihr die Schwester reichte, und fuhr im Lesen fort. Aber ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich bemühte, ihre Erregung zu unterdrücken.
»Von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab stets weh tut. O Vaterhaus, du immerdar treues und doch so oft von uns vernachlässigtes, sei nachsichtig gegen die, die dir untreu werden, und folge ihren irrenden Schritten nicht mit zu bitteren Vorwürfen. Laß keinen freundlichen Blick, kein Lächeln alter Zeit über deinem geistigen Antlitz aufleuchten. Laß keinen Strahl von Liebe, Milde, Langmut, Freundlichkeit von deinem hellen Haupt schimmern. Laß kein Gedenken an Liebesversicherung und Liebesglück gegen den, der dich verlassen, als Ankläger auftreten; sondern wenn dein Blick strafend und streng sein kann, dann sieh so voll Erbarmen die Reuevollen an.«
»Liebe Marion, lies heute abend nicht weiter«, sagte Grace – denn sie weinte.
»Ich kann nicht«, entgegnete sie und klappte das Buch zu. »Die Buchstaben scheinen alle zu flammen.«
Der Doktor hatte daran seinen Spaß, und er lachte, als er ihr die Wangen strich.
»Also bis zu Tränen gerührt von einem Roman!« sagte Doktor Jeddler. »Von Druckerschwärze und Papier! Nein, nein, es ist alles gleich, es ist ebenso gescheit, wie jeder andere Gegenstand. Aber wisch diese Tränen ab, wisch deine Tränen ab. Ich bin der Überzeugung, die Heldin ist längst wieder im Vaterhaus und hat sich mit allen versöhnt – und wenn sie dies nicht getan hat, so besteht womöglich ein wirkliches Vaterhaus bloß aus vier Wänden; und eines der Phantasie aus Lumpen und Tinte. Was gibt es?«
»Ich bin es, Herr«, sagte Clemency, und steckte den Kopf zur Tür herein.
»Und was hast du?« fragte der Doktor.
»Ach, lieber Himmel, ich habe nichts«, antwortete Clemency – und sie konnte recht haben, nach ihrem frischgewaschenen Gesicht zu urteilen, aus dem wie gewöhnlich die reine Quintessenz der fröhlichen Laune strahlte, wodurch sie, so wenig hübsch sie war, wirklich sympathisch wirkte. Wundgestoßene Ellbogen werden gewöhnlich nicht zu den schönen Dingen gezählt. Aber bei der Wanderung durch das Leben ist es immer besser, auf dem engen Pfad sich bloß die Arme statt die fröhliche Stimmung zu verderben, und Clemency war so munter und gesund dabei, wie jede Schöne im ganzen Lande.
»O, ich habe nichts«, sagte Clemency und trat vollends ins Zimmer, »aber kommen Sie etwas näher, Herr.«
Etwas erstaunt willfahrte der Doktor ihrem Wunsche.
»Sie sagten, ich sollte Ihnen keinen in ihrer Gegenwart geben, erinnern Sie sich«, sagte Clemency.
Ein in der Familie Fremder hätte nach ihrem seltsamen Augenzwinkern bei diesen Worten und bei der merkwürdig verzückten Bewegung ihrer Ellbogen, als ob sie sich selbst umarmen wolle, vielleicht der Meinung sein können, »keinen« bedeute, am freundlichsten ausgedeutet, einen ehrbaren Kuß. In der Tat schien der Doktor im ersten Moment selbst nicht zu wissen, was er davon halten sollte. Er gewann indessen rasch seine Fassung wieder, als Clemency, nachdem sie beide Taschen durchforscht – wobei sie mit der rechten begann, dann in der falschen wühlte und zuletzt zu der rechten wieder zurückkehrte – einen Brief herausbeförderte.
»Britain fuhr vorbei«, sagte sie und überreichte den Brief dem Doktor, »gerade als die Post ankam, und wartete darauf. Es steht A. H. in der Ecke. Ich wette, Mr. Alfred ist auf der Rückkehr begriffen. Wir bekommen eine Hochzeit im Haus – ich hatte heute morgen zwei Löffel in der Tasse. Mein Gott! wie langsam er ihn öffnet!«
Sie sprach das alles als Selbstgespräch und erhob sich in ihrer Ungeduld, die Neuigkeit zu erfahren, auf den Fußspitzen, zugleich machte sie einen Korkzieher aus ihrer Schürze und eine Flasche aus ihrem Munde. Endlich ließ sie sich, auf dem Gipfel ihrer Erwartung angelangt, indessen der Doktor mit dem Brief noch immer nicht zu Ende war, plötzlich wieder auf die Fußsohlen fallen, warf ihre Schürze als Schleier über den Kopf, von stummer Verzweiflung völlig überwältigt und nicht imstande, dies länger auszuhalten.
»Hier! Mädchen!« rief der Doktor. »Ich kann nicht anders; ich habe in meinem Leben kein Geheimnis bei mir bewahren können. Es gibt auch nicht viel Geheimnisse, die wert sind, bewahrt zu werden in dieser – aber still davon! Alfred ist auf dem Heimweg und kommt demnächst!«
»Demnächst!« rief Marion aus.
»Sieh mal an! Ist der Roman so rasch vergessen?« sagte der Doktor und kniff sie in die Wange. »Ich dachte es mir gleich, daß die Nachricht die Tränen trocknen würde. Ja! ›Ich will sie überraschen‹, schreibt er hier. Aber das geht nicht. Er muß eine Bewillkommnung erfahren.«
»Demnächst!« wiederholte Marion.
»Nun, vielleicht nicht, was deine Ungeduld demnächst nennt«, entgegnete der Doktor; »aber doch ziemlich bald. Wartet einmal! heute ist Donnerstag, nicht wahr? dann will er heute über einen Monat eintreffen.«
»Heute über einen Monat«, wiederholte Marion leise.
»Ein froher Tag und ein Feiertag für uns alle«, sagte die heitere Stimme ihrer Schwester Grace, die sie beglückwünschend küßte. »Ein lange erwarteter Tag, Liebste, und endlich sich nahend.«
Ein Lächeln war die Antwort; ein trübes Lächeln, aber voll schwesterlicher Liebe; und als sie ihrer Schwester ins Gesicht blickte und dem harmonischen Klang ihrer Stimme lauschte, wie sie die Freuden der Rückkehr weiter ausmalte, da schimmerte auch auf ihrem eigenen Antlitz Hoffnung und Freude.
Und noch etwas: ein Etwas, das mehr und mehr durch die übrigen Empfindungen hindurchdrang, und wofür ich keine Bezeichnung habe.
Es war nicht Freude, Jubel, strahlende Begeisterung. Die offenbaren sich nicht so ruhig. Es waren nicht nur Liebe und Dankbarkeit, obschon diese einen Teil davon ausmachten. Es ging aus keinem kleinlichen Gedanken hervor; denn diese leuchten nicht so auf der Stirn, brennen nicht so auf den Lippen.
Doktor Jeddler vermochte trotz seiner Philosophie – die er beständig in der Praxis leugnete, wie es bei berühmten Philosophen oft der Fall ist – nicht anders, ein ebenso großes Interesse an der Rückkehr seines alten Schülers und Mündels zu bekunden, als ob es ein bedeutsames Ereignis wäre. So setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, streckte die Füße wiederum auf den warmen Teppich aus, las den Brief noch mehrere Male durch und sprach noch viel häufiger von ihm.
»O, es gab noch eine Zeit«, sagte der Doktor und schaute ins Feuer, »als ihr beide zusammen, du, Grace und er, Arm in Arm herumlieft, wie ein paar lebende Puppen. Erinnerst du dich noch?«
»O gewiß«, antwortete sie mit heiterm Lachen und nähte wieder emsig.
»Heute über einen Monat!« sagte der Doktor nachdenklich. »Kaum ein Jahr scheint vergangen zu sein. Und wo war meine kleine Marion damals?«
»Nie weit von ihrer Schwester, so klein sie auch war«, sagte Marion; »Grace war mein Alles, auch als sie selbst noch ein Kind war.«
»Sehr richtig, mein Herzblatt, sehr richtig«, versetzte der Doktor. »Sie war eine wackere kleine Hausfrau, meine Grace, und eine gute Wirtschafterin und ein fleißiges, kluges Kind; voller Geduld für unsere Launen, immer bereit, unsern Wünschen zuvorzukommen, und die eigenen hintanzustellen; selbst damals schon. Schon damals, Grace, warst du nie verdrossen und eigenwillig, von einem einzigen Punkt abgesehen.«
»Ich befürchte, daß ich mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert habe«, lachte Grace, immer noch eifrig arbeitend. »Was war denn das für ein Punkt, Vater?«
»Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Du warst nur zufrieden, wenn man dich Alfreds Frau nannte; also nannten wir dich Alfreds Frau; und das gefiel dir besser (so merkwürdig es jetzt auch erscheinen mag), als wenn wir dir den Titel einer Herzogin verliehen hätten, wenn wir dich dazu hätten erheben können.«
»Ist es wirklich so?« sagte Grace gelassen.
»Nanu, weißt du das nicht mehr?« fragte der Doktor.
»Ich glaube, ich erinnere mich noch etwas daran«, erwiderte sie, »aber kaum. Es ist zu lange her." Und während sie nähte, summte sie den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor liebte.
»Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn. »Und das wird eine schöne Zeit für uns alle sein. Meine dreijährige Verpflichtung ist bald vorüber, Marion. Du hast es mir sehr erleichtert. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich wieder an seine Brust lege, daß du ihn die ganze Zeit innig geliebt hast und daß er nicht ein einziges Mal meiner Hilfe bedurft hat. Darf ich ihm das sagen, meine Teure?«
»Sage ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, so vornehm, so treulich erfüllt wurde; daß ich dich seit damals von Tag zu Tag immer mehr habe lieben lernen, und daß ich dich jetzt so unaussprechlich liebe!«
»Das vermag ich ihm kaum zu sagen«, versetzte ihre Schwester, sie ihrerseits umarmend, »meine Verdienste mag sich Alfreds Phantasie ausmalen. Er wird reichlich übertreiben, meine Marion: ganz wie du.«
Sie griff nun wieder zu ihrer Arbeit, die sie aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so voller Rührung zu ihr geredet, und sie summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hatte. Und der Doktor saß immer noch im Lehnstuhl, lauschte dem Lied, schlug mit Alfreds Brief den Takt dazu auf seinem Knie, schaute auf seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen Eitelkeiten der eitlen Welt diese wenigstens berechtigt waren.
Inzwischen eilte Clemency Newcome, nachdem sie ihre Botschaft erledigt und im Zimmer gewartet hatte, bis sie endlich alles wußte, wieder in die Küche, wo Mr. Britain es sich nach dem Abendessen behaglich machte, umgeben von einer so umfassenden Sammlung von blitzenden Deckeln, sauber gescheuerten Töpfen, polierten Schüsseln, glänzenden Kesseln und andern Zeugnissen ihres Fleißes an den Wänden und auf den Regalen, daß er gleichsam inmitten einer Spiegelhalle saß. Die spiegelten allerdings kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wider. Zudem waren ihre Darstellungen keineswegs gleichartig: denn manche verliehen ihm ein sehr langes Gesicht, manche ein sehr breites; manche ein ganz nettes und andere ein sehr häßliches, je nach ihrer Manier zu reflektieren, ganz wie dies die Menschen tun. Aber darin stimmten sie völlig überein, daß in ihrer Mitte ganz gemütlich ein Individuum saß, mit der Pfeife im Mund, einen Krug Bier neben sich und Clemency gnädig zunickend, als sie sich an dem gleichen Tisch niederließ.
»Nun, Clemency«, sagte Britain, »was hast du jetzt, und was gibt es Neues?«
Clemency erzählte ihm, was sie gehört, und er nahm es sehr liebenswürdig auf. Eine wohltuende Verwandlung war bei Benjamin vom Kopf bis zur Zehe erfolgt. Er war viel massiver und viel röter, viel vergnügter und viel lustiger anzusehen. Es machte den Eindruck, als ob sein Gesicht in einen Knoten zusammengebunden gewesen und jetzt aufgeknotet und ausgeplättet worden wäre.
»Das wird wohl ein neues Geschäft für Snitchey und Craggs ausmachen«, versetzte er, behäbig Rauchwolken in die Luft blasend. »Und wir werden vielleicht wieder als Zeugen antreten, Clemency!«
»Himmel!« antwortete Clemency mit der üblichen Bewegung ihrer Lieblingsgliedmaßen. »Ich wollte, ich wäre dran, Britain!«
»Was denn dran?«
»Die dran ist zu heiraten!«
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte hell auf. »Ja! Du bist ganz die Richtige dazu«, sagte er: »dummbrave Clemency!« Clemency lachte nun ebenso herzlich wie er und schien an der Idee ebensoviel Vergnügen zu finden. »Ja«, fuhr sie fort, »ich bin ganz die Richtige dazu; findest du nicht?«
»Du wirst selbstverständlich niemals heiraten«, sagte Mr. Britain und führte die Pfeife wieder zum Mund.
»Glaubst du wirklich nicht?« sagte Clemency ganz arglos.
Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Dafür bestehen keine Aussichten!«
»Aber bedenke doch!« sagte Clemency. »Nämlich: ich glaube, du wirst nächstens daran sein, Britain; nicht wahr?«
Eine so jäh gestellte Frage über eine so bedeutende Angelegenheit erforderte Überlegung. Nachdem er eine große Rauchwolke gebildet und sie, den Kopf bald auf diese bald auf jene Seite legend, beschaut halte, als wäre diese Wolke das strittige Problem, und er betrachtete sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, entgegnete Mr. Britain, daß er über die Sache noch nicht ganz im klaren sei, aber – im übrigen – er könnte sich eventuell noch dazu entschließen.
»Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück!« rief Clemency.
»O, daran wird es ihr nicht fehlen«, meinte Benjamin, »bestimmt nicht.«
»Aber sie würde nicht so glücklich sein und keinen so wirklich guten und lieben Mann haben«, meinte Clemency und legte sich halb über den Tisch, um nachdenklich ins Licht zu sehen, »wenn ich nicht gewesen wäre – nicht daß ich es beabsichtigt hätte; denn es war reiner Zufall: ist es nicht so, Britain?«
»Sicherlich«, sagte Mr. Britain, jetzt beim Vollgenuß seiner Pfeife, da der Raucher den Mund nur ein ganz klein bißchen zum Reden zu öffnen vermag und in genußreichster Ruhe in seinem Stuhl sitzt und nur imstande, seinem Gefährten die Augen zuzuwenden, und das sehr langsam und ernst. »O! ich bin dir sehr dankbar dafür, Clemency, das weißt du ja!«
»Ach, wie nett der Gedanke daran ist!« versetzte Clemency. In diesem Augenblick wurden ihre Gedanken und ihr Blick auf das Kerzenunschlitt gelenkt, und weil sie sich plötzlich an dessen Heilkraft als Wundbalsam erinnerte, salbte sie sich den linken Ellbogen ergiebig mit dem neuen Mittel.
»Du weißt, ich habe manche Untersuchung über dieses und jenes unternommen«, fuhr Mr. Britain mit der würdigen Miene eines Denkers fort, »weil ich immer wißbegierig war, und ich habe viele Bücher über die Vorzüge und Mängel der irdischen Güter gelesen; denn ich habe mich selbst in meiner Jugend mit der Literatur befaßt.«
»Wirklich!« rief die bewundernde Clemency.
»Ja«, erzählte Mr. Britain; »ich stand zwei der besten Jahre meines Lebens hinter einer Antiquarsbude und war bereit herauszustürzen, wenn jemand ein Buch in die Tasche steckte; und dann war ich Bote bei einer Putzmacherin; in diesem Amt brachte ich in Wachstuchpaketen nichts als Lug und Trug zu den Leuten. – Dadurch wurde mein Gemüt verbittert und mein Vertrauen auf die menschliche Natur zerstört; und darauf hörte ich hier in diesem Hause vielerlei Reden, die mein Gemüt noch mehr verbitterten, und nach alledem ist es meine Ansicht, daß als sicherer und freundlicher Beruhiger des Gemüts und als guter Führer durch das Leben nichts über das Muskatsieb geht.«
Clemency wollte etwas hinzufügen, aber er kam ihr zuvor. »Im Verein«, setzte er ernst hinzu, »mit einem Fingerhut.«
»Tue was du willst, und so fort, nicht wahr?« fiel Clemency ein und schlug ihre Arme voll Freude über das Geständnis übereinander und rieb sich den Ellbogen. »Ein so trefflicher Spruch, nicht wahr?«
»Ich weiß allerdings nicht«, sagte Mr. Britain, »ob man es richtige Philosophie nennen könnte. Ich habe meine Zweifel deswegen; indessen es muntert auf und erspart viel Zwistigkeiten, was bei den fachmännischen Produkten nicht immer der Fall ist.«
»Bedenke aber, wie du selbst manchmal knurrtest«, sagte Clemency.
»Ach!« sagte Mr. Britain. »Aber das Seltsamste ist, Clemency, daß du mich bekehren mußtest. Das ist das Komischste bei der ganzen Sache. Ausgerechnet du! Ich glaube, du hast keinen halben Gedanken im Kopf.«
Ohne dadurch im mindesten gekränkt zu sein, schüttelte Clemency den Kopf, lachte, umarmte sich und sagte: »Nein, ich glaube es auch nicht.«
»Ich bin dessen ziemlich sicher«, sagte Nr. Britain.
»O! ich glaube wohl, du hast recht«, meinte Clemency. »Ich mag gar keinen. Ich brauche auch keinen.«
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen kollerten. »Wie einfältig du bist, Clemency«, fügte er, über den Scherz immer noch lachend und sich die Augen wischend, hinzu.
Clemency wandte nicht das geringste ein, sondern lachte ebenso herzlich wie er.
»Aber ich habe dich trotzdem gern«, sagte Mr. Britain; »du bist ein recht gutes Mädchen auf deine Weise; so gib mir die Hand, Clemency. Was auch komme, ich will immer zu dir halten und immer dein Freund sein.«
»Wahrhaftig?«, fragte Clemency. »Nun, das ist gewiß recht schön von dir.«
»Ja, ja«, sagte Mr. Britain und hielt ihr die Pfeife zum Ausklopfen hin; »ich will dich nicht verlassen. Horch! das ist ein seltsames Geräusch!«
»Geräusch!« wiederholte Clemency.
»Fußtritte draußen. Es hörte sich an, als ob jemand über die Mauer springe.«
»Sind sie oben alle zu Bett?«
»O, jetzt sind sie alle schlafen gegangen.«
»Hörtest du nichts?«
»Nein!«
Sie horchten beide, hörten aber nichts mehr.
»Ich will dir was sagen«, meinte Benjamin und nahm eine Laterne herab; »ich will der Vorsicht halber einmal draußen die Runde gehen, bevor ich mich schlafen lege. Öffne die Tür, während ich die Laterne anzünde, Clemency.«
Clemency gehorchte schnell, merkte aber dabei, daß er sich umsonst bemühte, sich einzureden, es sei Einbildung. Mr. Britain sagte nämlich »sehr möglich«, und ging hinaus. Bewaffnet mit dem Schüreisen leuchtete er nach allen Seiten.
»Es ist so still wie auf dem Kirchhof«, sagte Clemency, als sie ihm nachblickte: »und auch fast so gräulich!« Als sie wieder in die Küche zurückschaute, schrie sie angstvoll auf, als sich ihr eine leichte Gestalt näherte. »Wer ist da?«
»Still!« flüsterte ihr Marion aufgeregt zu. »Du hast mich immer geliebt, nicht wahr?«
»Geliebt, Kind! Gewiß.«
»Ich weiß es. Und ich kann mich dir anvertrauen, nicht? Ich habe jetzt hier fast niemanden, dem ich mich anvertrauen kann.«
»Ja«, sagte Clemency herzlich.
»Es harrt jemand draußen«, sagte Marion und deutete nach der Tür, »den ich heute abend noch sehen und sprechen muß. Michael Warden, um Himmels willen, gehen Sie fort von hier! Jetzt nicht!«
Clemency schrak überrascht und beunruhigt auf, als sie dem Blick der Sprechenden folgte und eine dunkle Gestalt im Torweg stehen sah.
»Im nächsten Augenblick können Sie entdeckt sein«, sagte Marion. »Jetzt nicht! Warten Sie möglichst in einem Versteck. Ich werde gleich kommen.« Er grüßte sie mit der Hand und war verschwunden.
»Geh nicht zu Bett. Warte hier auf mich!« sagte Marion voll eiliger Hast. »Ich habe schon vor einer Stunde mit dir sprechen wollen. O, verrate mich nicht!« Marion ergriff heftig ihre Hand und drückte sie an die Brust – eine Bewegung, die in ihrer Leidenschaft mehr sprach, als das heißeste Flehen in Worten. Sodann eilte sie davon, als das Licht der zurückkehrenden Laterne die Stube zu erhellen begann.
»Alles ruhig und still. Niemand hier. Wohl Einbildung«, sagte Mr. Britain, als er die Tür zuschloß und abriegelte. »Eine von den Folgen einer lebhaften Phantasie. Heda! Nun, was ist los?«
Clemency, die ihre Aufregung nicht zu verbergen vermochte, saß blaß und am ganzen Leib zitternd auf einem Stuhl. »Was los ist?« wiederholte sie und rieb sich, nach Fassung suchend, Hände und Ellbogen, wobei sie überall hinschaute, nur nicht ihm ins Gesicht. »Das ist ja nett von dir, Britain! Erst jagst du einem einen Totenschreck ein mit Lärmen und Laternen und der Himmel weiß was sonst noch. Was los ist! Auch noch!«
»Wenn du einen Totenschreck von einer Laterne bekommst, Clemency«, sagte Mr. Britain und blies die Laterne ganz kaltblütig aus, »so läßt sich das Gespenst bald vertreiben. Aber du hast doch sonst Courage genug«, sagte er und blieb stehen, um sie zu mustern: »und warst auch erst ganz ruhig nach dem Lärm und als ich die Laterne anzündete. Was ist dir in den Kopf gefahren? Doch nicht ein Gedanke?«
Aber da ihm Clemency leidlich wie sonst gute Nacht wünschte und sich zum Schlafengehen anzuschicken schien, sagte ihr auch Klein-Britannien gute Nacht, nachdem er noch die originelle Bemerkung geäußert hatte, es könne niemand wissen, wie er mit den Weibern daran sei. Darauf nahm er sein Licht und ging schläfrigen Schritts zu Bett. Als alles still war, kam Marion zurück.
»Schließ die Tür auf«, sagte sie, »und warte dicht bei mir, während ich draußen mit ihm rede.«
So schüchtern ihre Haltung auch war, so zeigte sich an ihr doch eine Sicherheit und Unbeirrtheit des Wollens, der Clemency nicht zu widerstehen vermochte. Sie entriegelte leise die Tür, aber bevor sie den Schlüssel im Schloß umdrehte, schaute sie sich um nach der jugendlichen Gestalt, die bloß das Öffnen abwartete, um hinauszueilen. Das Gesicht war nicht abgewandt oder zu Boden gesenkt, sondern blickte sie voll an in der Blüte der Jugend und Schönheit. Eine Ahnung von der schwachen Schranke, die zwischen dem glücklichen Vaterhaus samt der ehrbaren Liebe des schönen Mädchens lag, ein Gedanke an den Schmerz in diesem Hause und die Vernichtung der schönsten Hoffnungen, zogen in Clemencys einfache Seele und trafen ihr empfindungsfähiges Gemüt so tief, daß sie in Tränen ausbrach und ihre Arme um Marions Hals schlang.
»Ich weiß nur wenig, liebes Kind«, rief Clemency, »sehr wenig: aber ich weiß, daß das nicht recht ist. Bedenken Sie doch, was Sie tun.«
»Ich habe es vielmal bedacht«, sagte Marion ruhig.
»Noch einmal«, bat Clemency. »Bis morgen!«
Marion schüttelte das Haupt.
»Um Herrn Alfreds willen«, sagte Clemency. »Um seinetwillen, den Sie einst so sehr liebten!«
Sie verhüllte ihr Antlitz mit den Händen und wiederholte: »Einst!«, als ob das Wort ihr Herz zerschneide.
»Lassen Sie mich zu ihm hinaustreten«, bat Clemency. »Ich will ihm sagen, was Sie wollen. Treten Sie nur heute nacht nicht über die Schwelle. Ich bin überzeugt, es kann nicht gut werden. Ach, es war ein Unglückstag, als Mr. Warden hierher gebracht wurde! Denken Sie an Ihren guten Vater, liebes Fräulein – an Ihre Schwester.«
»Ich habe es getan«, sagte Marion und erhob rasch den Kopf. »Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß mit ihm sprechen. Du hast dich in dem, was du gesagt hast, als meine beste und zuverlässigste Freundin vor der Welt erwiesen, aber ich muß diesen Schritt tun. Willst du mich begleiten, Clemency«, sie küßte ihr freundliches Gesicht, »oder soll ich allein gehen?«
Verwirrt und kummervoll drehte Clemency den Schlüssel im Schloß um und öffnete die Tür. Marion hielt die Hand der Gefährtin fest und schritt rasch in die schwarze Nacht hinaus. Dort trat er zu ihr, und sie sprachen leidenschaftlich und lange miteinander; und die Hand, mit der sie Clemency hielt, zitterte oder wurde kalt wie die einer Leiche, oder drückte sie innig im Feuer der Worte, die ihr willenlos entströmten. Als sie zurückkehrten, begleitete er Marion bis an die Tür; hier ergriff er die andere Hand und drückte sie an die Lippen. Dann entfernte er sich vorsichtig.
Die Tür ward wieder verriegelt und verschlossen, und wieder stand sie im Vaterhaus. Nicht niedergebeugt von dem Geheimnis, das sie heimtrug, obwohl sie noch so jung war. Mit dem gleichen Ausdruck jedoch in dem Gesicht, wofür mir schon früher der Name fehlte, und der durch ihre Tränen schimmerte. Sie dankte ihrer einfachen Freundin wiederholt und vertraute ihr, wie sie erklärte, völlig und ohne Vorbehalt. Als sie glücklich ihre Schlafkammer erreicht hatte, sank sie auf die Knie und konnte, ihr Geheimnis im Herzen, beten! Ja, sie vermochte aufzustehen vom Gebet so ruhig und glücklich, und sich über die schlummernde Schwester beugen, sie ansehen und lächeln – wenn auch traurig. Und als sie ihre Stirn küßte, murmelte sie leise vor sich hin, daß Grace ihr immer eine Mutter gewesen, und daß sie an ihr hinge wie ein Kind. Und sie konnte den willenlosen Arm sich um den Hals schlingen, als sie auf das Kissen sank – und der Arm schien sie selbstbewußt mit Schutz und Liebe festzuhalten, und die zarten Lippen schienen zu hauchen: Gott segne dich! Und sie konnte selbst ruhig einschlafen, nur von einem Traum gestört, in dem sie mit ihrer unschuldigen und ergreifenden Stimme rief, daß sie ganz allein sei und alle sie vergessen hätten. Ein Monat zieht bald vorüber, selbst wenn er langsam dahinzieht. Der Monat, der zwischen dieser Nacht und der Rückkehr lag, zog schnell vorbei und glitt dahin wie ein Nebelhauch.
Der Tag erschien. Es war ein stürmischer Wintertag, der das alte Haus manchmal erschütterte, als friere es. Ein Tag, wie er den heimischen Herd doppelt lieb macht, wie er der Ecke am Kamin neue Anziehungskraft verleiht, einen rötlichen Glutschimmer auf die um die Feuerstätte gereihten Gesichter wirft, und die Gruppen um jeden Kamin einen engeren und innigeren Bund gegen die tobenden Gewalten draußen schließen läßt. Ein rauher Wintertag, wie er am besten auf die ausgesperrte Nacht, auf zugezogene Fenster, freundliche Gesichter, Musik, Lachen, Tanz, Lichterfülle und geselliges Vergnügen vorbereitet!
Für all das hatte der Doktor gesorgt, um Alfred willkommen zu heißen. Sie wußten, daß er erst in der Nacht eintreffen konnte; und sie wollten die Nacht von Jubel widerhallen lassen, erklärte er, wenn er käme. Alle seine Freunde sollten versammelt sein. Kein Gesicht, das er gekannt und geliebt, sollte fehlen. Nein: sie sollten alle zugegen sein. Also wurden die Gäste eingeladen, eine Kapelle bestellt, Tafeln bereitet, der Tanzsaal hergerichtet und mit verschwenderischer Gastlichkeit für alle geselligen Wünsche gesorgt. Weil es Weihnachten war, und seine Augen nicht mehr die englische Stechpalme und ihr dunkles, immerwährendes Grün gewohnt waren, war der Tanzsaal damit ausgeschmückt. Die roten Beeren winkten aus der dunklen Laube einen heimatlichen Willkommengruß zu. Es war ein arbeitsreicher Tag für alle, jedoch für niemanden so sehr wie für Grace, die allenthalben still nach dem Rechten sah und die heitere Seele aller Vorbereitungen war. Oftmals schaute an diesem Tag (wie vielmal während des Monats, der ebenso schnell vergangen war) Clemency ängstlich forschend Marion an. Sie war vielleicht etwas blässer als sonst. Aber auf ihrem Antlitz lag eine freundlich sichere Ruhe, die es lieblicher als je machte.
Abends, als sie angekleidet war und in ihrem Haar einen Kranz trug, den Grace selbst hineingeflochten – es waren Alfreds Lieblingsblumen, und darum hatte Glace sie ausgesucht – lag jener bekannte Ausdruck, besinnlich, fast bekümmert, und doch so durchgeistigt, edel und rein wieder über ihrer Stirn und ließ die ganze Erscheinung noch hundertmal anmutsvoller aussehen.
»Der nächste Kranz, den ich in dein Haar flechte, ist der Brautkranz«, sagte Grace; »oder ich bin keine gute Prophetin.«
Ihre Schwester lächelte und umschlang sie mit ihren Armen.
»Noch einen Augenblick, Grace. Verlaß mich noch nicht. Weißt du sicher, daß mir nichts mehr fehlt?«
Sie verstand Marions Anspielung nicht recht. Sie dachte an das Gesicht ihrer Schwester, und ihr Blick ruhte mit zärtlicher Innigkeit über ihr.
»Meine Kunst kann nicht weitergehen, teures Kind«, sagte Grace; »und auch nicht deine Schönheit. Ich habe dich nie so schön gesehen wie jetzt.«
»Ich fühlte mich nie so glücklich«, entgegnete diese.
»Ja, aber größeres Glück harrt noch auf dich. An einem andern solchen Herd, ebenso freundlich und anheimelnd wie dieser hier«, sagte Grace, »werden bald Alfred und seine junge Frau hausen.«
Sie lächelte wieder. »Du denkst dir ein glückliches Heim, Grace. Ich sehe es deinen Augen an. Ich weiß es, daß es glücklich sein wird, Liebe. Wie fröhlich bin ich, das zu wissen!«
»Nun«, sagte der Doktor, geschäftig eintretend. »Sind wir alle fertig, um Alfred zu empfangen? Er kann erst ziemlich spät eintreffen – etwa eine Stunde vor Mitternacht – so haben wir Zeit genug, um vor seiner Ankunft in Stimmung zu kommen. Er soll nicht erscheinen, bevor das Eis gebrochen ist. Schüre das Feuer, Britain! Laß es auf die Stechpalme leuchten, bis sie glüht. Es ist eine Welt der Narrheit, meine guten Kinder, Liebhaber, – alles andere – lauter Unfug. Jedoch wir wollen mit den andern Menschen töricht sein und unserm treuen Liebhaber einen ausgelassenen Willkommen geben. Wahrhaftig!« sagte der Doktor und blickte seine Töchter mit stolzer Freude an, »ich glaube heute abend beinahe neben anderer Narrheit, daß ich Vater von zwei hübschen Töchtern bin.«
»Und alles, was die eine je begangen hat und noch begehen kann, um dir Schmerz zu bereiten, lieber Vater«, sagte Marion, »das vergib ihr jetzt, wo ihr Herz voll ist. Sage, daß du ihr vergibst. Daß du ihr vergeben wirst. Daß du ihr immer deine Liebe erhalten wirst, und« – sie brach ab und barg ihr Gesicht an des alten Mannes Brust.
»Kind, Kind!« sagte der Doktor sanft. »Vergeben! Was soll ich denn vergeben? Wahrhaftig, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkehren, um uns solche Szenen zu bereiten, dann müssen wir sie uns vom Leibe halten. Wir müssen ihnen Sendboten entgegensenden und sie nur eine Stunde für den Tag reisen lassen, bis wir gehörig vorbereitet sind, um sie zu empfangen. Küsse mich, mein Herzblatt. Vergeben! Was für ein einfältiges Kind du bist. Wenn du mich fünfzigmal des Tages geärgert hättest, statt gar nicht, so würde ich dir alles vergeben, nur nicht eine solche Bitte. Küsse mich, mein Herzblatt! Also: in Vergangenheit und Zukunft – reine Rechnung zwischen uns. Schürt das Feuer an! Sollen die Leute in der kalten Dezembernacht erfrieren? Laßt es licht und warm und heiter sein, oder ich vergebe gewissen Leuten gewiß nicht!«
So guter Dinge und vergnügt war der Doktor. Und das Feuer wurde angeschürt, die Lichter brannten hell; die Gäste kamen, ein frohes Durcheinander hob an, und schon herrschte ein angenehmer Ton festlicher Erregung im ganzen Hause. Immer mehr Gäste kamen an. Helle Augen grüßten Marion. Lächelnde Lippen wünschten ihr Glück. Erfahrene Mütter spielten mit dem Fächer und hofften, sie möge nicht zu jung und leichten Sinnes für das häusliche Leben sein. Temperamentvolle Väter fielen in Ungnade, weil sie ihre Schönheit zu sehr bewunderten. Töchter beneideten sie. Söhne beneideten ihn. Ungezählte verliebte Paare machten sich die Gelegenheit zunutze; alle waren voll Beteiligung, Aufregung und Erwartung.
Mr. Craggs und Mrs. Craggs erschienen Arm in Arm, aber Mrs. Snitchey erschien allein. »Mein Gott, wo haben Sie Ihren Mann?« fragte der Doktor.
Der Paradiesvogel auf Mrs. Snitcheys Turban bebte, als ob er wieder lebendig geworden wäre, und sie sagte, daß es jedenfalls Mr. Craggs wisse. Ihr teilten sie es ja nie mit.
»Das garstige Bureau«, sagte Mr. Craggs.
»Ich wollte, es würde bis auf den Grund niederbrennen«, seufzte Mrs. Snitchey.
»Er ist – er ist – eine kleine geschäftliche Angelegenheit hält meinen Sozius etwas auf«, sagte Mr. Craggs und sah sich beunruhigt um.
»Ach was, geschäftliche Angelegenheit. Machen Sie mir das nicht weis!« begann Mrs. Snitchey.
»Wir wissen, was es heißt, geschäftliche Angelegenheit«, sagte Mrs. Craggs.
Aber daß sie es nicht wußten, war vielleicht die Ursache, weshalb Mrs. Snitcheys Paradiesvogel so unheilverkündend bebte und alle einzelnen Teile von Mrs. Craggs' Ohrringen wie kleine Schellen läuteten.
»Es wundert mich, daß du kommen konntest, Craggs«, meinte seine Frau.
»Mr. Craggs ist darob glücklich, sicherlich«, sagte Mrs. Snitchey.
»Das Bureau nimmt sie so in Anspruch«, sagte Mrs. Craggs.
»Jemand, der ein Geschäft hat, darf eigentlich gar nicht heiraten«, sagte Mrs. Snitchey.
Dann stellte Mrs. Snitchey für sich fest, daß der Blick, mit dem sie dies gesagt, Craggs ins tiefste Herz getroffen habe und daß er dies empfinde. Mrs. Craggs aber meinte zu ihrem Gatten, daß Snitchey ihn hinter dem Rücken betrüge, und daß er das erkennen werde, wenn es zu spät sei.
Aber Mr. Craggs blickte sich, ohne diese Bemerkungen sehr zu beachten, noch immer beunruhigt um, bis sein Blick Grace begegnete, die er alsbald begrüßte.
»Guten Abend, Ma'am«, sagte Craggs. »Sie sehen entzückend aus. Ihre – Fräulein – Ihre Schwester, Fräulein Marion ist –«
»O, sie ist ganz munter, Mr. Craggs.«
»Ja – ich – ist sie hier?« fragte Craggs.
»Hier! sehen Sie sie dort nicht? Sie tritt eben zum Tanz an«, sagte Grace.
Mr. Craggs setzte die Brille auf, um besser zu sehen; musterte Marion eine Weile. Dann räusperte er sich und steckte die Brille mit zufriedener Miene wieder ins Futteral und in die Tasche.
Jetzt erklang die Musik und der Tanz hob an. Das helle Feuer prasselte lustig und sprang, als ob es vor lauter Freude selber mit tanzen wollte. Zuweilen knisterte es, als wollte es auch musizieren. Dann wieder strahlte und glühte es, als wäre es das Auge des alten Zimmers, und manchmal zwinkerte dies Auge pfiffig, wie ein ausgelassener Alter, wenn er die Jugend in den Ecken miteinander tuscheln sieht. Manchmal kokettierte es mit den Stechpalmenzweigen; und wenn sein flimmernder Schein auf die dunkeln Blätter fiel, schien es, als ständen diese wieder draußen in der kalten Winternacht und wurden gezaust vom Winde. Manchmal ward seine Stimmung ganz wild und ausgelassen und übersprang alle Grenzen. Dann verpustete es laut lachend mitten unter die Tanzenden einen Regen harmloser Funken und schwang sich laut jubelnd den alten Schornstein empor. Ein zweiter Tanz war fast vorüber, da ergriff Mr. Snitchey seinen zuschauenden Sozius beim Arm.
Mr. Craggs zuckte zusammen, als wäre sein Freund ein Geist.
»Ist er fort?« fragte er.
»Pscht!« sagte Snitchey. »»Er hat länger als drei Stunden bei mir verweilt. Er überprüfte alles und nahm es sehr gründlich. Er – hm!«
Der Tanz war vorbei. Marion schritt dicht an ihm vorüber, als er redete. Sie achtete weder auf ihn noch seinen Sozius, vielmehr sah sie sich nach ihrer Schwester im Hintergrunde des Saales um, als sie langsam durch das Gewimmel schritt und ihren Blicken entschwand.
»Sehen Sie, alles gut und in Ordnung«, sagte Mr. Craggs. »Er sprach nicht mehr davon, denke ich?«
»Kein Wort.«
»Und ist er wirklich weg? Und ohne Gefahr?«
»Er hält sein Wort. Er fährt in seiner Nußschale bei Ebbe stromabwärts und segelt vor dem Wind in dieser dunklen Nacht zum Meer. Ein Abenteurer ist er einmal. Es gibt sonst nirgends eine so verlassene Reederei. Das ist ihm gleich. Die Ebbe tritt gegenwärtig eine Stunde vor Mitternacht ein, meinte er. Ich bin froh, daß es vorüber ist.« Mr. Snitchey wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, das ganz rot und erregt ausschaute.
»Was halten Sie«, sagte Craggs, »von der –«
»Still!« warnte sein vorsichtiger Sozius und blickte geradeaus. »Ich verstehe Sie. Nennen Sie keinen Namen und lassen Sie sich nicht merken, daß wir von Geheimnissen reden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll; und um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, es ist mir jetzt auch gleichgültig. Mir ist es eine wirkliche Erleichterung. Ich glaube, seine Eitelkeit täuschte ihn. Vielleicht war auch das Mädchen ein wenig kokett. Es scheint fast so. Ist Alfred da?«
»Noch nicht«, sagte Mr. Craggs, »er wird aber jeden Augenblick erwartet.«
»Schön.« Mr. Snitchey trocknete sich die Stirn von neuem. »Es ist eine große innere Befreiung. Ich bin noch nicht so unruhig gewesen, seitdem wir zusammen arbeiten. Ich möchte nun den Abend genießen, Mr. Craggs.«
Mrs. Craggs und Mrs. Snitchey traten zu ihnen, als er diese Absicht äußerte. Der Paradiesvogel war in großer Erregung: und die Glöckchen läuteten vernehmlich.
»Es ist allgemein darüber geredet worden, Mr. Snitchey«, sagte Mrs. Snitchey. »Ich hoffe, das Geschäft ist befriedigt.«
»Womit befriedigt, meine Beste?« fragte Mr. Snitchey.
»Daß ein wehrloses Weib dem Spott und der Rederei der Welt ausgesetzt worden ist«, erwiderte seine Frau. »Das liegt aber völlig in der Natur des Geschäfts, das ist ganz klar.«
»Ich bin schon so lange daran gewöhnt«, fuhr Mrs. Craggs fort, »das Geschäft mit allem, was das häusliche Glück verdirbt, verbündet zu sehen, daß ich schon zufrieden bin, es als den ehrlichen Feind meiner Ruhe zu erkennen. Das ist doch wenigstens offen und ehrlich.«
»Liebe Frau«, versetzte Mr. Craggs, »deine werte Meinung in allen Ehren! Aber ich habe doch nie behauptet, daß das Geschäft der Feind deiner Ruhe sei.«
»Nein«, entgegnete Mrs. Craggs und schüttelte ihre Glöckchen, »Nein, du natürlich nicht. Du würdest dich ja des Geschäfts nicht würdig erweisen, wenn du so aufrichtig wärest.«
»Was mein langes Bleiben heute abend anbelangt, meine Beste«, sagte Mr. Snitchey und nahm seine Frau am Arm, »so war das Mißgeschick allein auf meiner Seite; aber, wie Mr. Craggs weiß –«
Mrs. Snitchey ließ ihn das Kompliment nicht zu Ende ausreden; denn sie zog ihren Gatten zur Seite und verlangte von ihm, diesen Menschen anzusehen. Ihr den Gefallen zu tun, ihn anzusehen.
»Wen, liebe Frau?« fragte Mr. Snitchey.
»Den Verbündeten deines Lebens; das bin ich dir freilich nicht, Mr. Snitchey«, seufzte Mrs. Snitchey.
»Aber, ich bitte dich, liebe Frau«, beruhigte ihr Gatte.
»Nein, nein«, sagte Mrs. Snitchey mit erhabenem Lächeln. »Ich kenne meine Stellung. Sieh ihn an, den Verbündeten deines Lebens; dein Musterbild, den Bewahrer deiner Geheimnisse; den Mann, dem du vertraust; dein zweites Selbst –«
Dem Blicke seiner Frau folgend, sah Snitchey nach seinem Sozius hin.
»Wenn du heute abend diesem Menschen in die Augen blicken kannst«, sprach Mrs. Snitchey weiter, »und nicht weißt, daß du belogen und betrogen bist; daß du ein Opfer seiner Hinterhalte, ein Knecht seines Willens geworden bist durch einen rätselhaften Zauber, vor dem ich dich umsonst gewarnt habe, so kann ich nur sagen: du tust mir leid!«
Im gleichen Augenblick ließ Mrs. Craggs eine Standpauke los. Wie es nur möglich sei, fragte sie, daß er seinem Snitchey so blind zu trauen vermöchte? Ob er etwa behaupten wolle, er habe Snitchey nicht hereinkommen und in seinem Gesicht nicht Hinterlist, Tücke und Verrat harren sehen? Ob er leugnen wolle, daß schon die Manier, wie er sich die Stirn trockne und scheu um sich schaue, verrate, daß etwas schwer auf seines Snitcheys Gewissen drücke, wofern sein Snitchey überhaupt ein Gewissen habe? Ob etwa andere Leute auch wie sein Snitchey zu festlichen Abenden wie Einbrecher ins Haus einfielen? – was übrigens kaum ein passender Vergleich war, denn er war sehr leise zur Tür eingetreten. Und ob er wirklich am hellen lichten Tage (es war beinahe Mitternacht) so hartnäckig dabei beharren wolle, seinen Snitchey entgegen allen offenbaren Tatsachen, aller Vernunft und Weltkenntnis noch zu verteidigen und in Schutz zu nehmen?
Weder Snitchey noch Craggs hielten es für ratsam, sich dem Strom dieses Zornes offen zu widersetzen. Vielmehr begnügten sie sich damit, sich in diesem treiben zu lassen, bis seine Kraft abgeebbt war; und das geschah in demselben Augenblick, als man zu einem neuen Tanz antrat. Diese Gelegenheit nutzte Mr. Snitchey aus, um Mrs. Craggs um ihre Hand zu bitten, während Mr. Craggs so viel Kavalier war, Mrs. Snitchey aufzufordern. Die Damen willigten auch nach einigen nichtigen Ausflüchten, wie: »Warum fordern Sie nicht eine andere auf?« oder: »Ich weiß, Sie würden froh sein, wenn ich es ausschlage«, oder: »Mich wundert es, daß Sie auch außerhalb des Bureaus tanzen können« (dies schon scherzend), gnädig ein und traten an.
Es war diese wechselweise Höflichkeit bei den beiden Familien ein alter Brauch. Sie waren nämlich alle sehr befreundet miteinander und lebten im Tone vergnügter Vertraulichkeit. Vielleicht war der falsche Craggs und der böse Snitchey bei den Damen nur eine Rechtsfiktion, wie Cajus und Sempronius in den Akten der beiden Ehemänner; oder die beiden Damen hatten diese beiden Akten im Geschäft selbst hergestellt und gefördert, bloß um nicht gänzlich ausgeschlossen zu sein. So viel ist jedenfalls sicher, daß jede der beiden Damen ihr Fach ebenso eifrig und stetig betrieb, wie ihr Mann das seine, und daß jede eine glückliche Entwicklung der Firma ohne ihre lobenswerten Anstrengungen fast für gänzlich ausgeschlossen gehalten hätte.
Aber jetzt schwebte der Paradiesvogel in der Mitte herab; und die Glöckchen fingen an zu nicken und zu klingeln; und das rote Gesicht des Doktors drehte sich rundherum, wie ein glänzend gefirnißter Kreisel mit einem Menschengesicht. Der außer Atem geratene Mr. Craggs begann schon zu zweifeln, daß das Tanzen wie das übrige Leben den Menschen zu leicht gemacht worden. Mr. Snitchey aber tanzte mit muntern Sprüngen für sich selbst, für Craggs und für ein halbes Dutzend andere Leute.
Und auch das Feuer faßte frische Lust und loderte heller auf, angefeuert von dem Zug, den der Tanz hervorbrachte. Es war der Genius des Zimmers und überall vorhanden. Es glänzte in den Augen der Männer, schimmerte in den Juwelen am weißen Busen der Mädchen, gaukelte um ihre Ohren, als ob es ihnen neckisch etwas zuraune, erleuchtete den Fußboden und bereitete zu ihren Füßen einen rosigen Teppich, er glänzte und spiegelte und entflammte eine große Illumination in Mrs. Craggs' kleinem Glockenturm. ... und der Tanz bewegte sich in fröhlicherem Takt. Und jetzt wurde die Luft, die es anfachte, frischer. Die Musik wurde fröhlicher, und der Tanz bewegte sich in lebhafterem Takt. Ein Wehen erhob sich, das die Blätter und Beeren an den Wänden sich wiegen machte, wie früher im Freien. Ein Rauschen ging durch das Zimmer, als ob eine unsichtbare Schar Elfen den irdischen Tänzern auf den Fersen folgte. Nun konnte kein Zug von dem Gesicht des Doktors erkannt werden, wie er sich rundherum drehte. Jetzt sah es aus, als ob ein Dutzend Paradiesvögel durchs Zimmer flögen und tausend kleine Glöckchen erklängen. Jetzt ward ein Geschwader wehender Kleider im Sturm dahin getrieben, als die Musik verklang und der Tanz sein Ende hatte.
Der Doktor fühlte sich erhitzt und außer Atem, so daß er nur noch ungeduldiger auf Alfreds Kommen ward.
»Hast du etwas erblickt, Britannien, etwas gehört?«
»Es ist zu finster, um weit zu schauen, Herr, und zu viel Lärmen im Hause, um etwas hören zu können«, antwortete der Diener.
»Das ist richtig! Um so lustiger der Willkomm. Wie spät ist es?«
»Punkt zwölf, Herr. Er kann nicht lange mehr verziehen, Herr.«
»So frische das Feuer auf und wirf noch einen Kloben dazu«, sagte der Doktor. »Sein Willkomm soll ihm durch die Nacht entgegenglänzen, je näher er kommt!«
Er schaute es – ja! Aus seinem Wagen bemerkte er den Schein, da er um die Ecke bei der alten Kirche fuhr. Er kannte das Zimmer, aus der er strahlte. Er sah die nächsten Zweige der ihm wohlbekannten Bäume zwischen dem Leuchten und sich. Er wußte, daß einer dieser Bäume in sommerlichen Tagen hold vor Marions Fenster rauschte.
Tränen traten ihm ins Auge. Sein Herz klopfte so stark, daß er kaum sein Glück auszuhalten vermochte. Wie oft hatte er dieser Epoche gedacht, sie sich vorgestellt in allen ihren Umständen – gebangt, daß sie doch nicht erscheinen würde, und danach verlangt und sich gesehnt, fern, fern von hier!
Wieder der Glanz! Deutlich und weithin leuchtend, entzündet, wie er wußte, um ihn willkommen zu heißen und um ihm nach dem alten Haus zu leuchten. Er winkte mit der Hand, schwenkte den Hut und begrüßte sie mit Zurufen, als ob sie die Glut wären und als ob sie ihn schauen und hören könnten, wie er jauchzend ihnen auf der Straße entgegenfuhr.
Doch halt! Er kannte den Doktor und vermutete, was dieser getan hatte. Er sollte sie nicht überraschen. Und doch konnte er dies, wenn er nämlich zu Fuß auf das Haus zuschritt. Wenn die Gartentür geöffnet stand, so konnte er dort hinein. Wenn dies nicht der Fall war, so war die Mauer bald überklettert; das wußte er von früher her, und er hätte in einem Augenblick unter ihnen gestanden.
Er stieg aus dem Wagen und befahl dem Kutscher – selbst dies fiel ihm nicht leicht in seiner Erregung – ein paar Minuten zu warten und ihm dann langsam nachzufahren. Darauf eilte er schnell voraus, versuchte, ob die Tür offen war, kletterte über die Mauer, sprang auf die andere Seite herab und stand schweratmend in dem alten Obstgarten.
Es lag ein heller Reif auf den Bäumen, der in dem matten Licht des umwölkten Mondes an den dünnen Zweigen gleich welken Girlanden hing. Dürres Laub raschelte unter seinem Schritt, als er leise auf das Haus zuschlich. Die Winternacht starrte in ihrer ganzen Öde auf die Erde und erschien ebenso am Himmel. Aber der rote Glanz leuchtete ihm freundlich aus den Fenstern entgegen: Gestalten bewegten sich an ihm vorbei, und das Brausen menschlicher Stimmen traf angenehm sein Ohr.
Bemüht, ihre Stimme aus den übrigen herauszuhören und schon zur Hälfte der Überzeugung, daß er sie wirklich höre, hatte er fast schon die Tür erreicht, als sie jäh geöffnet ward und eine Gestalt ihm entgegentrat. Sie wich erschrocken und mit unterdrücktem Ruf zurück.
»Clemency«, sagte er, »kennst du mich nicht mehr?«
»Kommen Sie nicht herein!« sagte sie und suchte ihm den Eintritt zu verwehren. »Gehen Sie fort. Fragen Sie nicht weshalb. Kommen Sie nicht herein!«
»Was ist denn?« rief er aus.
»Ich weiß es nicht. Es graut mir, daran zu denken. Eilen Sie von hinnen. Hören Sie?«
Ein Lärm erhob sich im Hause. Sie hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Ein Verzweiflungsruf, so gellend, daß keine Hand das Ohr absperren konnte, erscholl; und Grace – Entsetzen in Gesicht und Haltung – stürzte aus dem Hause.
»Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist los? Ist sie tot?«
Sie machte sich frei, als wollte sie ihm ins Gesicht schauen, und sank bewußtlos vor ihm zu Boden.
Eine Anzahl Menschen kam aus dem Hause gerannt. Darunter der Vater, der ein Papier in der Hand hielt.
»Was gibt es?« stöhnte Alfred und wandte seinen Blick verzweifelt von Gesicht zu Gesicht, indessen er neben der Ohnmächtigen kniete. »Will mich niemand anblicken? Will niemand mit mir sprechen? Kennt mich denn niemand? Ist keine Lippe vorhanden, die mir verrät, was passiert ist?«
Ein Geraune ward hörbar: »Sie ist fort!«
»Fort!« wiederholte er.
»Geflüchtet, lieber Alfred!« sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Geflüchtet aus dem Vaterhaus. Heute nacht! Sie sagt, sie hätte selbständig und einwandfrei gewählt – bittet, wir möchten ihr verzeihen – und ist geflüchtet.«
»Mit wem? Wohin?« fragte er hastig unterdrückt.
Er sprang auf, als ob er ihr folgen wollte. Aber als sie ihm aus dem Weg wichen, sah er verstört um sich, wankte ein paar Schritte zurück und sank wieder nieder. Er blieb neben Grace knien und ergriff eine ihrer kalten Hände.
Große Verwirrung und Aufregung hatten Platz gegriffen, aber ohne Sinn und Ziel. Einige eilten auf verschiedenen Straßen nach, andere holten Pferde oder Fackeln herbei, andere redeten laut miteinander und wandten ein, daß man nicht die geringste Spur hätte. Einige traten auf ihn zu und versuchten ihn zu trösten. Andere bedeuteten ihm, daß Grace in das Haus geschafft werden müsse, aber er duldete es nicht. Er hörte auf niemanden und rührte sich nicht.
Der Schnee fiel immer dichter. Er sah einmal zum Himmel empor und dachte bei sich, daß diese weiße Asche, die über sein Hoffen und sein Leid gestreut ward, ihr gut stehe. Er schaute umher auf dem weißen Erdboden und dachte daran, daß die Spur von Marions Fuß, kaum eingedrückt, wieder verdeckt werde, und selbst dieses Gedenken an sie nicht von Dauer sein würde. Bei alledem spürte er nichts von dem Wetter und bewegte sich nicht von der Stelle.




Dritter Teil


Die Welt war seit dieser Nacht der Rückkehr sechs Jahre älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag und es hatte stark geregnet. Die Sonne schien plötzlich durch die Wolken, und das alte Schlachtfeld glänzte bei ihrem Anblick von einem grünen Fleck her aufleuchtend, strahlte ihr einen Willkommensgruß entgegen. Dieser Gruß dehnte sich über das ganze Land aus, als ob man ein Freudenfeuer angezündet hätte, das von tausend Höhen her seine Antwort fände.
Wie schön und herrlich die Landschaft in dem Licht leuchtete! Der Wald, vorher eine dunkle, schwarze Materie, zeigte sein buntes Gewand aus Gelb, Grün, Braun, Rot und seine verschiedenen Gestalten der Bäume, an deren Blättern Regentropfen zitterten und funkelnd herniederfielen. Die sonnige Wiese sah aus, als sei sie noch vor einer Minute blind gewesen und hatte jetzt das Sehvermögen gefunden, mit dem sie zum strahlenden Himmel emporschaute. Getreidefelder, Hecken, Hütten, dichtgedrängte Dächer, der Kirchturm, der Bach, die Mühle, alles leuchtete lächelnd aus der nebligen Dämmerung hervor. Die Vögel sangen erfreulich, die Blumen richteten ihre gesenkten Häupter auf, frische Düfte stiegen aus dem neuerquickten Boden herauf. Die blauen Himmelstreifen aber wurden größer und breiter. Bald erreichten die schrägen Strahlen der Sonne mit unwiderstehlichem Pfeil die vorgelagerte Wolkenwand, die noch zu fliehen zauderte; und ein Regenbogen, ein Inbegriff aller Farben, die Erde und Himmel zierten, wölbte sich im Triumph über den ganzen Horizont.
In solch einer abendlichen Stunde zeigte eine kleine Schenke an der Straße, hübsch verborgen unter einer großen Ulme mit einer herrlichen Sitzbank um den dicken Stamm, ihr freundliches Äußere dem Reisenden, wie es sich für eine Gastwirtschaft schickt, und lockte ihn mit mancher stummen, aber inhaltsvollen Zusage eines freundlichen Empfangs. Das rotbraune Schild nahm sich mit seinen goldenen, in der Sonne leuchtenden Buchstaben in dem dunkeln Laube des Baumes wie ein fideles Gesicht aus und verhieß gute Bewirtung. Die Tiertränke voll reinen Wassers und auf dem Erdboden davor einige Halme duftenden Heues ließen jedes Pferd, das vorbeikam, die Ohren spitzen. Die roten Vorhänge in den Zimmern des Erdgeschosses und die blütenweißen Gardinen in dem kleinen Schlafkabinett droben winkten mit jedem Lüftchen: Hereinspaziert! Auf den frischgestrichenen grünen Schildern stand mit goldenen Lettern zu lesen von Bier und Ale, guten Weinen und guten Betten, und daneben hing ein ergreifendes Bild von einer braunen überschäumenden Trinkkanne. Auf den Fensterbrettern prangten Blumen in ziegelroten Töpfen, die sich sehr fröhlich von der weißen Front des Hauses abhoben. In dem schattigen Torweg aber entdeckte man noch einzelne Streifen Licht, die um die blitzenden Flaschen und Zinnkrüge spielten.
In der Tür tauchte jetzt ein Musterbild von einem Wirt auf. Wenn er nämlich auch klein war, so war er doch voll und umfangreich und stand da, mit den Händen in den Taschen und die Beine gerade so weit auseinandergestellt, daß er dadurch volle Zuversicht auf seinen Keller und unbekümmertes Vertrauen – zu sicher und anspruchslos, um als Prahler zu wirken – auf die sonstigen Freuden des Gasthofs auszudrücken vermochte. Das schwere Naß, das von jedem Dinge nach dem starken Regen herniedertropfte, stand ihm recht gut. Nichts rund um ihn war durstig. Einige Dahlien mit schwerem Kopf, die über den Zaun des gutgepflegten Gärtchens lugten, hatten so viel getrunken, wie sie nur vertragen konnten – vielleicht sogar etwas mehr – und waren vom erquickenden Tranke schwer; aber die Hagebutten, der Lack, die Blumen im Fenster und das Laub des alten Baumes waren in der behaglich heitern Stimmung von Leuten, die nur so viel getrunken, wie ihnen bekommt; nämlich gerade so viel, daß sie damit ihre besten Eigenschaften zur Entwicklung bringen konnten. Während sie klare Tropfen auf den Boden sprengten, schienen sie reichlich linde Luft zu spenden, die Gutes erwirkte, wohin sie vordrang, verkümmerte Winkel traf, in die der ernsthaftere Regen nur selten gelangte, und niemandem weh tat.
Dieser ländliche Gasthof hatte bei seiner Gründung ein außergewöhnliches Wahrzeichen angenommen. Er hieß »Zum Muskatsieb«. Unter diesem Namen stand auf demselben roten Schild im dunkeln Laub und mit den gleichen goldenen Buchstaben: Benjamin Britain.
Auf einen zweiten Blick und bei genauerer Betrachtung des Gesichts erkannte man, daß niemand anders als Benjamin Britain selbst in der Tür stand – ziemlich gewandelt, aber zu seinem Vorteil; ein recht ansehnlicher und netter Wirt.
»Mrs. Britain«, bemerkte Mr. Britain und sah die Straße hinab, »bleibt etwas lange. Es ist Teestunde.«
Weil noch keine Mrs. Britain zu sehen war, bummelte er langsam bis zur Mitte der Straße und sah sich sehr befriedigt das Haus an. »Es schaut ganz wie das Haus aus«, sagte Benjamin, »in dem ich einkehren würde, wenn es nicht mir gehörte.«
Dann ging er nach dem Gartenzaun und musterte die Dahlien. Sie blickten ihn an, müde und schläfrig mit hängenden Köpfen, die stets nickten, wenn die schweren Regentropfen von ihnen zur Erde fielen.
»Für euch muß gesorgt werden«, sagte Benjamin. »Ich darf nicht vergessen, sie darauf aufmerksam zu machen. Sie verweilt lange.«
Mr. Britains bessere Hälfte schien in so hohem Maß seine bessere Hälfte zu sein, daß er ohne sie hilflos und aufgegeben war.
»Sie hat nicht viel zu erledigen, glaube ich«, sagte Ben. »Es waren ein paar Einkäufe auf dem Markt zu besorgen, aber nicht viel. O! da erscheinen wir endlich!«
Ein Sitzwagen, gelenkt von einem Burschen, kam die Straße daherkutschiert; und drinnen, einen mächtigen, tüchtig nassen Regenschirm hinter sich zum Trocknen aufgespannt, saß die rundliche Gestalt einer Dame reifen Alters, die bloßen Arme über einem Korb, den sie auf den Knien hielt, gekreuzt, und verschiedene andere Körbe und Pakete um sich. Das gefällige, gutmütige Gesicht und eine gewisse behagliche Widerstandslosigkeit, wie sie von den Erschütterungen des Wagens auf ihrem Sitze hin und her geworfen wurde, erinnerten schon von weitem an alte Zeiten. Als sie näherkam, zeigte sich dies nicht minder; und als der Wagen vor dem Gasthof haltmachte und ein paar Schuhe, aus dem Wagen steigend, schnell durch Mr. Britains geöffnete Arme schlüpften und mit wichtigem Nachdruck den Boden berührten, erkannte man sofort, daß diese Schuhe niemandem anders als Clemency Newcome gehören konnten.
Und dies war auch in der Tat der Fall. Da steht sie denn vor uns, eine gesunde dralle Seele; mit so viel Seifenglanz auf dem Gesicht wie ehedem, nur mit heilen Ellbogen, die jetzt beinahe Grübchen zeigten.
»Du warst lange fort, Clemency!« sagte Mr. Britain.
»Ja, sieh mal an, Ben, ich hatte sehr viel zu besorgen!« antwortete sie und beaufsichtigte emsig das Hineinschaffen ihrer Körbe und Pakete; »acht, neun, zehn – wo ist elf? O! mein Korb elf! es stimmt. Bring das Pferd in den Stall, Harry, und wenn es wieder hustet, so verabfolge ihm heute abend ein warmes Futtergemenge. Acht, neun, zehn. Nun, wo ist elf? Ach, ich vergaß, es ist schon gut. Was machen die Kinder, Ben?«
»Frisch und munter, Clemency.«
»Gott beschütze ihre lieben Häupter!« sagte Mrs. Britain und setzte den Hut ab (denn sie und ihr Mann waren jetzt in der Gaststube ) und strich sich das Haar mit der flachen Hand glatt. »Gib mir einen Kuß, Alter.«
Mr. Britain ließ sich das nicht zweimal sagen.
»Ich glaube«, sagte Mrs. Britain und holte ein ganzes Bündel schmaler Hefte und zerknitterter Papiere aus der Tasche, »ich habe alles in Ordnung gebracht. Die Rechnungen alle beglichen – den Rübsen verkauft – Brauereirechnung bezahlt – Tabakspfeifen bestellt – siebzehn Pfund vier Schilling auf der Sparkasse eingezahlt – und Doktor Heathfields Rezepte für die Kleine – du wirst dir schon denken können, wie es ist. – Doktor Heathfield will wieder nichts annehmen, Tim.«
»Ich dachte es mir gleich«, meinte Britain.
»Ja. Er sagte, Tim, so groß deine Familie auch werde, er werde dir nie einen halben Penny abnehmen. Nicht wenn du zwanzig Kinder kriegen solltest.«
Mr. Britains Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an und sah starr an die Wand.
»Ist das nicht recht freundlich?« sagte Clemency.
»Gewiß«, entgegnete Mr. Britain. »Aber es ist eine Freundlichkeit, die ich um keinen Preis in Anspruch nehmen möchte.«
»Nein«, entgegnete Clemency. »Natürlich nicht. Dann ist das Füllen – es hat acht Pfund zwei Schilling eingetragen; und das ist nicht übel, nicht wahr?«
»Es ist sehr gut«, sagte Ben.
»Ich freue mich, daß du zufrieden bist«, rief seine Frau. »Ich dachte es mir schon; und das, glaube ich, ist alles. Aber jetzt Schluß, Britain. Ha, ha, ha! Hier. Nimm die Papiere und prüfe sie. Doch halt, noch einen Augenblick! Hier ist noch ein gedruckter Zettel. Frisch aus der Druckerei. Wie gut er riecht!«
»Was ist das?« sagte Tim und betrachtete das Blatt.
»Ich weiß nicht«, antwortete seine Frau. »Ich habe kein Wort davon gelesen.«
»Verkauf durch freiwillige öffentliche Versteigerung«, las der Wirt, »unter Vorbehalt früheren Privatübereinkommens.«
»Das schreiben sie immer darauf«, sagte Clemency.
»Ja, aber doch nicht immer dieses«, versetzte er. »Schau her: Herrenhaus und Wirtschaftsgebäude, Park und Garten von Mr. Snitchey und Craggs und das schuldenfreie Gut von Mich. Warden, Esquire, wegen Fortzugs ins Ausland!«
»Wegen Fortzugs ins Ausland!« wiederholte Clemency.
»Hier steht es«, sagte Mr. Britain. »Sieh her.«
»Und heute hörte ich erst von drüben, daß sie bessere und deutlichere Nachrichten bald senden wolle!« sagte Clemency. Dabei schüttelte sie traurig den Kopf und griff wieder nach ihren Ellbogen, als ob die Erinnerung an alte Zeiten auch alte Gewohnheiten erwecke. »Hm, hm, hm! Das wird drüben wieder die Herzen schwer machen, Ben.«
Mrs. Britain seufzte, schüttelte den Kopf und sagte, er könne die Angelegenheit von Grund auf nicht begreifen und habe sie längst aufgegeben. Bei dieser Randbemerkung beließ er es und klebte den Zettel hinter die Büfettfensterscheibe, Clemency aber, nachdem sie eine Weile grübelnd dagestanden, machte sich auf und eilte hinaus, um nach den Kindern zu schauen.
Obgleich der Wirt des Muskatsiebs großen Respekt vor seiner Hausfrau hatte, so blieb diese doch ganz in der alten unterwürfigen Art; und das ergötzte ihn außerordentlich. Nichts hätte ihn in größere Verwunderung gebracht, als wenn ihn ein Dritter darauf aufmerksam gemacht hätte, wie sie allein die ganze Wirtschaft führte und ihn durch kluge haushälterische Weise, frischen Unternehmungsgeist, Ehrlichkeit und Fleiß zum wohlhabenden Manne machte. So leicht ist es in jedem Lebensverhältnis (und gar oft ist es wirklich der Fall), die stillen Naturen, die nie ihre Verdienste zur Schau stellen, nach ihrem eigenen bescheidenen Urteil zu werten und ein unerfreuliches Gefallen wegen äußerlicher Besonderheiten und Scheinvorzüge an Menschen zu finden, deren innerer Wert, wenn wir so tief blicken wollten, uns erröten machen müßte!
Es erfüllte Mr. Britain mit Wohlbehagen, wenn er an die Herablassung dachte, mit der er Clemency geheiratet. Sie erschien ihm als ein beständiges Zeugnis seines edlen Herzens, und er spürte, daß ihre Trefflichkeit nur den alten Spruch bestätigte, daß die Tugend sich selbst belohne.
Er hatte den Zettel angeklebt und die Quittungen über die Geschäfte des heutigen Tages in den Büfettschrank geschlossen – wobei er immer über ihre Geschäftstüchtigkeit vor sich hinschmunzelte – als sie mit der Nachricht zurückkam, daß die beiden Master Britains unter Obhut einer gewissen Betsy im Schuppen spielten, die kleine Clemency aber schlafe »wie ein Engel«. Jetzt ließ sie sich auch zum Tee nieder, der, auf ihr Erscheinen wartend, auf einem kleinen Tisch bereitstand. Es war ein hübsches kleines Büfett mit der üblichen Dekoration von Flaschen und Gläsern und einer gerichteten Uhr, die auf die Minute ging (es war halb sechs). Jeder Gegenstand war an seinem gehörigen Platz und bis auf das äußerste blankgescheuert und poliert.
»Es ist das erstemal, daß ich heute ruhig zum Sitzen komme«, sagte Mrs. Britain und schöpfte tief Atem, als ob sie nun für den Abend festen Sitz gefaßt hätte, aber sie erhob sich doch gleich wieder, um ihrem Mann Tee einzugießen und Butter und Brot zu schneiden! »wie dieser Zettel mich an alte Zeiten denken läßt!«
»Ja, ja!« erwiderte Mr. Britain, packte seine Untertasse wie eine Auster, und schlürfte sie in derselben Weise aus.
»Dieser selbe Mr. Michael Warden«, sagte Clemency grübelnd, »brachte mich um meine alte Stelle.«
»Und verschaffte dir einen Mann«, ergänzte Mr. Britain.
»Na ja«, meinte Clemency, »und dafür will ich ihm auch dankbar sein.«
»Der Mensch ist ein Knecht der Gewohnheit«, sagte Mr. Britain und sah seine Frau über seine Untertasse hin prüfend an. »Ich hatte mich an dich gewöhnt und sah ein, daß ich mich ohne dich nicht recht wohl fühlen würde. Ha, ha! Wer hätte das für möglich gehalten!«
»Ja wirklich!« rief Clemency, »Es war sehr gütig von dir, Ben.«
»Nein, nein, nein«, antwortete Ben mit selbstgefälliger Bescheidenheit. »Nicht der Rede wert.«
»O ja, Ben«, sagte seine Frau herzlich. »Ich glaube es doch und bin dir sehr zu Dank verbunden. Ach!« – sie schaute wieder auf den Zettel – »als es bekannt wurde, daß sie entflohen war, das liebe Mädchen, da konnte ich nicht anders – ihretwegen und der Schwester und des Vaters wegen – zu sagen, was ich wußte, nicht wahr?«
»Jedenfalls erzähltest du es«, bestätigte ihr Gatte.
»Und Doktor Jeddler« , sagte Clemency, ihre Tasse hinsetzend und nachdenklich auf den Zettel schauend, »jagte mich in seinem Kummer und Zorn aus dem Haus! Wie bin ich froh, daß ich damals kein böses Wort gesagt habe und ihm nichts Böses nachtrug; denn er hat es später herzlich bereut. Wie oft hat er hier gegessen und mir immer wieder gesagt, daß es ihm leid tue! – Zum letztenmal gestern noch, als du nicht da warst. Wie oft hat er hier gesessen und stundenlang von dem und jenem geredet, als ob es ihm wohl tue! – aber eigentlich nur aus Liebe zur einstigen Zeit und weil er wußte, daß sie mich gern gehabt hat, Ben!«
»Mein Gott, wie hast du das herausbekommen, Clemency?« fragte ihr Mann, ganz erstaunt, daß sie eine Wahrheit klar erkannte, die in seiner philosophischen Vernunft nur gedämmert hatte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Clemency, und pustete über ihren Tee, um ihn abzukühlen. »Himmel! ich könnte es nicht sagen, und wenn man mir eine Belohnung von hundert Pfund verspräche.«
Er hätte feine philosophischen Gedankengänge wohl noch weiter fortgesetzt, hätte er nicht hinter ihm an der Tür der Gaststube eine substantielle Erscheinung in Gestalt eines Herrn in Trauer, der einen Reitanzug trug, wahrgenommen. Er schien auf ihr Gespräch zu achten und gar nicht die Absicht zu haben, sie zu unterbrechen.
Clemency erhob sich. Auch Mr. Britain stand auf und begrüßte den Gast. »Wünschen Sie gefälligst hinaufzugehen, Sir? Es ist ein sehr hübsches Quartier oben, Sir.«
»Ich danke Ihnen«, sagte der Fremde und sah Mrs. Britain aufmerksam an. »Ist es gestattet, hier einzutreten?«
»O, wenn Sie wünschen«, gab Clemency zur Antwort und öffnete das Schankzimmer. »Was wünschen Sie, Herr?«
Er hatte den Zettel bemerkt und las ihn jetzt.
»Ein sehr schönes Grundstück, Herr«, erklärte Mr. Britain.
Er antwortete nicht, sondern drehte sich um, als er die Lektüre beendet, und schaute Clemency mit der gleichen forschenden Aufmerksamkeit wie zuvor an. »Sie fragten«, sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden –
»Was der Herr wünschen«, entgegnete Clemency und sah ihn gleichfalls verstohlen an.
»Wenn Sie mir einen Schluck Ale geben wollen«, sagte er und trat an einen Tisch am Fenster, »und zwar hierher bringen wollen, ohne daß Sie sich bei Ihrem Tee stören lassen, würde es mir sehr lieb sein.«
Er nahm ohne weiteres Platz und schaute auf die Landschaft hinaus. Er war ein Mann in der Blüte seines Lebens, gut und kräftig gebaut. Sein sonnengebräuntes Gesicht überschattete dunkles Haar, und er trug einen Schnurrbart. Als man ihm sein Bier gebracht hatte, schenkte er sich ein Glas ein und trank freundlich auf das Wohl des Hauses; als er das Glas wieder niedersetzte, bemerkte er: »Ein neues Haus, nicht wahr?«
»Nicht gerade neu, Sir«, erwiderte Mr. Britain.
»Etwa fünf bis sechs Jahre alt«, sagte Clemency, mit ausgesprochener Betonung.
»Ich glaubte vorhin, als ich eintrat, den Namen Dr. Jeddlers zu hören«, bemerkte der Fremde. »Dieser Zettel erinnert mich an ihn; denn ich weiß durch Zufall von der Angelegenheit durch Hörensagen und gewisse Beziehungen. – Lebt der alte Herr noch?«
»Gewiß, Herr«, sagte Clemency.
»Hat er sich sehr verändert?«
»Seit wann, Herr?« fragte Clemency mit besonderem Ton in der Stimme.
»Seit seine Tochter – ihn verließ.«
»Ja! Seitdem hat er sich verändert«, sagte Clemency. »Er ist alt und grau geworden und ist durchaus nicht mehr derselbe Mann; aber ich meine, er hat jetzt einen Trost gefunden. Er hat sich seitdem mit seiner Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich wohl getan. Anfangs war er sehr niedergedrückt, und das Herz konnte sich einem im Leibe umwenden, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schelten hörte. Aber nach einem oder zwei Jahren wurde er ein ganz Anderer und Besserer, und dann begann er, gern von seiner verlornen Tochter zu reden, und sie zu loben und auch die Welt! Und er ward nie müde, zu erklären, unter Tränen zu erklären, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hatte ihr verziehen. Das war um die Zeit von Miß Graces Hochzeit. Du weißt noch, Britain?«
Mr. Britain erinnerte sich der Geschichte noch sehr gut.
»Die Schwester ist also verheiratet«, meinte der Fremde. Er schwieg einen Augenblick, bevor er fragte: »Mit wem?«
Clemency hätte vor Überraschung über diese Frage beinahe das Teebrett umgeworfen.
»Vernahmen Sie nie davon?« fragte sie.
»Nie, ich möchte es aber wissen«, antwortete er und goß sich ein neues Glas ein, das er an die Lippen führte.
»O, es wäre eine lange Geschichte, wenn man sie regelrecht erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf ihre linke Hand, indes sie den linken Ellbogen auf die andere Hand legte und kopfschüttelnd auf die inzwischen verflossenen Jahre zurückschaute, wie man in ein Feuer hineinschaut. »Es wäre eine lange Geschichte.«
»Aber rasch erzählt?« forschte der Fremde.
»Rasch erzählt«, wiederholte Clemency in dem gleichen nachdenklichen Ton und anscheinend ohne sich um ihn zu kümmern oder sich bewußt zu sein, daß sie Zuhörer habe, »was wäre da zu sagen? Daß sie gemeinsam bekümmert waren, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen; daß sie sie in guter Erinnerung behielten, ihr keine Vorwürfe machten und sie zu entschuldigen wußten? Das weiß jeder. Ich zum mindesten weiß es, und niemand besser!« setzte Clemency hinzu und wischte sich die Augen mit der Hand.
»Und dann«, half der Fremde ein – –
»Und dann«, wiederholte Clemency mechanisch seine Worte, ohne ihre Haltung oder ihre Art zu ändern, »dann fanden sie sich schließlich als Mann und Weib. Sie wurden getraut an ihrem Geburtstag – er jährt sich morgen – in aller Stille, aber zufrieden und glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierten: ›Grace, soll unser Hochzeitstag auf Marions Geburtstag fallen?‹ Und so geschah es.«
»Und sie leben glücklich zusammen?« fragte der Fremde.
»Ja«, sagte Clemency. »Nie lebten Eheleute glücklicher. Sie haben keinen Kummer; nur diesen.«
Sie hob das Haupt, als werde sie plötzlich gewahr, unter welchen Umständen sie an diese Geschehnisse zurückdenke, und warf einen schnellen Blick auf den Fremden. Da sie sah, daß er sein Gesicht dem Fenster zugekehrt hatte, als ob er in der Betrachtung der Aussicht versunken wäre, machte sie ihrem Mann ein paar rasche Zeichen, deutete auf den Anschlag und bewegte die Lippen, als habe sie sehr angelegentlich ein Wort oder einen Satz zu wiederholen. Da sie dabei keinen Laut hören ließ und ihre stummen Gesten wie gewöhnlich sehr verwundersam waren, so brachte dies rätselhafte Betragen Mr. Britain bis zum Rand der Verzweiflung. Er staunte den Tisch an, den Fremden, die silbernen Löffel, seine Frau – folgte ihren Mienen mit Blicken tiefen Erstaunens und größter Ratlosigkeit – fragte sie in der gleichen Sprache, ob sein Besitz oder er in Gefahr sei – beantwortete ihre Zeichen mit andern, die seine tiefste Betroffenheit zum Ausdruck brachten – verfolgte die Bewegung ihrer Lippen – riet halblaut »Milch und Wasser«, »Scheck«, »Maus und Walnuß« und konnte doch über nichts klar werden.
Clemency gab zuletzt ihre aussichtslose Bemühung auf, rückte etwas näher an den Fremden heran und musterte ihn mit scheinbar gesenkten Augen scharf, während sie eine neue Frage erwartete. Sie brauchte nicht lange zu harren; denn er hob gleich wieder von neuem an.
»Und was wurde später aus der Tochter, die ihn verließ? Sie kennen sie, meine ich?«
Clemency schüttelte den Kopf. »Ich hörte«, sagte sie, »Doktor Jeddler solle mehr wissen als er zu wissen vorgebe. Miß Grace hat Briefe von ihr erhalten, in denen sie schreibt, daß es ihr gut gehe und daß sie durch ihre Heirat glücklich geworden sei. Sie hat ihr darauf geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über ihrem Leben und ihrem Geschick, das bis jetzt nicht aufgeklärt ist, und das –«
Ihre Stimme wurde schwankend und sie stockte.
»Und das –« fuhr der Fremde fort.
»Das nur ein einziger Mensch aufklären könnte«, sagte Clemency atmend.
»Und wer wäre das?« forschte der Fremde.
»Mr. Michael Warden!« antwortete Clemency beinahe mit einem Schrei und bekundete damit zugleich ihrem Gatten, was sie ihm vorhin hatte deutlich machen wollen, und Michael Warden, daß er erkannt sei.
»Sie kennen mich noch, Herr«, sagte Clemency, zitternd vor Erregung. »Ich sah es soeben! Sie kennen mich noch von der Nacht damals im Garten. Ich war bei ihr!«
»Ja, ich weiß es«, entgegnete er.
»Ja, Herr«, versetzte Clemency. »Ja, bestimmt. Das ist mein Mann, Herr. Ben, lieber Ben, lauf zu Miß Grace – laufe zu Mr. Alfred – lauf zu irgend jemandem, Ben! Hole irgend jemanden herbei, sogleich!«
»Bleiben Sie!« sagte Michael Warden und trat gelassen zwischen die Tür und Britain. »Was wollen Sie anfangen?«
»Geben Sie ihnen Nachricht, daß Sie hier sind, Sir«, bat Clemency und schlug die Hände zusammen, ganz außer sich vor Verwirrung. »Geben Sie ihnen Nachricht, daß sie aus Ihrem Munde mehr von ihr erfahren können; daß sie ihnen nicht ganz verloren ist, sondern daß sie wieder heimkommen wird, um ihren Vater und ihre Schwester – und auch ihre alte Dienerin, mich«, sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust, »mit dem Anblick ihres lieben Gesichts zu trösten. Eil', Ben, eil'!« Und noch immer drängte sie ihn gegen die Tür, und noch immer stand Mr. Warden davor und versperrte ihm den Ausgang, nicht mit zorniger, sondern mit betrübter Miene.
»Oder vielleicht«, sagte Clemency und hielt sich an Mr. Wardens Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier; vielleicht ist sie ganz nahe. Ja, ich merke es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr. Ich hütete sie, als sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als Freude dieses Ortes. Ich kannte sie, als sie Mr. Alfreds Braut war. Ich versuchte sie zurückzuhalten, als Sie sie hinweglockten. Ich kenne ihr Vaterhaus, wie es war, als sie es noch beseelte, und wie es sich geändert hat, seitdem sie entfloh. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr!«
Er sah sie mitleidig und erstaunt an, machte aber keine Geste der Einwilligung.
»Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, erklärte Clemency, »wie aufrichtig sie ihr vergeben haben; wie sehr sie sie lieben; welche Freude es ihnen bereiten würde, sie noch einmal zu sehen. Sie scheut sich vielleicht, nach Hause heimzukehren. Ich kann ihr vielleicht Mut zusprechen, wenn sie mich erblickt. Nur sagen Sie mir, haben Sie sie mitgebracht?«
»Nein«, sagte er kopfschüttelnd.
Diese Antwort, sein Verhalten, sein Traueranzug, seine stille Rückkehr, die angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, offenbarten alles: Marion war tot.
Er konnte ihr nichts entgegnen, ja, sie war tot! Clemency setzte sich nieder, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte bittere Tränen.
In diesem Augenblick stürzte ein alter, grauhaariger Herr außer Atem ins Zimmer und keuchte so sehr, daß man an seiner Stimme kaum Mr. Snitchey erraten hätte.
»Mein Gott, Mr. Warden!« rief der Advokat und zog ihn beiseite, »was für ein Wind«, er war so erschöpft, daß er pausieren mußte und erst nach einer Weile ganz schwach fortfuhr, »hat Sie hierher geführt?«
»Ein schlimmer, fürchte ich«, antwortete er. »Wenn Sie hätten hören können, was hier eben geschah – wie ich Unmögliches tun soll – wie ich Betrübnis und Herzeleid mitbringe!«
»Ich kann alles begreifen. Aber warum sind Sie gerade hierher gekommen?« sagte Snitchey.
»Weshalb sollte ich nicht! Wie konnte ich wissen, wer hier Wirt ist? Als ich meinen Diener zu Ihnen schickte, ging ich hier herein, weil mir das Haus neu war. Ich hatte ein begreifliches Interesse für alles Neue und Alte in dieser Umgebung von einst. Außerdem aber wollte ich vor der Stadt erst einmal mit Ihnen zusammentreffen. Ich wollte wissen, was die Leute über mich reden. Ich sehe es an Ihrer Haltung, daß Sie es mir sagen können. Wäre Ihre verwünschte Vorsicht nicht gewesen, dann hätte ich längst alles erfahren können.«
»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Im Namen meiner selbst und Craggs' – selig«, hier blickte er auf den Flor an seinem Hut und schüttelte den Kopf, »zu Ihnen gesprochen, Mr. Warden, wie können Sie uns klugermaßen eine Schuld zuschreiben? Wir einigten uns, diese Angelegenheit nicht wieder zu berühren, da es keine Sache war, in die sich so würdige und gesetzte Männer wie wir (ich notierte mir Ihre damaligen Bemerkungen) mischen dürften. Unsere Vorsicht! während Mr. Craggs in sein ehrenwertes Grab stieg in dem Glauben –«
»Ich hatte feierlich versprochen, zu schweigen, bis ich zurückkehren würde, wie lange dies auch immer dauern möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden; »und ich habe das Versprechen gehalten.«
»Gut, Herr, und ich wiederhole es, wir waren gleichfalls zum Schweigen verpflichtet. Dazu zwang uns unsere Verpflichtung gegen uns selbst und gegen verschiedene Klienten, unter denen auch Sie waren. Es war nicht unsere Sache, Sie über eine so persönliche Angelegenheit auszuforschen; ich hatte meine Befürchtung, Herr; aber erst seit sechs Monaten habe ich die Wahrheit erfahren.«
»Durch wen?« fragte sein Klient.
»Durch Doktor Jeddler selbst, Herr, der mir freiwillig sein Vertrauen schenkte. Er, und nur er, hat um die ganze Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«
»Und Sie wissen sie auch?« sagte sein Klient.
»Ja, Herr!« erwiderte Snitchey, »und ich habe auch allen Anlaß, anzunehmen, daß ihre Schwester sie morgen abend hören wird. Unterdessen werden Sie mir hoffentlich die Ehre erweisen, Gast in meinem Hause zu sein, da man Sie bei den Ihren nicht erwartet hat. Doch um etwaigen weitern Verlegenheiten vorzubeugen, für den Fall, daß man Sie erkennen sollte – ist es besser, wir essen hier und gehen abends nach der Stadt. Man speist hier recht gut, Mr. Warden; das Haus ist übrigens das Ihre. Ich und Craggs (selig) aßen hier oft ein Kotelett und fanden es immer delikat. Mr. Craggs, mein Herr«, sagte Snitchey und schloß die Augen fast für einen Augenblick, um sie dann wieder zu öffnen, »wurde zu früh aus dem Buche der Lebendigen gelöscht.«
»Der Himmel vergebe es mir, daß ich Ihnen nicht mein Beileid sagte«, versetzte Michael Warden und fuhr mit der Hand über die Stirn; »aber mir ist es, als ob ich träumte. Es ist mir, als wäre ich nicht ganz bei Bewußtsein. Mr. Craggs, – ja – ich bedauere es sehr, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Aber er blickte, indem er so sprach, auf Clemency und schien mit Ben, der sie tröstete, Sympathie zu fühlen.
»Mr. Craggs, Sir«, entgegnete Snitchey, »erfuhr, was ich zu meinem Leidwesen bekennen muß, daß das Leben nicht zu leicht zu behalten war, wie es ihm seine Theorie sagte, sonst würde er noch unter uns verweilen. Es ist ein herber Verlust für mich. Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge. Ich komme mir ohne ihn wie ein Lahmer vor. Er vermachte seinen Geschäftsanteil der Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Sachwaltern und Kuratoren. Sein Name steht noch heute im Schild der Firma. Manchmal versuche ich wie ein Kind, mich in den Glauben einzuwiegen, als lebe er noch. Ich sage immer wieder: Snitchey allein und Craggs – selig, mein Herr, – selig«, sagte der gefühlvolle Anwalt und zog ein Taschentuch hervor.
Michael Warden, der Clemency noch immer ansah, wandte sich zu Snitchey, als dieser aufhörte zu reden, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ach, die arme Frau!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf, »Ja. Sie hing immer sehr an Marion. Schöne Marion! Arme Marion! Aber Kopf hoch, liebe Frau – Sie sind ja jetzt verheiratet, Clemency.«
Clemency seufzte nur und schüttelte das Haupt.
»Nur Geduld bis morgen«, sagte der Advokat voll Güte.
»Das Morgen macht die Toten nicht lebendig, Herr«, sagte Clemency schluchzend.
»Dies freilich nicht, sonst würde es auch Mr. Craggs, selig, wieder lebendig machen«, erwiderte der Anwalt. »Jedoch Trost kann es bringen. Geduld bis morgen.«
Clemency schüttelte die hingestreckte Hand und versprach sich zu beruhigen. Britain aber, der beim Anblick seiner kummervollen Gattin (es war gerade, als lasse das ganze Geschäft den Kopf hängen) ganz niedergeschlagen worden war, erklärte, so sei es richtig. Mr. Snitchey und Michael Warden gingen hinauf und waren droben alsbald in eine so vorsichtig gehaltene Unterredung vertieft, daß durch das Klirren der Teller und Schüsseln, das Zischen der Pfannen, das Prutzeln in den Kasserollen, das gleichförmige Schnurren des Bratspießrades – das von Zeit zu Zeit schrecklich gluckste, als sei ihm in einem Anfall von Schwindel etwas zugestoßen – und die andern Vorbereitungen zu ihrem Diner in der Küche auch kein Wörtchen hörbar ward.
Der folgende Tag war schön und heiter, und nirgends sah die herbstlich gefärbte Landschaft schöner aus, als von des Doktors freundlichem Obstgarten her. Der Schnee vieler Winternächte war hier zerronnen, die welken Blätter manches Sommers hatten hier geraschelt, seitdem sie geflüchtet war. Die Jelängerjelieber-Laube war wieder grün, die Bäume warfen schöne wechselnde Schatten auf den Rasen; die Landschaft war so heiter ruhig, wie sie nur sein konnte. Wo aber war sie?
Nicht hier. Nicht dort. Sie wäre jetzt ein seltsamer Anblick in dem alten Haus gewesen, seltsamer selbst, als anfangs das Haus ohne sie. Aber an ihrem gewohnten Platz saß eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war; in deren treuer Erinnerung sie fortlebte, unverändert, im vollen Glanz ihrer Jugend und Schönheit; in deren Liebe – und es war nur die Liebe einer Mutter: eine geliebte kleine Tochter spielte neben ihr – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren zarten Lippen ihr Name jetzt hauchte.
Der Geist der entschwundenen Jungfrau schaute aus diesen Augen; aus diesen Augen Graces, ihrer Schwester, wie sie mit dem Gatten an ihrem Hochzeitstag und Marions Geburtstag im Obstgarten saß.
Er hatte es zu keinem berühmten Namen gebracht, hatte auch keine Reichtümer gesammelt, hatte aber die Umwelt und die Freunde seiner Jugend nicht vergessen; er hatte keine von des Doktors Voraussagungen erfüllt. Aber bei seinen stillen und wohltuenden Besuchen in niedern Hütten; bei seinen Nachtwachen am Krankenlager und bei seiner täglichen Erkenntnis des vielen Schönen und Guten, das auf den Seitenwegen des Lebens blüht und nicht niedergetreten wird von dem schweren Fuß der Armut, sondern kräftig emporsprießt in ihren Spuren, hatte er von Jahr zu Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser gelernt und bewiesen. Seine Lebenshaltung, so ruhig und bescheiden sie auch war, hatte ihm bewiesen, wie oft sich noch immer Engel der Menschen annehmen, wie in alter Urzeit; und wie oft die unscheinbaren Gestalten – selbst manche, die dem Äußern nach gewöhnlich und häßlich erscheinen und in Lumpen gekleidet sind – am Schmerzenslager des Kranken in einem neuen Licht erscheinen und sich zu hilfsbereiten Engeln wandeln mit einer Strahlenkrone um das Haupt.
Er hatte vielleicht seinen Menschenberuf besser erfüllt auf diesem alten Schlachtfeld, als wenn er ohne Rast auf ruhmvolleren Bahnen gekämpft hätte; und er war glücklich mit seiner Gattin Grace.
Und Marion? Hatte er sie vergessen?
»Die Zeit ist seither schnell vergangen, liebe Grace«, sagte er – sie sprachen von jener Nacht – »und doch scheint es schon lange gewesen zu sein. Wir zählen nach den Wandlungen und Erlebnissen in uns, nicht nach Jahren.«
»Aber auch Jahre sind verstrichen, seitdem Marion uns verlassen«, entgegnete Grace. »Sechsmal, lieber Mann, den heurigen Tag mit inbegriffen, haben wir an ihrem Geburtstag hier gesessen und von ihrer so heiß ersehnten und so lange aufgeschobenen Rückkehr gesprochen. Wann wird dies endlich der Fall sein!«
Ihr Gatte sah sie aufmerksam an, wie sich die Tränen unter ihren Wimpern sammelten, und sagte dann, sie näher zu sich ziehend: »Aber Marion erklärte dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf dem Tisch zurückließ und den du so oft liest, daß Jahre darüber hingehen müßten, ehe dies eintreffen könnte. Ist das nicht wahr?«
Sie zog den Brief aus der Brust, küßte ihn und sagte: »Ja«.
»Daß sie während dieser Zeit, so glücklich sie auch sein möge, auf die Zeit harren werde, wo sie heimkehren und alles aufklären könne; und daß sie dich bitte, im gleichen Sinn zu hoffen und zu vertrauen. Das steht im Brief, nicht wahr. Liebste!«
»Ja, Alfred!«
»Und in jedem Brief, den sie seither geschrieben?«
»Außer in dem letzten – vor einigen Monaten – in dem sie von dir schrieb und von dem, was du damals erfahren und was ich heute abend hören sollte.«
Er blickte nach der Sonne, die sich dem Abend zugeneigt hatte, und sagte, die angesetzte Zeit sei Sonnenuntergang! –
»Alfred!« sagte Grace und legte innig die Hand auf seine Schulter; »es steht etwas in dem Brief, was ich dir nie mitgeteilt habe. Aber heute abend, geliebter Gatte, da dieser Sonnenuntergang naht, und unser Leben mit dem scheidenden Tage feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht verbergen.«
»Was ist es, Geliebte?«
»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem Brief, daß, wie du sie mir einst anvertraut, sie dich jetzt in meine Hände lege, Alfred; sie beschwor mich im Namen meiner Liebe zu ihr und zu dir, nicht die Neigung zurückzuweisen, die du, wie sie wisse, auf mich übertragen würdest, sobald die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie zu ermuntern und zu erwidern.«
»Und um mich wieder zu einem glücklichen und zufriedenen Manne zu machen, Grace. Schrieb sie dies nicht?« »Sie meinte, mich so beglückt und geehrt mit deiner Liebe zu machen!« war seiner Frau Antwort, als er sie in seinen Armen umfing.
»Höre mich, Geliebte!« sagte er. – »Nein. So!« – Und mit diesen Worten legte er sachte ihren Kopf an seine Brust. »Ich weiß, weshalb ich von dieser Stelle im Briefe nie etwas vernommen habe. Ich weiß, weshalb sich damals bei dir nie eine Spur davon in Wort oder Blick verraten hat. Ich weiß, weshalb Grace, obwohl meine echte Freundin, doch so schwer dahin zu bringen war, mein Weib zu werden. Ja, ich kenne den nicht auszumessenden Wert des Wesens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den köstlichen Schatz!«
Sie weinte, jedoch nicht aus Kummer, als er sie gegen sein Herz preßte. Nach einer Pause sah er auf das Kind herab, das ihnen zu Füßen saß und mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Sieh einmal, wie rot und golden die Sonne ist.«
»Alfred«, versetzte Grace und schaute bei diesen Worten rasch auf. »Die Sonne sinkt. Du hast nicht vergessen, was ich vernehmen soll, bevor sie untergegangen ist.«
»Du sollst die Wahrheit über Marions Schicksal hören, Liebe«, entgegnete er.
»Die ganze Wahrheit«, bat sie flehentlich. »Ohne weiteres Verbergen. So lautet das Versprechen, nicht wahr?«
»Freilich«, meinte ihr Gatte.
»Bevor die Sonne an Marions Geburtstag unterginge. Und du siehst, Alfred, sie ist nahe am Untergehen.«
Er schlang die Arme um sie, blickte ihr tief ins Auge und sagte: »Nicht ich soll dir diese Botschaft eröffnen, liebe Grace. Sie soll von andern Lippen kommen.«
»Von andern Lippen!« wiederholte sie lautlos.
»Ja. Ich kenne dein treues Gemüt. Ich weiß, wie fest du bist, und daß ein Wort der Vorbereitung bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit sei genaht. Sie ist da. Sage mir, ob du stark genug bist, eine Überraschung, eine Erschütterung zu ertragen: dann harrt der Bote schon vor der Tür.«
»Welcher Bote?« fragte sie. »Und was für eine Nachricht bringt er?«
»Ich darf nicht mehr sagen«, versetzte er mit demselben festen Blick. »Glaubst du mich zu begreifen?«
»Ich zittere bei dem Gedanken«, sagte sie.
Trotz seiner ruhigen Miene lag ein Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie in Schrecken setzte. Von neuem barg sie ihr Antlitz an seiner Brust und bat ihn bebend, noch einen Augenblick zu warten.
»Mut, arme Grace! Wenn du genug Kraft hast, harrt der Bote schon vor der Tür. Die Sonne geht über Marions Geburtstag unter. Mut, Mut, Grace!«
Sie erhob den Kopf, blickte ihn an und erklärte, sie sei bereit. Indessen sie so dastand und ihm nachschaute, ähnelte sie Marion in deren letzten Zeit wunderbar. Er nahm ihr Kind zu sich. Sie rief es zurück – es hatte der verlornen Schwester Namen – und drückte es an ihr Herz. Aber als sie die Kleine wieder losließ, eilte diese ihm nach, und Grace war allein. Sie wußte nicht, was sie ängstigte oder was sie erhoffte, sondern blieb ohne Regung stehen und schaute nach der Tür, durch die sie entschwunden waren.
Himmel, was ist das, was aus dem Schatten hervor sich nähert und auf der Schwelle verweilt? Diese Gestalt in dem weißen, von der Abendluft bewegten Gewand, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! Gott, war es ein Traumgesicht, das sich aus ihres Vaters Armen losriß und mit einem Schrei in heißer Liebesfreude ihr in die Arme sank?
»Marion, Marion! Meine Schwester! Mein teures geliebtes Herz! Ach unsagbares Glück des Wiedersehens!«
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht beschworenes Bild der Phantasie, es war Marion selbst! So hold, so glücklich, so unberührt von Schmerz und Leiden, so schön in ihrer Anmut, daß, als die Sonne auf ihr gen Himmel gewandtes Antlitz leuchtete, sie wie ein Engel aussah, der die Erde segenspendend aufsuchte.
Marion hielt ihre Schwester umarmt, die auf eine Bank gesunken war, und neigte sich zu ihr nieder. Sie lächelte durch ihre Tränen, und nun kniete sie vor ihr hin und konnte keinen Augenblick das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme klang klar, leise und harmonisch in die Stille des Feierabends.
»Als ich noch unter diesem geliebten Dache lebte, Grace –«
»Mein süßes Herz! Nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder reden zu hören!«
Sie konnte die geliebte Stimme nicht ohne tiefe, fast schmerzliche Erschütterung vernehmen.
»Als ich noch unter diesem Dache lebte, Grace, liebte ich ihn von ganzer Seele. Ich liebte ihn auf das innigste. Ich hätte für ihn sterben können, wiewohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Gemüt; nicht einen einzigen Augenblick. Sie war mir teurer, als ich es zu beschreiben vermag. Obwohl es lange her ist, längst vergangen und alles ganz anders geworden, so konnte ich doch den Gedanken nicht ertragen, daß du etwa glaubtest, ich hätte ihn ehedem nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie mehr, Grace, als an dem Tage, da er von hier Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr, als an dem Abend, da ich von hier flüchtete.«
Ihre Schwester vermochte nur ihr ins Antlitz zu schauen und sie fest in den Armen zu halten.
»Aber ohne es zu ahnen«, sagte Marion sanft lächelnd, »hatte er ein anderes Herz gewonnen, ehe ich überhaupt eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz – deines, Schwester – war so erfüllt von Liebe zu mir, war so opferbereit und edel, daß es seine Liebe verhüllte und sie geheimhielt vor den Augen aller, außer vor den meinen – ah, welche Augen wären auch so von Liebe und Dankbarkeit geschärft gewesen! – und sich für mich aufopferte. Aber ich kannte die Tiefe dieses Herzens. Ich kannte den Kampf, den es ausgefochten. Ich wußte, wie hoch und unermeßlich sein Wert für ihn war und wie teuer er es schätzte, mochte er auch mich lieben. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen verdankte, ich hatte sein schönes Beispiel täglich vor Augen. Was du für mich getan hast, Grace, das wußte ich, würde ich auch für dich tun können, wenn ich den Willen dazu hatte. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne Gott mit Tränen zu bitten, daß er mir die Kraft dazu verleihen möge. Ich begab mich nie zur Ruhe, ohne an Alfreds eigene Worte beim Abschied zu denken, daß täglich in menschlichen Herzen Siege gewonnen würden, gegen die jene Schlachtfelder zu nichts würden. Und als ich immer mehr und mehr an die Entsagung dachte, die sich täglich in der Welt ereignet und die gemeinhin so wenig beachtet wird, da fühlte auch ich, daß mir meine Prüfung täglich leichter ward! Gott aber, der jetzt in unser Herz blickt und weiß, daß kein Tropfen Kummer oder Schmerz in dem meinen ist, nichts als Glück, verlieh mir die Kraft zu dem Entschluß, nie Alfreds Gattin zu werden. Daß er mein Bruder und dein Gatte werden sollte, wenn mein Beginnen dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, daß ich aber nie (Grace, ich liebte ihn damals innig!) sein Weib werden wollte!«
»O, Marion! O, Marion!« hauchte Grace.
»Ich bemühte mich zu tun, als ob er mir gleichgültig wäre«, und sie legte das Gesicht ihrer Schwester an ihre Wange, »aber das war zu schwer, und du sprachst immer eifrig für ihn. Ich bemühte mich, dir meinen Entschluß zu gestehen, doch du wolltest mich nie hören – nie verstehen. Die Zeit seiner Rückkehr kam herbei. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe dieser tägliche Verkehr neu auflebte. Ich fühlte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns alle langen Leiden ersparen könnte. Ich wußte, daß, wenn ich vor ihm flüchtete, schließlich das eintreten müßte, was eingetreten ist, und was uns beide so glücklich gemacht hat, Grace! Ich schrieb an Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Heim: ich sagte ihr damals nicht die ganze Wahrheit, aber sie erfüllte mir gern meine Bitte. Während meine Entschlußkraft noch mit mir und meiner Liebe zu Euch und dem Vaterhaus um Entscheidung rang, ward Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«
»Ich habe das in letzter Zeit zuweilen gefürchtet,« rief ihre Schwester aus und wurde totenblaß. »Du liebtest ihn nie und hast aus Entsagung geheiratet!«
»Er war damals«, sagte Marion und zog ihre Schwester näher zu sich heran, »im Begriff, heimlich ins Ausland zu fliehen. Er schrieb an mich, offenbarte mir seine Verhältnisse und Aussichten und bot mir seine Hand an. Er erklärte mir, er habe empfunden, daß ich Alfreds Rückkehr nicht freudig entgegensähe. Ich glaube, er war der Ansicht, mein Herz hätte keine Neigung zu diesem Bündnis, oder ich hätte ihn wohl früher geliebt, liebe ihn indessen nicht mehr; oder ich suchte Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber ich wollte, daß Alfred glauben sollte, ich sei ganz für ihn verloren. Verstehst du mich, geliebte Schwester?«
Ihre Schwester blickte ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie schien in Unklarheit zu sein.
»Ich traf mich mit Mr. Warden und vertraute mich seiner Ehre an; ich offenbarte ihm mein Geheimnis am Abend vor seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt. Verstehst du mich, Liebste?«
Grace schaute verwirrt um sich. Sie schien es kaum zu hören.
»Geliebte Schwester!« sagte Marion, »sammle deine Gedanken für einen Augenblick: höre mich. Blicke mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, wo die Menschen, die eine widerspenstige Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz ihrer Brust heilen wollen, sich in immerwährende Einsamkeit zurückziehen und für ewig der Welt und deren Gefühlen den Abschied geben. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der mir durch dich so lieb ist, und nennen sich Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die unter Gottes freiem Himmel und im geschäftigen Menschengewühl, wo sie möglichst bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, ein Gleiches lernen. Mit noch unverbrauchtem und jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück können sie sagen: der Kampf ist langst vorbei, der Sieg längst gewonnen. Und eine solche Schwester bin ich! Begreifst du mich jetzt?«
Aber noch immer sah diese Marion starr an und antwortete nicht.
»O Grace, geliebte Grace«, sagte sie und schmiegte sich noch inniger an die Brust, von der sie so lange getrennt gewesen, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, wo sollte ich dann die Seligkeit finden, die mir jetzt eigen ist? Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin noch immer deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unverlobt: deine alte, liebe Marion, in deren Herzen du allein, ohne Nebenbuhler hausest, Grace!«
Sie begriff sie jetzt. Die Anspannung in ihrem Antlitz löste sich. Ihre Rührung machte sich in hellem Schluchzen Luft. Unter Tränen fiel sie ihrer Schwester um den Hals und streichelte sie wie ein Kind.
Als sie sich wieder etwas gefunden hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred vor sich stehen.
»Das ist ein schlimmer Tag für mich«, sagte Tante Martha, unter Tränen lächelnd, als sie ihre Nichten umarmte; »denn indem ich euch alle glücklich gemacht habe, verliere ich eine liebe Tochter. Was vermögt ihr mir an Stelle meiner Marion zu geben?«
»Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.
»Das«, versetzte Tante Martha, »ist wenigstens etwas in einer solchen Narrenskomödie wie –«
»Ich bitte dich«, sagte der Doktor reuevoll.
»Na, ich will es auf sich beruhen lassen«, versetzte die Tante zur Antwort. »Aber ich fahre wirklich schlecht dabei. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll ohne meine Marion, nachdem wir ein Halbdutzend Jahre nebeneinander gelebt haben.«
»Du wirst zu mir ziehen müssen«, sagte der Doktor. »Wir zanken uns bestimmt nicht mehr.«
»Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.
»Ich glaube wirklich«, erwiderte die Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden aufs Korn nähme, der in jeder Hinsicht gebessert heimgekehrt sein soll. Aber weil ich ihn schon als Jungen kannte und damals auch nicht mehr sehr jung war, so möchte er mich am Ende abweisen. Daher will ich lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet (was doch nicht lange währen kann), und bis dahin für mich wohnen. Was meinst du dazu, Bruder?«
»Ich hätte große Lust zu behaupten, daß es eine durch und durch erheiternde Welt ist, die gar nichts Ernsthaftes hat«, entgegnete der Doktor.
»Du könntest zwanzig Belege darüber protokollieren, Anthony«, meinte seine Schwester; »und dennoch würde dir das niemand, wenn er uns sähe, glauben.«
»Es ist eine Welt voll Seelengüte«, sagte der Doktor und umarmte beide Töchter zugleich – denn er vermochte nicht die Schwestern voneinander zu lösen; »und eine ernste Welt mit all ihren Dummheiten – selbst mit einer, die groß genug war, den ganzen Erdball zu überdecken; eine Welt, auf der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von unblutigen Kämpfen niederzuschauen, die die Leiden und Verbrechen der Schlachtfelder einigermaßen wieder wettmachen; eine Welt, über die wir nicht spotten dürfen; denn sie ist voll von Geheimnissen, und nur ihr Schöpfer weiß, was hinter der Außenfläche seines ärmlichsten Nachbildes verborgen liegt!«
Ich würde euch keinen Gefallen erweisen, wenn ich mit derber Hand die Freude dieser lange getrennten und jetzt wieder vereinten Familie analysieren wollte. Darum wollen wir den Doktor nicht in der Erinnerung an seinen Schmerz begleiten, den er nach der Flucht Marions empfunden hatte. Wir wollen auch nicht berichten, wie ernst er die Welt gefühlt hatte, zu der eine tief eingewurzelte Neigung das Erbgut aller Menschen ist; auch nicht, wie ihn eine solche Kleinigkeit, wie der Fehler bei einer einzigen kleinen Ziffer in der großen Narrenrechnung, zu Boden gedrückt hatte. Auch nicht, wie ihm seine Schwester schon lange aus Mitgefühl die Wahrheit allgemach enthüllt, ihm das Herz der freiwillig verbannten Tochter entdeckt und ihn zu ihrem Herzen geleitet hatte.
Wir erzählen auch nicht, wie Alfred Heathfield in dem eben verflossenen Jahre die Wahrheit erfahren; und wie Marion ihn wiedergesehen und ihm als ihrem Bruder gelobt hatte, an dem Abend ihres Geburtstages Grace mit eigenem Mund alles zu offenbaren.
»Ich bitte um Verzeihung, Doktor«, sagte Mr. Snitchey, in den Garten lugend, »darf man stören?«
Ohne eine Antwort zu erwarten, ging er geradeswegs auf Marion zu und küßte ihr in großer Freude die Hand.
»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, mein teures Fräulein Marion«, sagte Mr. Snitchey, »so würde er mit großer Teilnahme dem heutigen Tag folgen. Er würde vielleicht auf den Gedanken kommen, Mr. Alfred, daß das Leben uns nicht allzuleicht gemacht wird; daß es aber jede kleine Erleichterung, die wir ihm zu verleihen vermögend wären, wohl vertragen könnte; indessen Mr. Craggs war ein Mann, der auch vernünftig mit sich reden ließ. Wenn er jetzt der Überzeugung fähig wäre – doch das ist Schwäche. Liebe Frau«, auf diesen Ruf trat die gemeinte Dame in die Tür, »du bist bei alten Bekannten.«
Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch ausgesprochen, nahm sie ihren Gatten zur Seite.
»Nur eine Sekunde, Mr. Snitchey«, sagte die Lady. »Es ist nicht meine Art, Toten Böses nachzusagen.«
»Nein, liebe Frau«, erwiderte ihr Mann.
»Mr. Craggs ist –«
»Ja, meine Liebe, er ist gestorben«, warf Mr. Snitchey ein.
»Aber ich bitte dich, jenes Ballabends zu gedenken«, fuhr seine Frau fort. »Nur darum ersuche ich dich. Wenn du mir folgst und wenn dich dein Gedächtnis nicht ganz im Stich läßt, und wenn du nicht ganz geistesschwach geworden bist, so fordere ich dich auf, den heutigen Abend mit jenem zu verknüpfen und dich daran zu erinnern, wie ich dich auf meinen Knien anflehte und bat –«
»Auf den Knien?« fragte Mr. Snitchey.
»Ja«, entgegnete Mrs. Snitchey ganz sicher, »und du weißt es – dich vor diesem Mann in acht zu nehmen – seinen Blick zu beobachten – und jetzt sage mir, ob ich damals nicht recht hatte, und ob er an jenem Tage nicht im Besitz von Geheimnissen war, die er nicht für gut hielt, zu enthüllen?«
»Liebe Frau«, flüsterte ihr der Anwalt ins Ohr, »bemerktest du vielleicht auch etwas in meinen Augen?«
»Nein«, antwortete Mrs. Snitchey spitz. »Bilde dir nur das nicht ein.«
»Weil wir zufällig an jenem Abend«, sprach er weiter und hielt sie am Ärmel fest, »beide Geheimnisse zu wahren hatten und weil wir beide eins und dasselbe wußten. Darum, Frau, je weniger du über diese Angelegenheit redest, desto besser; und nimm dir dies zur Lehre, damit du künftig die Dinge mit barmherzigeren und klügeren Augen ansiehst. – Miß Marion, ich habe eine alte Bekanntschaft mitgebracht.«
Die arme Clemency kam, die Schürze vor dem Gesicht, langsam am Arm ihres Gatten herein; dieser selbst mit einer ahnungsvollen Miene, daß es mit dem Muskatsieb zu Ende sei, wenn sie den Mut verlor.
»Nun, liebe Frau«, sagte der Anwalt und hielt Marion zurück, die der alten Dienerin entgegeneilen wollte, »was fehlt Ihnen denn im Grunde?«
»Was mir fehlt?« rief Clemency.
Aber als sie jetzt verwundert und empört über die Frage und erschrocken über ein lautes Gejuchze Mr. Britains aufschaute und das wohlbekannte liebe Gesicht so dicht vor sich gewahrte, da machte sie große Augen, schluchzte, lachte, weinte, machte allerlei Ausrufe, umarmte Marion, hielt sie fest, ließ sie wieder los, fiel Mr. Snitchey um den Hals (worüber Mrs. Snitchey sehr indigniert war), dann dem Doktor, dann Mr. Britain und umarmte zuletzt sich selbst, warf die Schürze über den Kopf und lachte und weinte auf einmal.
Gleich hinter Mr. Snitchey war ein Fremder in den Garten eingetreten und hatte an der Tür haltgemacht, ohne von den andern beachtet zu werden; denn sie hatten nur wenig Aufmerksamkeit übrig, und diese wurde durch Clemencys Freudenrausch ganz und gar aufgezehrt. Er schien nicht den Wunsch zu haben, daß er beachtet würde, sondern er stand beiseite mit niedergeschlagenen Augen; und sein Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck (obwohl er sonst ein stattlicher Mensch war), der in der allgemeinen Fröhlichkeit nur noch mehr abstach.
Nur Tante Martha hatte ihn bemerkt. Sie ging gleich auf ihn zu und redete mit ihm. Gleich darauf trat sie wieder zu Marion, die mit Grace und ihrer kleinen Namensschwester eine holde Gruppe bildete, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wovon diese überrascht zu sein schien. Aber bald faßte sie sich wieder, ging mit der Tante zu dem Fremden und begann ein Gespräch mit ihm.
»Mr. Britain«, sagte der Anwalt und zog ein aktenmäßig aussehendes Papier aus der Tasche, »ich wünsche Ihnen Glück. Sie sind jetzt der einzige und alleinige Eigentümer des freien Besitzes, den Sie bis jetzt als ein konzessioniertes Gasthaus in Pacht hatten und das unter dem Namen ›Muskatsieb‹ bekannt ist. Ihre Frau verlor ein Heim durch meinen Klienten Mr. Michael Warden und erhält jetzt ein neues durch ihn. Ich werde das Vergnügen haben, demnächst mich um Ihre Stimme bei der Wahl zu bewerben.«
»Würde es einen Unterschied in der Stimme machen, wenn das Schild eine Änderung in seiner Bezeichnung erführe?« fragte Britain.
»Ganz und gar nicht«, versetzte der Anwalt.
»Dann«, sagte Mr. Britain und reichte ihm die Schenkungsurkunde zurück, »fügen Sie noch die Worte hinein: ›und Fingerhut‹, und ich will diese beiden Symbole im Wohnzimmer aufhängen lassen, anstatt des Bildes meiner Hausfrau.«
»Mir aber«, ließ sich eine Stimme hinter ihm vernehmen – es war der Fremde, Michael Warden – »laßt den Inhalt dieser Symbole zugute kommen. Mr. Heathfield und Doktor Jeddler, ich hätte Ihnen beiden großes Herzeleid antun können. Daß es nicht so kam, geschah nicht durch mein Verdienst. Ich will nicht sagen, daß ich um sechs Jahre klüger oder besser geworden bin. Aber auf alle Fälle habe ich so lange bereut. Ich verdiene keine schonende Behandlung von Ihrer Seite. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft Ihres Hauses und lernte meine Schwächen kennen – mit einer Beschämung, die ich nie vergessen habe, aber ich hoffe, auch nicht ohne Nutzen – von einer«, er sah auf Marion, »die ich demütig um Verzeihung bat, als ich ihren Wert und meinen Unwert erkannte. In kurzem werde ich diesen Ort für immer verlassen. Ich bitte Sie alle um Vergebung. Wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so tut ihnen auch! Vergeßt und verzeiht!«
***
Die Zeit – die mir den letzten Teil dieser Geschichte mitteilte, und die ich zu meiner Freude seit etwa fünfunddreißig Jahren persönlich kenne – benachrichtigte mich, gelassen auf ihre Sense gestützt, daß Michael Warden England nie verließ und sein Haus nicht verkaufte, sondern daß er es wieder mit großzügiger Gastlichkeit eröffnete und eine Gattin hatte, der Stolz und die Ehre der ganzen Umwelt, namens Marion. Aber da ich erfahren habe, daß die Zeit zuweilen Tatsachen durcheinander bringt, so weiß ich wahrhaftig nicht, wieviel Wert ich auf ihre Mitteilung legen soll.
Ende.