Charles Dickens - Auf der Walstatt des Lebens


Charles Dickens - 3. Weihnachtsgeschichte
Auf der Walstatt des Lebens
Eine Liebesgeschichte




Erster Teil


Vor langer, langer Zeit wurde einst eine heiße Schlacht geschlagen im alten, tapferen England. Wo und wann, soll uns nicht kümmern. Sie wurde geschlagen an einem langen Sommertage, als grün die Halme wogten. Manch wilde Blume, zum duftenden Becher geschaffen für den glitzernden Tau von des Allmächtigen Hand, füllte ihren farbigen Kelch an diesem Tag mit Blut und welkte schaudernd dahin. Manches Insekt, von Farben so zart wie die unschuldigen Blüten und Blätter, war rot gefärbt vom Blute der sterbenden Menschen und zog in hastiger Flucht unnatürliche Spuren auf den Boden. Der bunte Schmetterling trug Blutstropfen auf dem Rand seiner Flügel; und rot floß der Strom dahin. Die zerstampfte Erde wurde ein dampfender Sumpf, und aus den Pfützen, die sich in den Spuren der Pferdehufe und menschlichen Füße gesammelt, schimmerte das unheimliche Rot zur Sonne empor.
Ein gütiges Geschick möge uns bewahren vor dem Anblick eines Bildes, wie es der Mond auf dieser Walstatt sah, als er über die schwarze Linie des Hügelrückens, dessen Rand ferner Baumbestand schattierte, am Himmel emporstieg und auf das Brach- feld niederblickte, wo mit himmelwärts gerichteten Gesichtern, die Augen gebrochen, die einstmals an der Mutter Brust in Mutteraugen gelächelt oder friedlich geschlummert hatten, in Haufen die Toten lagen. Ein gütiges Schicksal verschweige uns Geheimnisse, wie sie der mit Leichengeruch geschwängerte Wind über den Schauplatz von dieses Tages Werk und dieser Nacht Leiden und Sterben flüsternd trug. Wie oft schien einsam der Mond grell auf diese Walstatt nieder, wie lange Zeit hielten die Sterne trauervoll Wache und mußte der Wind darüber hinstreichen aus jeder Himmelsrichtung, ehe die Spuren des Kampfes verschwanden. Sie blieben noch lange und lange und lebten in den kleinen Dingen fort. Die große Natur, erhaben über menschliches Leid, gewann bald ihre Heiterkeit wieder und lächelte auf das blutgetränkte Schlachtfeld nieder, wie ehedem, als es noch frei von Schuld gewesen. Die Lerchen sangen hoch über ihm; die Schatten der fliegenden Wolken verfolgten einander spielend über Wiese und Wald und über Dächer und Kirchtürme der von Bäumen umsäumten Stadt hinaus in die schimmernde Ferne, wo Himmel und Erde zusammenfließen und das Abendrot verblaßt. Korn wurde gesät und wuchs empor und wurde geerntet; der Fluß, einst wie Purpur gefärbt, drehte das Mühlrad; Männer pfiffen hinter dem Pflug, Schnitter und Heuer arbeiteten still in Gruppen, Schafe grasten und Ochsen, Knaben schrien auf den Feldern, um die Vögel zu verscheuchen, Rauch stieg empor aus den Schornsteinen der Hütten, die Feiertagsglocken läuteten Frieden, und alte Leute lebten und starben. Die scheuen Geschöpfe des Feldes und die schlichten Blumen in Busch und Garten blühten und welkten dahin, wenn ihre Zeit um war; alles auf dem grimmigen, blutgetränkten Schlachtfeld, wo Tausende und Abertausende gefallen in wildem Kampfe.
Wohl sah man noch lange tiefgrüne Inseln im keimenden Korn, auf die die Leute voll Grauen blickten. Jahr um Jahr kehrten sie wieder, und man wußte, daß unter diesen fruchtbaren Flecken Menschen und Pferde in Haufen begraben lagen und mit ihren Leibern den Erdboden düngten. Den Landleuten, die dort pflügten, schauderte es vor den fetten Würmern, die hier umherkrochen, und die Garben, die an diesen Stellen geerntet wurden, hießen noch lange Jahre die »Schlachtgarben« und wurden beiseite gestellt. Niemals kam eine Schlachtgarbe beim Erntefest auf den letzten Wagen. Lange Zeit förderte jede Furche, die gezogen wurde, Trümmer aus der Schlacht ans Tageslicht. Lange Zeit noch standen verwundete Bäume auf der Walstatt und lagen Stücke zerbrochener Mauern und zerstampfter Zäune umher an Plätzen, wo auf Tod und Leben gerungen worden war und weder Halm noch Blatt mehr wachsen wollte. Noch lange Jahre scheuten sich die Mädchen des Dorfs, Haar und Busen mit den schönen Blumen von diesem Totenfeld zu schmücken, und viele Jahre später noch hieß es, die dort wachsenden Beeren hinterließen auf der Hand, die sie pflückte, einen unauslöschlichen Fleck.
Aber mit den Zeiten, die so flüchtig vorüberzogen wie die Sommerwolken, schwanden auch diese Spuren des alten Kampfes, und die sagenhaften Erinnerungen daran vermischten sich im Gedächtnis der Menschen, bis sie zu den Altweibermärchen zusammenschrumpften, die man sich zur Winterszeit am Kaminfeuer erzählte und die mit jedem Jahr mehr und mehr verblaßten. Wo die wilden Blumen und Beeren so lange unberührt gestanden, da wuchsen Gärten auf, und Häuser wurden gebaut, und Kinder spielten Krieg auf dem Rasen. Die wunden Bäume waren schon lange als Weihnachtsscheite verbrannt und waren knisternd und knatternd als Funken davongeflogen. Die dunkelgrünen Inseln waren nicht frischer mehr als das Gedächtnis derer, die da unten ruhten in der Erde. Wohl brachte die Pflugschar von Zeit zu Zeit noch immer allerhand rostiges Eisen zutage, doch keiner vermochte mehr zu sagen, wozu es einst gedient hatte, und die es gefunden, stritten sich darüber vergeblich. Ein alter, zerbeulter Harnisch und ein Helm hatten so lange in der Kirche gehangen, daß derselbe schwache, halbblinde Alte, der jetzt vergeblich versuchte, sie oben an dem getünchten Gewölbe zu erkennen, sie schon als Kind staunend betrachtet hatte.
Wären die Gefallenen auf den Stellen, wo sie den Tod gefunden, plötzlich wieder zum Leben erwacht, dann hätten gespaltene Schädel zu Hunderten zu Tür und Fenster hereingesehen, gespenstische Soldaten wären erschienen am friedlichen Herd, wären aufgespeichert gewesen mit dem Korn in der Scheuer, emporgestiegen zwischen dem Kind in der Wiege und seiner Wärterin, hätten den Strom gestaut und sich mit dem Mühlrad gedreht. Der Obstgarten und die Wiese wären von ihnen angefüllt gewesen und hoch aufgetürmt der Heuschober.
Verändert war die Walstatt, wo einst Tausende und Abertausende in der großen Schlacht gefallen!
Vielleicht nirgends war sie mehr verändert als (vor etwa hundert Jahren) in einem kleinen Obstgarten, der zu einem alten, steinernen, mit einer Geißblattlaube geschmückten Hause gehörte.
Aus diesem kleinen Obstgarten erschallten an einem hellen Herbstmorgen Musik und heiteres Lachen, und zwei junge Mädchen tanzten lustig auf dem Rasen, während ein halbes Dutzend Bauernweiber auf Leitern standen, Äpfel von den Bäumen pflückten und zuweilen in ihrer Arbeit innehielten, um in die Fröhlichkeit mit einzustimmen. Es war ein anmutiges, liebliches und natürliches Bild; ein schöner Tag, ein stiller Ort, und die beiden Mädchen tanzten in ihrer Herzenslust fröhlich und sorglos.
Wenn es in der Welt nichts Derartiges gäbe wie die Sucht, sich hervorzutun - das ist meine ganz private Meinung, und ich hoffe, man stimmt mit mir darin überein –, so wäre ein viel besseres Vorwärtskommen und unvergleichlich mehr Vergnügen. Es war entzückend anzusehen, wie die Mädchen tanzten. Sie hatten keine Zuschauer als die Bauernweiber, die auf den Leitern die Äpfel von den Bäumen pflückten. Und sie freuten sich, ihnen zu gefallen, aber sie tanzten nur für sich selbst. Und wie sie tanzten!
Nicht wie Ballett-Tänzerinnen. O nein! Nein, ganz und gar nicht. Und nicht wie Madame Soundsos vollendete Schülerinnen. Keine Spur. Es war keine Quadrille, kein Menuett, nicht einmal ein gewöhnlicher Bauerntanz. Es war kein Tanz nach dem alten Stil und keiner nach dem neuen, war nicht nach dem französischen und nicht nach dem englischen Stil. Eher ein wenig nach dem spanischen, der freier ist und fröhlicher, wie ich höre, und bei dem Klang der zirpenden Kastagnetten den Eindruck einer köstlichen Improvisation erweckt. Wie sie so unter den Obstbäumen hintanzten und die Beete entlang und wieder zurück und einander im Kreise wirbelten, da schienen sich ihre luftigen Bewegungen im sonnenbeschienenen Grase weiter zu verbreiten, wie ein immer größer werdender Kreis im Wasser. Ihr fliegendes Haar und ihre wehenden Gewänder, das elastische Grün unter ihren Füßen, die Zweige, die im Morgenwind raschelten, die glänzenden Blätter und ihre gefleckten Schatten auf dem weichen Rasen - der balsamische Wind, der durch die Landschaft wehte, froh, die ferne Windmühle lustig drehen zu dürfen - alles, alles um die beiden Mädchen und den Bauern herum, und das Gespann am Pfluge auf dem Hügelrücken – am Horizont, als stünden sie am Ende der Welt – schien gleichfalls zu tanzen.
Endlich warf sich die jüngere der beiden Schwestern außer Atem und fröhlich lachend auf eine Bank, um auszuruhen. Die andere lehnte sich an einen Baum dicht dabei. Die Musik, ein wandernder Harfenist und ein Geiger, schloß mit einem Tusch, als seien sie noch ganz frisch, obwohl der Tanz so schnell gewesen war, daß sie es keine halbe Minute mehr länger ausgehalten hätten.
Die Obstpflückerinnen auf den Leitern ließen ein Murmeln und Gebrumm von Beifall hören und machten sich dann emsig und noch immer summend wie Bienen wieder an die Arbeit. Vielleicht deswegen so besonders fleißig, weil ein ältlicher Herr, der niemand anders war als Dr. Jeddler selbst – es war nämlich Dr. Jeddlers Haus und Obstgarten und die beiden Mädchen Dr. Jeddlers Töchter –, angerannt kam, um nachzusehen, was denn los sei und wer denn, zum Kuckuck, auf seinem Grund und Boden schon vor dem Frühstück Musik mache.
Er war ein großer Philosoph, der Dr. Jeddler, aber keineswegs musikalisch.
»Musik und Tanz heute am Jahrestag«, sagte der Doktor, blieb stehen und sprach mit sich selbst, »ich dachte, man fürchtete sich bis heute noch. Aber es ist eine Welt voller Widersprüche. Aber Grace, aber Marion!« fügte er laut hinzu, »ist denn die Welt heute noch verrückter als gewöhnlich?«
»Du mußt Nachsicht haben, Vater, wenn sie's ist«, antwortete Marion, seine jüngere Tochter, lief zu ihm hin und lächelte ihm ins Gesicht, »weil heute jemand Geburtstag hat.«
»Jemand hat Geburtstag, Kätzchen?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß alle Tage jemand Geburtstag hat, weißt du nicht, wieviel neue Schauspieler sich jede Minute auf diese wunderliche, lächerliche – hahaha – man kann gar nicht ernsthaft davon sprechen – Bühne, die man Leben nennt, drängen? Jede Minute?«
»Nein, Vater.«
»Natürlich du nicht; du bist ein Weib –. Beinah wenigstens«, sagte der Doktor. »Wenn ich nicht irre«, setzte er hinzu und blickte in das hübsche Gesicht, das sich dicht an das seine herandrängte, »glaube ich, es ist dein Geburtstag ...«
»Was, du meinst das wirklich, Vater«, rief seine Lieblingstochter und bot ihm die Lippen zum Kuß.
»Da, und meine Liebe dazu«, sagte der Doktor und küßte sie, »und möge der glückliche Tag noch recht oft wiederkehren.«
»Auch ein Gedanke, eine häufige Wiederholung in einem solchen Possenspiel wie dem Leben zu wünschen«, sagte der Doktor vor sich hin, »sehr gut! Hahaha!«
Dr. Jeddler war wie gesagt ein großer Philosoph, und der Grundsatz und das Mysterium seiner Philosophie war, die Welt als einen ungeheuren, ins praktische Leben übersetzten Jux zu betrachten; als etwas zu Albernes, als daß ein vernünftiger Mensch etwas Ernstes darin sehen könnte. Dieses Glaubenssystem hing mit dem Schlachtfelde zusammen, wie wir gleich sehen werden, und leitete sein Entstehen davon ab.
»Wo habt ihr eigentlich die Musik herbekommen?« fragte der Doktor. »Hühnerdiebe natürlich! Wo sind denn die Meistersänger hergekommen?«
»Alfred hat die Musik geschickt«, sagte seine Tochter Grace und steckte ein paar einfache Blumen, mit denen sie vorher das Haar der Schwester in Bewunderung für seine jugendliche Schönheit selbst geschmückt und die der Tanz gelockert hatte, wieder fest.
»Also Alfred hat die Musik geschickt, was?« fragte der Doktor.
»Ja. Er traf sie unterwegs, als er früh in die Stadt ging. Die Leute ziehen zu Fuß herum und haben diese Nacht in der Stadt gerastet; und da Marions Geburtstag ist und Alfred ihr damit eine Freude zu machen glaubte, schickte er sie her mit einem Zettel des Inhalts, daß sie ihr ein Ständchen bringen sollten, wenn ich es für gut fände.«
»Ja, ja«, sagte der Doktor leichthin, »er fragt dich immer um deine Meinung.«
»Und da meine Meinung günstig ausfiel«, sagte Grace heiter und hielt einen Augenblick inne, um den hübschen Kopf, den sie geschmückt, zu bewundern, »und da Marion sehr lustig war und tanzen wollte, machte ich mit, und wir haben uns nach Alfreds Musik außer Atem getanzt. Und sie gefiel uns um so besser, als sie Alfred geschickt hat. Nicht wahr, liebe Marion?«
»O ich weiß nicht, Grace, warum quälst du mich immer mit Alfred?«
»Ich quäle dich, wenn ich deinen Liebsten nenne?« sagte ihre Schwester.
»Es ist mir vollständig gleichgültig«, sagte das mutwillige, hübsche Mädchen, ein paar Blumen, die sie in der Hand hielt, zerrupfend und die Blätter in den Wind zerstreuend, »ob man ihn erwähnt oder nicht. Ich hab es wirklich schon satt, das ewige Gerede von ihm. Und was das betrifft, daß er mein Liebster sein soll –«
»Still. Sprich nicht so leichtfertig von einem treuen Herzen, das nur für dich schlägt, Marion«, rief ihre Schwester aus. »Selbst nicht im Scherz! Niemand auf der Welt hat ein treueres Herz als Alfred.«
»Nein – nein«, sagte Marion und zog ihre Augenbrauen mit einer komischen Miene sorgloser Überlegung in die Höhe. »Vielleicht niemand, aber ich sehe nicht ein, daß darin ein großes Verdienst liegen soll. Ich verlange gar nicht von ihm, daß er so außerordentlich treu sei. Ich habe ihn nie dazu aufgefordert. Wenn er erwartet, daß ich –– aber liebe Grace, was brauchen wir denn überhaupt von ihm zu sprechen, gerade jetzt!«
Es war ein lieblicher Anblick, die beiden blühenden Schwestern Arm in Arm unter den Bäumen wandeln und miteinander plaudern zu sehen, jetzt so ernsthaft im Gegensatz zu dem eben noch an den Tag gelegten Frohsinn und so voll zärtlicher Liebe zueinander ... Auffallend genug war es, daß der Jüngern Schwester Augen in Tränen schwammen und daß etwas tief und innig Gefühltes durch den Mutwillen ihrer Worte klang. Der Unterschied im Alter der beiden Mädchen konnte vier Jahre im höchsten Fall nicht überschreiten. Aber Grace erschien, wie oft in solchen Fällen, wo keine Mutter mehr wacht (die Frau des Doktors war gestorben), in ihrer vorsorglichen Liebe zu ihrer jungem Schwester älter, als sie war, schien, wie die Dinge lagen, allem Wettstreit mit ihr und aller Teilnahme an ihren mutwilligen Einfallen noch aus anderer Ursache als schwesterlicher Liebe und inniger Zuneigung allein weiter entrückt zu sein, als der Altersunterschied bedingt hätte.
Hoher Mutterberuf, der selbst hier in diesem schwachen Abbild das Herz klärte und die Seele zum Engelsbild erhebt!
Des Doktors Gedanken ergingen sich anfangs in fröhlichen Betrachtungen – als er den Mädchen nachblickte und ihrem Geplauder zuhörte – über die Torheit der Liebe und Zuneigung, jene nichtigen Träume, mit denen sich junge Herzen selbst betrügen, wenn sie auch nur einen Augenblick lang etwas Ernstes in solchen Seifenblasen finden, die immer zerplatzen – immer!
Wenn er an Graces häusliche, sich selbst verleugnende Eigenschaften, ihr sanftes Gemüt dachte, so anspruchslos und doch so beharrlich und tapfer, im Gegensatz zu der glänzenden Schönheit seiner jüngern Tochter, tat es ihm beider Kinder wegen leid, daß das Leben eine so ungeheuer lächerliche Posse war.
Es fiel ihm nie ein, zu fragen, ob seine Töchter oder eine von beiden es sich's irgendwie angelegen sein ließen, das Leben ernst zu nehmen oder nicht. Wenn er nur Philosoph blieb. Von Natur mild und hochherzig, war er zufällig über jenen ordinären philosophischen Stein gestolpert, der viel leichter zu finden ist als der, den die Alchimisten suchen und der so oft gutherzigen und freigebigen Menschen zwischen die Füße kommt und die fatale Eigenschaft hat, Gold in Schlacke und kostbare Dinge in armselige zu verwandeln.
»Britain!« rief der Doktor. »Britain! Hallo!«
Ein kleiner Mann mit ungemein mürrischem und sauerm Gesicht trat aus dem Hause und antwortete auf diesen Ruf mit einem sehr unzeremoniellen: »Na, was denn?«
»Wo ist der Frühstückstisch?«
»Drin!« antwortete Britain.
»Wirst du ihn gleich hier draußen decken, wie ich dir schon gestern abend befahl?« sagte der Doktor. »Weißt du denn nicht, daß Herrengesellschaft kommt? Daß heute morgen noch Geschäfte abgeschlossen werden müssen, ehe die Postkutsche vorbeifährt, und daß heute eine besonders feierliche Gelegenheit ist?«
»Ich konnte doch nicht eher anfangen, Dr. Jeddler, bis die Weiber mit den Äpfeln fertig sind, oder ja?« sagte Britain und steigerte seine Stimme nach und nach fast bis zum Schreien.
»Na, sind die jetzt endlich fertig«, sagte der Doktor, sah nach der Uhr und klatschte in die Hände. »Marsch, eilt euch ein bißchen. Wo ist Clemency?«
»Hier bin ich, Mister«, sagte eine Stimme auf einer Leiter, und man sah ein Paar plumpe Füße rasch herunterkommen. »Wir sind fertig. Aufgeräumt, Deerens. In einer halben Minute soll alles in Ordnung sein, Mister.«
Mit diesen Worten machte sie sich rührig an die Arbeit und gab dabei eine Figur ab, die so auffällig war, daß ein paar Worte der Einführung wohl angebracht erscheinen.
Sie war ungefähr dreißig Jahre alt und hatte ein plumpes, gutmütiges Gesicht, das aber immer in so ernste Falten gelegt war, daß es äußerst komisch wirkte. Aber das außerordentlich linkische Wesen in ihrem Gang und Benehmen übertrumpfte das Gesicht noch bei weitem. Hätte man gesagt, sie habe zwei linke Beine und Arme, die gar nicht ihr gehörten, und diese vier Gliedmaßen seien ausgerenkt und nicht mehr an die rechte Stelle angesetzt worden, so hätte man die Wirklichkeit noch im mildesten Licht dargestellt. Und wer sagte, daß sie mit dieser Einrichtung vollkommen zufrieden war und ihre Arme und Beine nahm, wie es gerade kam, und den Launen derselben niemals einen Zaum anlegte, der wurde ihrem Gleichmut nur in geringem Maße gerecht.
Ihre Kleidung bestand aus einem riesigen Paar eigensinniger Stiefel, die immer anderswo hinwollten als ihre Füße, aus blauen Strümpfen und einem buntbedruckten Kattunkleid von dem häßlichsten Muster, das für Geld aufzutreiben gewesen war, und einer weißen Schürze. Sie trug immer kurze Ärmel und hatte immer gerade zufällig wundgestoßene Ellbogen. Sie nahm aus diesem Grunde immer den lebhaftesten Anteil an ihnen und bemühte sich beständig, sie in die unmöglichsten Stellungen zu renken, um sie betrachten zu können. Meistenteils hatte sie auch eine kleine Mütze irgendwo auf dem Kopf sitzen, fast nie aber an der Stelle, die dieses Kleidungsstück bei andern Leuten einzunehmen pflegt. Aber vom Scheitel bis zur Sohle war sie von peinlicher Sauberkeit und trug eine Art linkischer Nettigkeit zur Schau.
Ihrem löblichen ängstlichen Bestreben, in ihren eigenen und den Augen der Öffentlichkeit stets hübsch und sauber zu erscheinen, hatte eine höchst befremdende Gewohnheit, der sie zu huldigen pflegte, das Entstehen zu verdanken, nämlich die Maßnahme, stets eine Art hölzernen Pumpenschwengel als unzertrennlichen Teil ihres Anzugs mit sich herumzuschleppen. Er diente dazu, ihre Röcke so lange zu beklopfen, bis sie in harmonische Falten fielen. So stellte sich Clemency Newcomes Äußeres dar. Man mutmaßte von ihr, daß sie selbst unschuldigerweise eine Verfälschung ihres Taufnamens Clementine veranlaßt habe, aber niemand wußte es gewiß, denn ihre alte, taube Mutter war hochbetagt gestorben, ein wahres Wunder an Langlebigkeit, und andere Verwandte waren nicht da.
Clemency war jetzt beschäftigt, den Tisch herzurichten, und stand von Zeit zu Zeit da, die bloßen roten Arme verschränkt und die aufgestoßenen Ellbogen mit den Händen reibend und sie gelassen betrachtend, bis sie sich plötzlich an etwas erinnerte, das noch fehlte, und davontrabte, um es zu holen.
»Da kommen die beiden Advokaten, Mister«, sagte Clemency in nicht gerade wohlwollendem Ton.
»Aha«, rief der Doktor und ging ihnen ans Tor entgegen. »Guten Morgen, guten Morgen! Grace, mein Herz! Marion! Hier sind die Herren Snitchey und Craggs. Wo ist Alfred?«
»Er wird sicher gleich zurück sein, Vater«, sagte Grace, »er hatte diesen Morgen mit den Vorbereitungen zur Abreise so viel zu tun, daß er schon mit Tagesanbruch aufstand und ausgegangen ist. Guten Morgen, meine Herren!«
»Meine Damen«, sagte Mr. Snitchey, »für mich und Craggs« (Mr. Craggs verbeugte sich) »guten Morgen! Mein Fräulein« (zu Marion), »ich küsse Ihnen die Hand.« Er tat es. »Und ich wünsche Ihnen von Herzen« (es war ihm nicht recht anzusehen, ob das wahr war oder nicht – denn er schien auf den ersten Blick nicht wie ein Herr, dem man heiße Seelenergüsse zutrauen konnte), »ich wünsche Ihnen von Herzen eine glückliche hundertfache Wiederkehr dieses verheißungsvollen Tages.«
»Hahaha«, lachte der Doktor gedankenschwer mit den Händen in den Taschen, »das große Possenspiel in hundert Akten!«
»Das große Possenspiel für diese Darstellerin abzukürzen kann doch gewiß Ihr Wunsch nicht sein, Dr. Jeddler«, sagte Mr. Snitchey und lehnte seine blaue Aktentasche an das Tischbein.
»Nein«, entgegnete der Doktor, »Gott sei vor! Möge sie leben und darüber lachen, solange sie kann, und dann sagen wie die Franzosen: ›Die Posse ist aus, der Vorhang fällt.‹«
»Die Franzosen haben unrecht, Dr. Jeddler«, sagte Mr. Snitchey und spähte in seine blaue Tasche, »und Ihre Philosophie ist auch gänzlich falsch, verlassen Sie sich darauf. Ich hab es Ihnen schon oft gesagt. Es gibt keinen Ernst im Leben? Was ist dann ein Prozeß?«
»Ein Jux«, versetzte der Doktor.
»Haben Sie schon einmal einen geführt?« fragte Mr. Snitchey und blickte von der blauen Tasche auf.
»Nie«, antwortete der Doktor.
»Wenn Sie einmal in die Lage kommen«, sagte Mr. Snitchey, »werden Sie anders denken.«
Craggs, den Snitchey offenbar vertrat und der sich seines besonderen Daseins als Einzelwesen bisher wenig bewußt schien, gab jetzt eine selbständige Bemerkung zum besten. Sie bezog sich auf den einzigen Gedanken, den er nicht mit Snitchey zu gleichen Teilen besaß, der aber vermutlich Gemeingut einiger Weltweisen war. »Es wird zu leicht gemacht«, sagte also Mr. Craggs.
»Das Prozessieren?« fragte der Doktor.
»Ja«, sagte Mr. Craggs, »auch das! Alles auf der Welt scheint mir heutzutage zu leicht gemacht zu werden. Das ist die Schwäche dieser Zeit. Wenn die Welt ein Jux ist – ich will es gar nicht leugnen, so sollte es wenigstens ein anstrengender Jux sein. Ein Kampf, Sir, so hart wie möglich. Das ist der Zweck. Aber es wird zu leicht gemacht. Wir ölen die Türen des Lebens. Sie sollten rostig sein. Nächstens werden sie sich ganz geräuschlos bewegen. Und sie sollen doch in den Angeln knarren, Sir.«
Mr. Craggs schien selbst in seinen Angeln zu knarren, als er diese Meinung aufstellte, die so gut zu seinem Äußern paßte. Er war ein kalter, harter, trockner Mann, in Grau und Weiß gekleidet wie ein Feuerstein und mit einem Geblinzel in den Augen, als ob jemand Funken aus ihnen schlüge. Alle drei großen Reiche der Natur waren in diesen drei Sprechern vertreten: Snitchey sah wie eine Elster aus oder wie ein Rabe, nur nicht so glatt, und der Doktor hatte ein streifiges Gesicht wie ein Zitronenapfel mit hier und da einem Grübchen drin, wo die Vögel gepickt haben mochten, und ein winziges Stück Zopf hinten, das den Stiel vorstellen konnte.
Als die biegsame Gestalt eines hübschen, jungen Herrn im Reiseanzug – begleitet von einem Mann, der sein Gepäck trug – mit lebhaftem Schritt und einem Gesicht voll Frohsinn und Hoffnung, das zu dem Morgen gut paßte, in der Gartentüre erschien, traten ihm die drei entgegen, wie die Brüder der drei Parzen oder wie die höchst geschickt verkleideten Grazien oder wie die drei Männer im feurigen Ofen, und begrüßten ihn:
»Auf fröhliche Wiederkehr, Alf«, sagte der Doktor heiter.
»Hundertfache Wiederkehr dieses verheißungsvollen Tages, Mr. Heathfield«, sagte Snitchey mit einer tiefen Verbeugung.
»Wiederkehr«, brummte Craggs mit tiefem Baß.
»Eine ganze Batterie«, rief Alfred aus und blieb stehen. »Eins – zwei – drei, lauter Vorboten von nichts Gutem auf dem großen Lebensmeer vor mir. Ich bin nur froh, daß Sie nicht die ersten sind, die ich heute morgen sehe. Es wäre eine schlechte Vorbedeutung gewesen. Aber Grace war die erste. Die süße, liebe Grace – so nehm ich's mit Ihnen allen auf!«
»Wenn Sie gestatten, Mister, so war ich die erste«, sagte Clemency Newcome. »Sie ging hier draußen spazieren vor Sonnenaufgang, wenn Sie sich erinnern. Ich war drinnen.«
»Das ist wahr, Clemency war die erste«, sagte Alfred. »So muß es eben Clemency mit Ihnen aufnehmen.«
»Hahaha, mit meiner Wenigkeit und Craggs«, sagte Snitchey, »welche ungleichen Kräfte.«
»Nur scheinbar«, sagte Alfred, schüttelte dem Doktor herzlich die Hand und dann auch Snitchey und Craggs und sah sich um. »Wo sind denn die – Herr, du meine Güte!«
Mit einer Bewegung, die so rasch war, daß sie Jonathan Snitchey und Thomas Craggs in nähere Berührung miteinander brachte, als kontraktlich zwischen ihnen ausgemacht war, eilte er dorthin, wo die beiden Schwestern standen, und – – – doch ich brauche wohl nicht erst zu erzählen, wie er zuerst Marion und dann Grace begrüßte, und bemerke nur, daß Mr. Craggs wahrscheinlich festgestellt haben würde, er mache es sich »viel zu leicht«.
Vielleicht um eine andere Situation eintreten zu lassen, eilte jetzt Dr. Jeddler zum Frühstückstisch, und alle setzten sich nieder. Grace hatte den Vorsitz, plazierte sich aber so geschickt, daß sie ihre Schwester und Alfred von der übrigen Gesellschaft trennte. Snitchey und Craggs saßen an entgegengesetzten Enden, zwischen sich der Sicherheit halber die blaue Tasche, und der Doktor hatte wie gewöhnlich seinen Platz Grace gegenüber eingenommen. Clemency zuckte wie an galvanischen Drähten um den Tisch und bediente. Der melancholische Britain versah an einem Seitentische das Amt eines Vorschneiders bei Rindskeule und Schinken.
»Fleisch?« fragte Britain, indem er sich Mr. Snitchey mit Vorlegmesser und Gabel in der Hand näherte, und ihm die Frage wie ein Wurfgeschoß an den Kopf schleuderte.
»Gewiß«, erwiderte der Advokat.
»Wollen Sie auch welches?« zu Craggs gewendet.
»Mager und durchgebraten«, antwortete dieser Herr.
Nachdem Britain diese Befehle zur Ausführung gebracht und den Doktor in bescheidenem Maße versorgt hatte – daß sonst niemand etwas zu essen verlangte, schien er vorauszusetzen –, blieb er auf einem Platze stehen, der Anwaltsfirma so nahe, wie es sich mit der Schicklichkeit nur irgendwie vertrug, und bewachte mit strengem Blick die Art, wie sie mit ihrem Fleisch umgingen. Bloß ein einziges Mal milderte er den ernsten Ausdruck seiner Züge. Dies geschah, als Mr. Craggs, dessen Zähne nicht mehr die besten waren, sich verschluckt hatte und heftig husten mußte. Da war ein Leuchten über sein Gesicht gegangen, und er hatte lebhaft ausgerufen: »Ich habe schon gemeint, es ist rum mit ihm.«
»Nun, Alfred«, sagte der Doktor, »ein paar Worte über geschäftliche Dinge, solange wir noch beim Frühstück sitzen.«
»Solange wir noch beim Frühstück sitzen«, bekräftigten Snitchey und Craggs, die noch gar nicht ans Aufhören zu denken schienen.
Obwohl Alfred noch gar nichts gegessen hatte und anderweitig in Anspruch genommen war, wie es schien, sagte er doch ehrerbietig:
»Wie Sie wünschen, Sir.«
»Wenn etwas Ernsthaftes«, begann der Doktor, »in diesem –«
»Possenspiel, Sir«, ergänzte Alfred.
»Possenspiel ist«, fuhr der Doktor fort, »so ist es das Zusammentreffen dieses Abschiedstages mit einem zwiefachen Geburtstag, an den sich für uns vier manche angenehme Erinnerung knüpft und der uns immer unser langes und freundschaftliches Beisammenleben ins Gedächtnis zurückrufen wird. Doch das gehört nicht zur Sache!«
»O doch, doch, Dr. Jeddler«, sagte der junge Mann, »es gehört sehr wohl zur Sache. Das sagt mein Herz diesen Morgen, und Ihres würde es auch tun, wenn Sie's nur zu Worte kommen ließen. Ich verlasse heute Ihr Haus, höre auf, Ihr Mündel zu sein, und wir scheiden mit zarten Beziehungen im Herzen, die sich weit in die Vergangenheit zurückerstrecken, und mit andern, die noch in der Zukunft liegen« (dabei blickte er auf die neben ihm sitzende Marion nieder), »mit Banden, so reich an Hoffnungen, daß ich es jetzt zu sagen mich gar nicht getraue. Ja, ja«, fuhr er fort, sich über seine Feierlichkeit und den Doktor zugleich lustig machend, »es steckt ein ernstes Korn in diesem großen, närrischen Erdhaufen, Doktor. Lassen wir heute wenigstens gelten, daß noch ein Körnchen Ernsthaftigkeit drin steckt.«
»Heute«, rief der Doktor, »hört, hört! Hahaha! Heute gerade in dem närrischen Jahr. Gerade heute am Jahrestage der großen Schlacht, die auf diesem Grund und Boden geschlagen wurde. Auf diesem Grund und Boden, wo wir jetzt sitzen, wo meine beiden Mädchen heute früh tanzten, wo das Obst zu unserm Frühstück eben gepflückt wurde von Bäumen, die nicht in der Erde, sondern in Menschen wurzeln! – Hier mußten so viele das Leben lassen, daß in meiner Jugend – noch Generationen später – ein ganzer Kirchhof voll Gebein und Knochenstaub und Splitter gespaltener Schädel zu unsern Füßen ausgegraben wurde. Und doch wußten nicht hundert Menschen in dieser Schlacht, warum und wofür sie kämpften, nicht hundert von denen, die über den Sieg frohlockten, warum sie sich freuten. Und nicht ein halbes Hundert Menschen wurden besser durch den Gewinn oder den Verlust. Nicht ein halbes Dutzend sind sich bis zu dieser Stunde über die Ursache und die Wirkung einig, und niemand hat etwas Bestimmtes gewußt, höchstens die, die um die Erschlagenen getrauert haben. Und das soll man auch noch ernst nehmen«, sagte der Doktor lachend, »ein solches System.«
»Das scheint mir doch alles sehr ernst zu sein«, sagte Alfred. »Ernst«, rief der Doktor aus. »Wenn man solche Dinge ernst nehmen soll, muß man verrückt werden oder sterben oder sich auf einen hohen Berggipfel setzen und Einsiedler werden.«
»Außerdem – ist's doch so lange her«, sagte Alfred.
»Lange her!« entgegnete der Doktor. »Wissen Sie, was die Welt seit dieser Zeit getrieben hat? Ich nicht.«
»Sie hat ein bißchen prozessiert«, bemerkte Mr. Snitchey und rührte seinen Tee um.
»Obgleich es immer zu leicht gemacht worden ist«, sagte sein Kompagnon.
»Und Sie werden mich entschuldigen, Doktor«, fuhr Mr. Snitchey fort, »wenn ich sage, was ich Ihnen schon tausendmal im Laufe unserer Diskussionen gesagt habe, daß ich im Prozessieren und überhaupt in unserm Gerichtswesen etwas außerordentlich Ernstes sehe, etwas in Wirklichkeit Greifbares, etwas, in dem ein Zweck und eine Absicht liegt.«
Clemency Newcome war im schiefen Winkel gegen den Tisch getaumelt, was ein lautes Geklapper unter Tellern und Tassen hervorrief.
»Heidi, was ist denn los?« rief der Doktor aus.
»Das dumme Ding von einer blauen Tasche«, sagte Clemency, »fährt einem immer in die Beine.«
»Es liegt ein Zweck und eine Absicht darin, sagte ich gerade«, fing Snitchey wieder an, »die uns Achtung abringt. Das Leben wäre ein Possenspiel, Dr. Jeddler? Mit allen seinen Prozessen?«
Der Doktor lachte und blickte zu Alfred hinüber.
»Zugegeben! Der Krieg ist etwas Albernes«, sagte Snitchey. »Darin sind wir gleicher Meinung; – zum Beispiel hier sehen wir eine reizende Gegend«, er wies mit der Gabel ins Freie, »vorzeiten überschwemmt von Scharen von Soldaten – Übertreter des Gesetzes jeder einzelne – und verheert mit Feuer und Schwert. Hihihi! Der bloße Gedanke, daß sich jemand freiwillig dem Tod durch Feuer und Schwert aussetzt! Stupid und dumm, rein zum Lachen! Man muß die Achseln zucken über seine Mitmenschen, wenn man daran denkt. Aber nehmen wir diese freundliche Gegend, wie sie jetzt ist. Denken wir uns die aus dem Grundeigentumsgesetz entspringenden Rechtsverhältnisse, die Rechtshandlungen, ohne die sich Grundbesitz nicht vererben und verschenken läßt, die Verpfändung und Einlösung des Grundeigentums – man denke an die Freipacht, Erbpacht, Zeitpacht«, sagte Mr. Snitchey mit solcher Erregung, daß er buchstäblich mit den Lippen schmatzte, »denken wir an die komplizierten Gesetze, die sich auf dem Besitzrecht und der Beweisführung des Besitzrechtes aufbauen, an all die einander widersprechenden Präzedenzfälle und Parlamentsakte, die dazu gehören; an die unzählige Menge tiefsinniger und endloser Kanzleigerichtsprozesse, zu denen diese liebliche Gegend schon Veranlassung gegeben, und Sie müssen anerkennen, Dr. Jeddler, daß dies eine Oase in unserer Welt ist. Ich glaube«, sagte Mr. Snitchey mit einem Blick auf seinen Kompagnon, »daß ich im Sinne meiner Wenigkeit und Craggs' spreche.«
Nachdem Mr. Craggs beigestimmt, bemerkte Mr. Snitchey, dessen Lebensgeister durch diese Rede außerordentlich aufgefrischt worden waren, daß er noch ein wenig Fleisch und noch eine Tasse Tee nehmen wolle.
»Ich will nicht für das Leben im allgemeinen eintreten«, sagte er, sich kichernd die Hände reibend, »es ist voll von Torheit, voll von noch Schlimmerem. Beteuerungen der Treue, des Vertrauens und der Selbstlosigkeit und so weiter! Bah, bah, bah! Wir wissen, was sie wert sind. Aber Sie dürfen nicht über das Leben lachen. Sie haben eine Partie zu spielen – eine sehr ernste Partie. Alle Menschen spielen gegen Sie, verstehen Sie mich, und Sie spielen gegen alle Menschen. Oh, es ist eine außerordentlich interessante Sache! Es stehen tiefsinnige Züge auf dem Brett. Sie können höchstens lachen, Dr. Jeddler, wenn Sie gewinnen, und selbst dann nicht viel, hahaha. Und selbst dann nicht viel«, wiederholte Snitchey, wiegte den Kopf und kniff ein Auge zu, als wolle er damit sagen, Sie können höchstens das tun.
»Nun, Alfred«, rief der Doktor, »was sagen Sie jetzt?«
»Ich sage bloß«, erwiderte Alfred, »daß der größte Gefallen, den Sie mir und auch sich selbst tun können, der wäre, daß Sie manchmal versuchten, dieses Schlachtfeld und andere ähnliche angesichts des so unendlich größern Schlachtfeldes des Lebens, das die Sonne jeden Tag bescheint, zu vergessen.«
»Ich fürchte wirklich, Mr. Alfred, daß ihn das nicht umstimmen würde«, sagte Snitchey. »Die Streiter in diesem Lebenskampfe sind hitzig und sehr erbittert aufeinander. Da wird viel gehauen und gestochen und dem Nebenmenschen von hinten in den Kopf geschossen. Da wird schrecklich aufeinander herumgestampft und -getrampelt; es ist doch eine recht böse Sache das.«
»Ich glaube, Mr. Snitchey«, sagte Alfred, »daß in diesem Kampfe auch stille Siege gefeiert, große Opfer gebracht und Heldentaten begangen werden. Und wenn auch nur bei scheinbaren Nichtigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. Die aber darum nicht weniger schwierig zu vollbringen sind und die auch in keiner irdischen Chronik oder öffentlich bekannt werden. Taten, die jeden Tag in Ecken und Winkeln und kleinen Haushalten, in Männer- und Frauenherzen vollbracht werden und von denen eine jede auch den strengsten Tadler mit dieser Welt versöhnen und ihm Glauben und Hoffnung zurückgeben könnte. Wenn auch die halbe Bevölkerung Krieg und ein Viertel Prozesse führt. Und das will doch viel sagen.«
Beide Schwestern hörten aufmerksam zu.
»Gut, gut!« sagte der Doktor, »ich bin zu alt, um mich noch bekehren zu lassen, selbst von meinem Freund Snitchey hier nicht oder meiner guten, ledigen Schwester Martha Jeddler, die auch ihre jahrelangen– häuslichen Prüfungen gehabt hat, wie sie's nennt, und dadurch mildtätig und mildgesinnt gegen alle Art Menschen geworden ist und ganz dieselbe Ansicht hat wie Sie (wenn sie auch als Weib weniger vernünftig, dafür um so hartnäckiger ist), so daß wir uns gar nicht mehr vertragen können und einander nur selten sehen. Ich bin auf diesem Schlachtfeld geboren. Ich fing schon als Knabe an, mir über die Geschichte dieses Schlachtfeldes Gedanken zu machen. Sechzig Jahre sind über mein Haupt dahingegangen, und ich habe immer gesehen, daß die ganze Christenwelt mit, der Himmel weiß, wieviel zärtlichen Müttern und leidlich gut geratenen Töchtern, wie den meinen, ganz versessen auf ein Schlachtfeld war. Denselben Widersprüchen begegnen wir überall. Man muß entweder lachen oder weinen über solche unglaubliche Inkonsequenz. Ich ziehe es vor zu lachen.«
Britain, der jedem Sprecher in tiefster Aufmerksamkeit und Melancholie zugehört hatte, schien sich plötzlich zugunsten derselben Meinung zu entscheiden, wenn ein tiefer Grabeston, der aus ihm emporklang, für ein Lachen gehalten werden durfte. Sein Gesicht blieb aber dabei so unbeweglich, daß keiner der Frühstücksgäste, die sich alle erschreckt von dem unheimlichen Ton umdrehten, ihn für den Täter hielt. Ausgenommen die mitbedienende Clemency Newcome, die ihm mit einem ihrer Lieblingsgliedmaßen, dem Ellbogen, einen Stoß gab und ihn mit vorwurfsvollem Gewisper fragte, worüber er denn lache.
»Über dich nicht«, sagte Britain.
»Über wen denn?«
»Über die Menschheit«, sagte Britain, »es ist ein Jux.«
»Wahrhaftig, zwischen unseren Herrn und diesen Advokaten da wird er auch mit jedem Tag blöder und blöder«, rief Clemency aus und gab ihm als geistiges Erfrischungsmittel mit dem andern Ellbogen einen Stoß. »Du weißt wohl nicht, wo du bist. Du willst dir wohl den Kopf einrennen.«
»Ich weiß von nichts«, sagte Britain mit bleiernem Auge und unbeweglichem Gesicht. »Ich kümmere mich um nichts. Ich mach mir aus nichts was draus. Ich glaube nichts und ich brauche nichts.«
Wenn auch diese gedrängte Schilderung in einem Anfall von Schwermut übertrieben sein mochte, so hatte doch Benjamin Britain – den man zuweilen Little Britain nannte, um ihn von Great Britain, das heißt Groß-Britannien, zu unterscheiden, so wie man auch Jung-England als Gegensatz hinstellt zu Alt-England – seinen wirklichen Geisteszustand damit viel besser gezeichnet, als es auf den ersten Blick schien. In einem Dienstverhältnis zu Dr. Jeddler stehend wie weiland der Famulus Miles zu dem Adepten Baco und Tag für Tag gezwungen, die zahllosen Reden mit anzuhören, die der Doktor an Leute verschiedensten Standes richtete und die alle auf den Beweis hinausliefen, daß sogar die eigene Existenz bestenfalls ein Irrtum und eine Absurdität sei, war dieser unglückselige Diener allmählich in einen solchen Abgrund konfuser und widerspruchsvoller Begriffe, die ihn von außen und innen bedrängten, geraten, daß die Wahrheit auf dem Boden ihres Bronnens im Vergleich mit Britains Tiefe geistiger Verfinsterung sich geradezu auf ebener Erde befand. Das einzige, was er klar begriff, war, daß das neue Element, das Snitchey und Craggs in diese Diskussionen hereinbrachten, nicht geeignet war, die Sache aufzuklären, und des Doktors Philosophie nur zu bestätigen schien. Deshalb sah er in den beiden Advokaten nur Miturheber seines Gemütszustandes und verabscheute sie entsprechend.
»Aber dies geht uns jetzt nichts an, Alfred«, sagte der Doktor. »Sie hören mit heute auf, mein Mündel zu sein, und verlassen uns bis zum Rande gefüllt mit dem Wissen, das die Lateinschule hier – und Ihre Studien in London und ein alter, einfacher Landdoktor wie ich – Ihnen geben konnten. So treten Sie jetzt in die Welt ein. Der erste Abschnitt der von Ihrem seligen Vater festgesetzten Prüfungszeit ist jetzt vorüber, und Sie gehen nun als Ihr eigener Herr hinaus, um seinen zweiten Wunsch zu erfüllen; und lange ehe Ihr dreijähriger Kursus an den ausländischen Schulen der Medizin vorbei ist, werden Sie uns vergessen haben. Du mein Gott, es wird nicht einmal sechs volle Monate dauern.«
»Wenn Sie das so genau wissen, warum soll ich da mit Ihnen streiten?« fragte Alfred lachend.
»Ich weiß gar nichts der Art genau«, erwiderte der Doktor. »Was meinst du dazu, Marion?«
Marion spielte mit ihrer Tasse und schien sagen zu wollen – sagte es aber nicht –, daß er sie nur vergessen möge, wenn er könne.
Grace drückte das blühende Gesicht an ihrer Schwester Wangen und lächelte.
»Ich hoffe, ich bin kein schlechter Verwalter des mir anvertrauten Guts gewesen«, fuhr der Doktor fort, »aber jedenfalls muß ich heute in aller Form meines Amtes enthoben werden, und hier sind unsere guten Freunde Snitchey und Craggs mit einem Koffer voll Papieren und Rechnungen und Dokumenten über das Vermögen, das ich Ihnen zu übergeben habe (ich wollte, Alfred, es wäre größer, aber Sie müssen zusehen, daß Sie ein bedeutender Mann werden und es vermehren können), nebst anderm dummen Zeug der Art, das zu unterschreiben, zu besiegeln und zu übergeben ist.«
»Und rechtskräftig zu bezeugen ist, wie es das Gesetz verlangt«, sagte Snitchey, indem er seinen Teller wegschob und die Papiere hervorholte, die sein Kompagnon sodann auf dem Tische ausbreitete. »Und da meine Wenigkeit & Craggs gemeinschaftlich mit Ihnen, Doktor, Kuratoren des Vermögens waren, so brauchen wir Ihre beiden Dienstboten zur Zeugenunterschrift – können Sie lesen, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, Mister«, sagte Clemency.
»Oh, hätte mir's denken können«, und er warf einen Blick auf ihre außergewöhnliche Gestalt. »Sie können doch lesen?«
»Ein wenig«, antwortete Clemency.
»Die Trauungsformel früh und abends, nicht wahr?« scherzte der Advokat.
»Nein«, sagte Clemency. »Ist mir zu schwer. Ich les' nur den Fingerhut.«
»Den Fingerhut?« wiederholte Snitchey. »Was schwatzen Sie da zusammen, junges Frauenzimmer?«
Clemency nickte und sagte: »Und den Muskatreiber.«
»Die ist mondsüchtig! Etwas für den Lord Oberkanzler«, sagte Snitchey und starrte sie an.
»Sofern sie etwas Vermögen besitzt«, warf Craggs hin.
Jetzt mischte sich aber Grace hinein und verriet, daß auf den beiden fraglichen Stücken ein Motto eingraviert sei und daß sie für Clemency Newcome, die sich mit Büchern nicht viel abgebe, eine Art Taschenbibliothek bedeuteten.
»Ach so ist's, so ist's, Miss Grace!« sagte Snitchey. »Ja so. Hahaha! Ich dachte schon, sie sei verrückt. Sie sieht ganz danach aus«, murmelte er mit einem hochmütigen Blick. »Und was steht auf dem Fingerhut, Mrs. Newcome?«
»Ich bin nicht verheiratet, Mister«, bemerkte Clemency.
»Also gut: Newcome! Ist's jetzt recht?« fragte der Advokat. »Was steht also auf dem Fingerhut, Newcome?«
Wie Clemency, ehe sie diese Frage beantwortete, eine Rocktasche aufhielt und in die gähnende Tiefe nach einem Fingerhut spähte, der nicht drin war, wie sie dann die andere Tasche aufmachte und ihn tief unten wie eine Perle von unschätzbarem Werte auf dem Grunde zu entdecken schien, wie sie dann alle darüber liegenden Hindernisse, als da waren ein Schnupftuch, ein Wachslichtstumpf, ein rotbäckiger Apfel, eine Orange, ein Glückspfennig, ein Vorhängschloß, eine Schere in einem Futteral, besser gesagt, ein junges vielversprechendes Scherenkind, eine Handvoll Glasperlen, mehrere Garnknäuel, eine Nadelbüchse, eine vollständige Sammlung von Haarwickeln und ein Zwieback, wegräumte und jeden dieser Gegenstände einzeln Britain zu halten gab, ist nebensächlich. Auch wie sie bei ihrem Bemühen, diese Tasche an der Kehle zu packen und festzuhalten – sie hatte einen eigentümlichen Hang, zu baumeln und zu entschlüpfen –, eine Stellung einnahm und sich seelenruhig darin behauptete, die allem Anschein nach mit der menschlichen Anatomie und den Gesetzen der Schwerkraft in vollkommenstem Widerspruch stand. Es genügt, zu konstatieren, daß sie schließlich frohlockend den Fingerhut ansteckte und mit dem Muskatreiber klapperte, wobei nur hervorzuheben ist, daß die Literatur auf diesen beiden Geräten infolge der steten übermäßigen Reibung dem Verschwinden nahe war.
»Das ist also der Fingerhut«, sagte Mr. Snitchey, um sich auf ihre Kosten einen Spaß zu machen, »und was sagt der Fingerhut?«
»Der Fingerhut sagt«, antwortete Clemency und las sich langsam um ihn herum wie um einen Turm: »Ver–giß–und–ver–gib–!« Snitchey und Craggs lachten herzlich. »So neu!« sagte Snitchey. »So leicht zu merken!« sagte Craggs. »So viel Menschenkenntnis liegt darin«, sagte Snitchey. »So anwendbar fürs praktische Leben«, sagte Craggs.
»Und der Muskatreiber sagt?« fragte das Haupt der Firma.
»Der Muskatreiber sagt«, entgegnete Clemency: »Was–du– nicht–willst–, das–man–dir-tu', das–füg–auch–keinem–andern– zu.«
»Schnapp zu, bevor du geschnappt wirst, meinen Sie wohl«, sagte Mr. Snitchey.
»Versteh ich nicht«, erwiderte Clemency und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Advokat nicht.«
»Ich fürchte, wenn sie es wäre, Doktor«, sagte Mr. Snitchey hastig und so schnell wie möglich, um im voraus den Eindruck zu verwischen, den diese Antwort möglicherweise hervorbringen konnte, »würde sie finden, daß es die goldene Lebensregel ihrer halben Klientel ist. Darin sind sie sehr ernsthaft – so närrisch sonst diese Welt ist – und schieben dann uns die Schuld in die Schuhe. Wir Rechtsanwälte sind in unserm Beruf wenig mehr als Spiegel, Mr. Alfred. Aber meistens ziehen uns böswillige und streitsüchtige Leute zu Rate, die nicht in den besten Verhältnissen sind, und deshalb soll man nicht auf uns schimpfen, wenn wir unfreundliche Mienen widerspiegeln. Ich denke«, sagte Mr. Snitchey »daß ich im Sinne meiner Wenigkeit & Craggs' spreche.«
»Entschieden«, sagte Craggs.
»Und so wollen wir denn, wenn Mr. Britain uns mit einem Schluck Tinte zu Dank verpflichten wollte«, sagte Mr. Snitchey und nahm die Papiere wieder zur Hand, »so bald wie möglich alles unterzeichnen, besiegeln und übergeben, sonst kommt die Postkutsche, ehe wir wissen, wo wir sind.«
Wenn man nach dem äußern Schein urteilen wollte, so war es sehr wahrscheinlich, daß die Kutsche vorbeikommen würde, ehe Mr. Britain wußte, wo er war; denn er stand ganz in Gedanken verloren da und wog im Geiste die Gründe des Doktors gegen die der Advokaten und die der Klienten gegen beide ab und machte schwache Versuche, den Fingerhut und den Muskatreiber (ihm bisher ein ganz neuer Begriff) mit irgendeinem ihm bekannten Philosophiesystem in Einklang zu bringen. Kurz, er zerbrach sich, wie nur je sein großer Namensvetter, Great-Britain, den Kopf mit Theorien und Systemen. Aber Clemency, sein guter Genius – er hatte zwar nur eine geringe Meinung von ihrem Verstande, da sie, zwar immer bei der Hand, um das Rechte zur rechten Zeit zu tun, sich nur selten um abstrakte Spekulationen kümmerte –, war unterdessen mit der Tinte erschienen und leistete ihm noch einen weitern Dienst damit, daß sie ihn durch einen Stoß mit dem Ellenbogen aus seiner Zerstreutheit riß und ihn wieder zu sich brachte.
Ich habe keine Zeit, ausführlich zu erzählen, wie Britain die bei Leuten seines Standes, denen der Gebrauch von Tinte und Feder ein Ereignis ist, so häufige Furcht quälte, daß er ein nicht von ihm selbst geschriebenes Dokument nicht mit seinem Namen unterzeichnen könnte, ohne sich einer noch ungekannten Gefahr auszusetzen oder sich unbewußt zur Zahlung ungeheuerer Summen zu verpflichten, und wie er sich den Dokumenten nur unter Protest und vom Doktor gezwungen näherte und darauf bestand, sie erst durchzulesen, ehe er unterschrieb (die verschnörkelte Handschrift und die Juristensprache kamen ihm chinesisch vor) und das Blatt erst umwenden zu dürfen, um zu sehen, ob auf der ändern Seite nichts Gefährliches stünde; und wie er, nachdem er seinen Namen unterschrieben, schwer unglücklich wurde, wie jemand, der sein ganzes Vermögen und alle seine Rechte aus der Hand gegeben hat.
Ebenso habe ich keine Zeit zu schildern, wie die blaue Advokatentasche, die seine Unterschrift aufbewahrte, später eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf ihn ausübte, so daß er sie gar nicht mehr verlassen wollte, ferner, wie Clemency Newcome, ganz außer sich vor Lachen bei dem Gedanken an ihre Wichtigkeit, sich mit beiden Ellenbogen wie ein ausgespannter Adler über den ganzen Tisch legte und den Kopf auf dem linken Arm ausruhen ließ, ehe sie sich an den künstlerischen Entwurf gewisser kabbalistischer Zeichen machte, die sehr viel Tinte brauchten und deren Spiegelbild sie während des Schreibens mit der Zunge in der Luft nachmalte. Ferner, wie sie, nachdem sie einmal Tinte gekostet, unersättlich wurde, wie ein Tiger, der Blut geleckt, und alles mögliche unterzeichnen und ihren Namen in alle Ecken schreiben wollte. Also kurz und gut, der Doktor wurde seines Amtes und seiner Verantwortlichkeit entbunden, Alfred nahm sie selbst auf sich und trat seine Lebensreise an.
»Britain«, sagte der Doktor, »lauf zur Gartentüre und sieh nach, ob die Postkutsche kommt. Die Zeit entflieht, Alfred.«
»Ja, Sir, ja«, antwortete der junge Mann hastig, »liebe Grace, einen Augenblick: Marion – so jung und schön, so begehrenswert und viel umworben, meinem Herzen so teuer wie nichts auf der Welt –, vergiß sie nicht! Ich lege Marion in deine Hände.«
»Sie war mir immer ein heiliges anvertrautes Pfand, Alfred. Sie ist's mir jetzt doppelt. Ich werde mich deines Vertrauens würdig erweisen, verlaß dich auf mich«, sagte Grace.
»Ich verlasse mich auf dich, Grace. Ich weiß es wohl. Wer könnte dir ins Gesicht sehen, deine ernste Stimme hören und es nicht wissen! O gute Grace! Hätte ich dein bezähmtes Herz und deine ruhevolle Seele, wie unbesorgt würde ich heute fortgehen.«
»Meinst du?« entgegnete Grace mit einem ruhigen Lächeln.
»Und doch, Grace – das Wort Schwester drängt sich mir auf die Lippen –«
»Ja! Nenne mich so«, sagte sie lebhaft, »ich höre es so gern. Nenne mich doch immer so.«
»Und doch – Schwester also –«, sagte Alfred, »ist es für Marion und mich besser, daß du so viel Treue und Beständigkeit hast und uns hier mit ihnen hilfst und uns beide glücklicher und besser machst. Ich würde dir diese Eigenschaften nicht wegnehmen, um mir damit den Abschied zu erleichtern, wenn ich auch könnte.«
»Kutsche! Oben auf der Höhe«, rief Britain.
»Die Zeit verstreicht«, sagte der Doktor.
Marion hatte abseits gestanden, die Augen zu Boden gesenkt, aber jetzt führte Alfred sie liebevoll zur Schwester hin und legte sie ihr an die Brust. »Ich habe Grace gesagt, liebe Marion«, sprach er, »daß ich dich bei meinem Scheiden ihrer Obhut anvertraue als mein teuerstes Kleinod, und wenn ich zurückkomme und dich zurückfordere, Geliebteste, und die schöne Zukunft unseres Ehelebens vor uns liegt, dann wird es eine unserer höchsten Freuden sein, nachzudenken, wie wir Grace glücklich machen, ihr die Wünsche an den Augen absehen, ihr unsere Liebe und Dankbarkeit zeigen und etwas von der Schuld abzahlen können, in der wir bei ihr stehen.« Die jüngere Schwester hatte eine Hand in die seine gelegt, die andere ruhte auf der Schwester Nacken. Sie sah in die ruhigen heitern Augen mit einem Blick voll Zuneigung, Verwunderung, Betrübnis und einem Staunen, das fast Verehrung war, sie sah in das Antlitz dieser Schwester, als wäre es das Antlitz eines lichten Engels. Ruhig und fröhlich blickte Graces Antlitz auf Marion und ihren Geliebten.
»Und wenn einmal die Zeit kommt, wie es eines Tages ja geschehen muß – ich wundere mich nur, daß sie nicht schon längst gekommen ist, aber Grace muß es ja am besten wissen, denn sie hat immer recht –, wo sie eines Freundes bedarf, um ihm das ganze Herz auszuschütten, der ihr ein Teil von dem sein soll, was sie uns gewesen ist, dann, Marion, dann wollen wir beweisen, welche Wonne es für uns ist, zu wissen, daß unsere liebe gute Schwester liebt und wieder geliebt wird, wie sie es verdient.«
Noch immer blickte Marion Grace in die Augen und wandte sich nicht von ihr, selbst nicht nach ihm hin. Und noch immer blickten diese ehrlichen Augen so ruhig, so heiter und freudig auf sie und ihren Geliebten.
»Und wenn die Jahre vergangen sein werden und wir alt sind und zusammenleben – ganz eng zusammen – und von den alten Zeiten reden«, sagte Alfred, »dann werden diese unsere liebsten sein und dieser Tag zumeist von allen andern Tagen. Wir werden uns erzählen, was wir beim Abschied gedacht, gefühlt und gehofft und wie wir uns kaum haben voneinander losreißen können.«
»Die Kutsche kommt durchs Gebüsch«, rief Britain.
»Ja, ich bin bereit! Und wenn wir uns wiedersehen – fröhlich –, möge kommen, was da wolle, dann müssen wir diesen Tag als den glücklichsten im ganzen Jahre anstreichen und wie einen dreifachen Geburtstag feiern. Nicht wahr, meine liebe Grace?«
»Ja«, fiel die ältere Schwester freudig und mit einem strahlenden Lächeln ein. »Ja, Alfred! Aber jetzt geh, es ist die höchste Zeit. Sage Marion Lebewohl, und der Himmel sei mit dir!«
Er drückte Marion an sein Herz. Als er sie losließ, schmiegte sie sich wieder an Grace und sah ihr mit demselben Blick voll gemischter Empfindungen in die ruhigen gelassenen Augen.
»Leben Sie wohl, Alfred, mein Junge«, sagte der Doktor. »Von ernstem Briefwechsel, unverbrüchlicher Zuneigung, Verlöbnis und so weiter in dieser – hahaha – ihr wißt schon, was ich sagen will – zu reden, wäre natürlich purer Unsinn. Ich kann nur sagen, daß, wenn Sie und Marion desselben närrischen Sinnes bleiben, wie Sie's jetzt sind, ich gegen Sie als Schwiegersohn, wenn die Zeit kommt, nichts einzuwenden habe.«
»Auf der Brücke«, rief Britain.
»Soll sie kommen«, sagte Alfred und drückte des Doktors Hand kräftig. »Denken Sie manchmal an mich, mein alter Freund und Vormund, mit so viel Ernst, als Ihnen möglich ist. Adieu, Mr. Snitchey; leben Sie wohl, Mr. Craggs.«
»Kommt schon die Straße herunter!« rief Britain.
»Einen Kuß von Clemency Newcome, alter, langer Bekanntschaft wegen – Hand her, Britain –, Marion, geliebtes Herz, leb wohl! Und Schwester Grace, vergiß meiner nicht.«
Das in seiner heitern Ruhe so schöne Gesicht nickte ihm als Antwort zu, aber Marion konnte kein Auge von ihrer Schwester wenden. Die Postkutsche hielt vor dem Tore. Ein geräuschvolles Hantieren mit dem Gepäck, und die Kutsche fuhr davon. Marion rührte sich nicht.
»Er winkt dir mit dem Hute, Liebling«, sagte Grace. »Dein Bräutigam, Herzchen, schau doch!«
Die jüngere Schwester hob den Kopf und drehte sich für einen Augenblick um. Als sie sich dann wieder zu ihrer Schwester wandte und zum erstenmal diesen ruhigen Augen voll begegnete, da fiel sie ihr schluchzend um den Hals.
»O Grace, Gott segne dich! Aber ich kann den Anblick nicht ertragen! Er bricht mir das Herz!« 




Zweiter Teil


Snitchey und Craggs hatten eine hübsche kleine Kanzlei auf der alten Walstatt, wo sie ein hübsches kleines Geschäft betrieben und eine große Menge kleiner regelrechter Schlachten für ebenso zahlreiche streitende Klienten ausfochten. Obwohl man eigentlich nicht sagen konnte, daß diese Kämpfe im allgemeinen flotte Gefechte gewesen wären, denn in Wirklichkeit gingen sie im Schneckengang, so waren sie es doch für die Firma selbst, die bald einen Schuß auf diesen Kläger abgab, bald jenen Verteidiger aufs Korn nahm, jetzt mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfiel und dann wieder ein Scharmützel mit einer irregulären Truppe kleiner Schuldner ausfocht, wie es der Zufall gerade wollte und wie der Feind ihr entgegentrat. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die »Gazette« ein wichtiges und nötiges Blatt, und von den meisten Aktionen, in denen sie ihr Feldherrntalent bewiesen, sagten die Kombattanten später aus, daß sie wegen des vielen Schwefeldampfes, von dem sie sich umgeben gefühlt, einander nur schwer hätten unterscheiden können und kaum hätten sehen können, was eigentlich vorging. Die Kanzlei der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem hinter einer immer offenen Türe, zwei glatte Stufen tief auf dem Marktplatz, so daß jeder streitlustige Farmer, den es nach einer heißen Douche verlangte, ohne Umstände hineinstolpern konnte. Ihre Konferenzen hielten sie eine Treppe hoch in einem Hinterzimmer mit einer niedrigen dunklen Decke ab, das aussah, als ob es die Brauen in finsterem Nachdenken über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Das Mobiliar bestand aus einigen Lederstühlen mit hohen Lehnen, besetzt mit großen runden Messingnägeln, von denen hier und da ein paar ausgefallen oder auch unbewußt von den umherirrenden Daumen und Zeigefingern in Verwirrung gesetzter Klienten herausgezogen worden waren. Es hing ein eingerahmter Stahlstich, das Porträt eines berühmten Richters, an der Wand, jede Locke der schrecklichen Perücke danach angetan, einem Menschen das Haar zu Berge stehen zu machen. Ballen von Papier füllten die staubigen Schränke, Regale und Tische, und rings die Wandtäfelung entlang standen Reihen von feuerfesten, mit Vorhängschlössern versehenen Kisten. Mit Namen, die angsterfüllte Klienten wie unter einem grausamen Zauber vorwärts und rückwärts zu buchstabieren sich gezwungen fühlten, während sie scheinbar Snitchey und Craggs zuhörten, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Snitchey und Craggs hatten wie im Berufs-, so auch im Privatleben einen Partner auf Lebenszeit. Das heißt, sie waren verheiratet. Snitchey und Craggs, die besten Freunde von der Welt, schenkten einander volles Vertrauen. Aber wie so etwas häufig im Leben vorkommt, betrachtete Snitcheys Gattin Mr. Craggs vorsätzlich mit argwöhnischem Auge, und dasselbe tat Mrs. Craggs hinsichtlich Mr. Snitchey.
»Na, du mit deinen Snitcheys«, pflegte Mrs. Craggs zu ihrem Gatten zu sagen, indem sie die Mehrzahl anwandte, als ob sie geringschätzig von einem Paar nicht einwandfreier Pantoffeln oder anderen Gegenständen, die in der Einzahl nicht vorkommen, spräche, »du mit deinen ewigen Snitcheys, ich weiß nicht, was du mit deinen ewigen Snitcheys willst. Du verläßt dich viel zuviel, kommt mir vor, auf deine Snitcheys, und ich hoffe nur, daß meine Worte niemals zur Wahrheit werden.« Mrs. Snitchey hingegen äußerte sich zu ihrem Mann über Craggs in dem Sinne, daß, wenn er – Snitchey – sich jemals von einem Menschen auf Abwege bringen ließe, es nur durch diesen Mann geschehen würde. Und wenn je in einem sterblichen Auge sich Falschheit spiegle, so in Craggs' Auge.
Nichtsdestoweniger waren sie doch recht gute Freunde, und zwischen Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs bestand ein besonderes enges Bündnis gegen die »Kanzlei«, die in ihren Augen eine Art Blaubartkammer war – ein gemeinsamer Feind voll gefährlicher, weil unbekannter Umtriebe.
In dieser Kanzlei sammelten indessen Snitchey und Craggs Honig aus ihren mannigfachen Bienenstöcken. Hier pflegten sie sich an schönen Abenden am Fenster ihres Konferenzzimmers, das hinaus auf die alte Walstatt sah, aufzuhalten und sich zu wundern (aber das war gewöhnlich nur in der Schwurgerichtszeit, wenn die übermäßige Praxis sie sentimental machte) über die Torheit des Menschengeschlechts, das nicht in Frieden leben und seine Prozesse vor dem Zivilgericht ausfechten wollte. Hier zogen Tage und Wochen, Monate und Jahre an ihnen vorbei, und ihr Kalender, die allmählich abnehmende Zahl der Messingnägel in den Ledersesseln und die anwachsenden Stöße Papier auf dem Tische legten Zeugnis davon ab. Fast drei Jahre waren seit jenem Frühstück im Obstgarten verflossen, da saßen die beiden wieder eines Abends beisammen bei einer Konferenz. Die Zeit hatte den einen mager und den andern dick gemacht.
Ein Mann in den Dreißigern, ein wenig salopp angezogen und ein bißchen verlebt in den Zügen, sonst aber gut gewachsen und fein gekleidet, saß bei ihnen in dem Staatslehnstuhl, die eine Hand in der Brust des Rockes, die andere in dem etwas zerwühlten Haar, und in trübes Nachdenken versunken. Die Herren Snitchey und Craggs saßen an einem Pulte daneben einander gegenüber. Eine der feuerfesten Kisten war aufgesperrt, ein Teil ihres Inhalts lag auf dem Tisch ausgebreitet, während der Rest durch die Hand Mr. Snitcheys ging, der ein Dokument nach dem andern ans Licht hielt, jedes Papier einzeln ansah, dabei den Kopf schüttelte und es dann Mr. Craggs hinreichte, der es ebenfalls ansah, dabei den Kopf schüttelte und es wieder weglegte. Zuweilen hielten sie inne, schüttelten gemeinsam den Kopf und blickten auf ihren in Gedanken versunkenen Klienten. Da auf der Kiste stand: Michael Warden, Hochwohlgeboren, konnte man wohl schließen, daß Name wie Kiste zu diesem Klienten gehörten und daß die Angelegenheiten Michael Wardens Hochwohlgeboren schlecht standen.
»Das ist alles«, sagte Mr. Snitchey und legte das letzte Papier hin. »Ich sehe keine weitere Möglichkeit. Keine weitere Möglichkeit.«
»Alles verloren, verschwendet, verpfändet, verschuldet und verkauft, was?« sagte der Klient und blickte auf.
»Alles«, sagte Mr. Snitchey.
»Es läßt sich nichts mehr machen, sagen Sie?«
»Gar nichts mehr.«
Der Klient kaute an seinen Nägeln und versank wieder in Brüten.
»Und ich bin nicht einmal persönlich mehr sicher in England, meinen Sie?«
»In keinem Teil des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland«, antwortete Snitchey.
»Also so etwas wie ein verlorner Sohn! Aber einer, der keinen Vater hat, um zu ihm zurückzukehren, keine Schweine, um sie zu hüten, und keine Treber, um sie mit ihnen zu teilen, was?« fuhr der Klient fort, ein Bein über das andere schlagend, die Augen zu Boden gesenkt.
Mr. Snitchey hustete bloß, als wolle er sich gegen einen Vergleich zwischen einer allegorischen Darstellung und einem Rechtsverhältnisse verwahren. Mr. Craggs hustete ebenfalls, um zu erkennen zu geben, daß das gemeinsame Ansicht der Firma sei.
»Ruiniert mit dreißig Jahren«, sagte der Klient, »uff!«
»Nicht ruiniert, Mr. Warden«, antwortete Snitchey, »so schlimm steht's nicht. Sie haben sich nach Kräften bemüht, muß ich gestehen, aber ruiniert sind Sie nicht. Ein wenig Einschränkung – ein wenig Haushalten –«
»Ein wenig zum Teufel«, sagte der Klient.
»Mr. Craggs«, sagte Snitchey, »würden Sie mich mit einer Prise verpflichten? Besten Dank, Sir.«
Während der unerschütterliche Rechtsanwalt den Tabak in die Nase schnupfte, versonnen und offenbar mit großem Genuß in diese Beschäftigung vertieft, verzog der Klient langsam das Gesicht zu einem Lächeln, sah auf und sagte:
»Sie sprechen von Haushalten. Wie lange haushalten?«
»Wie lange haushalten?« antwortete Snitchey und schnappte die letzten Tabakkörner von den Fingern und nahm in seinem Kopfe eine lange Berechnung vor. »Bei Ihrem verschuldeten Vermögen, Sir? In guten Händen, Sir? S. & C.'s Händen, sagen wir? Sechs bis sieben Jahre!«
»Sechs bis sieben Jahre lang verhungern«, sagte der Klient mit ärgerlichem Lachen und ungeduldig auf dem Stuhle hin und her rutschend.
»Sechs bis sieben Jahre lang verhungern, Mr. Warden, wäre etwas außergewöhnlich Ungewöhnliches«, sagte Snitchey. »Sie könnten sich während der Zeit damit sehen lassen und ein großes Vermögen dabei verdienen. Aber wir sind der Meinung, Sie würden es nicht aushalten! Ich spreche für meine Wenigkeit & Craggs – und rate infolgedessen davon ab.«
»Also was raten Sie eigentlich?«
»Einschränken«, wiederholte Snitchey. »Haushalten. Ein paar Jahre Haushalten unter der Aufsicht meiner Wenigkeit & Craggs' würde alles wieder in Ordnung bringen. Um uns aber in Stand zu setzen, Termine anbieten und einhalten zu können und auch Ihnen zu ermöglichen, Termine einzuhalten, müssen Sie im Ausland leben. Was das Verhungern anbelangt, können wir Ihnen selbst jetzt schon ein paar hundert Pfund jährlich aussetzen, selbst schon für den Anfang, getraue ich mir zu sagen, Mr. Warden.«
»Einige hundert«, sagte der Klient, »und ich habe Tausende gebraucht.«
»Darüber«, entgegnete Mr. Snitchey und legte die Papiere bedächtig wieder in die eiserne Kiste, »darüber besteht kein Zweifel. Besteht kein Zweifel«, wiederholte er zu sich selbst, gedankenvoll in seiner Beschäftigung fortfahrend.
Der Advokat kannte höchstwahrscheinlich seinen Mann; jedenfalls übte seine trockene, verschmitzte und wunderliche Weise einen günstigen Einfluß auf die Verdrossenheit seines Klienten aus und stimmte ihn freier und ungezwungener. Vielleicht kannte auch der Klient seinen Mann und hatte das Angebot nur herausgelockt, um den Plan, mit dem er jetzt herausrückte, besser verteidigen zu können. Er erhob langsam den Kopf und sah seinen undurchdringlichen Ratgeber mit einem Lächeln an, aus dem bald ein Lachen wurde.
»Offenbar, mein starrköpfiger Freund«, sagte er.
Mr. Snitchey zeigte auf seinen Kompagnon: »... und Craggs, Sie entschuldigen, Mr. Warden! – und Craggs.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Craggs«, sagte der Klient. »Offenbar also, meine starrköpfigen Freunde«, er lehnte sich in seinem Sessel vor und senkte die Stimme ein wenig, »kennen Sie meinen Ruin noch nicht zur Hälfte.«
Mr. Snitchey fuhr zusammen und starrte ihn an. Mr. Craggs tat desgleichen.
»Ich bin nicht nur bis über die Ohren verschuldet«, sagte der Klient, »sondern auch bis über die Ohren –«
»Doch nicht verliebt?« rief Snitchey.
»Ja«, sagte der Klient, indem er in den Stuhl zurücksank und die Anwaltfirma, die Hände in die Taschen gesteckt, betrachtete: »Bis über die Ohren verliebt.«
»In eine Erbin?« fragte Snitchey.
»Nicht in eine Erbin.«
»Auch nicht in eine reiche Dame?«
»Nicht reich, soviel ich weiß, außer an Schönheit und Tugend.«
»In eine unverheiratete Dame, hoffe ich«, sagte Mr. Snitchey mit großem Nachdruck.
»Natürlich.«
»Doch nicht in eine von Dr. Jeddlers Töchtern?« fragte Snitchey, plötzlich die Ellbogen auf die Knie stemmend und sein Gesicht wenigstens eine Elle weit vorstreckend.
»Doch«, erwiderte der Klient.
»Doch nicht in seine jüngere Tochter?« fragte Snitchey.
»Doch«, antwortete der Klient.
»Mr. Craggs«, sagte Snitchey, sichtlich erleichtert, »würden Sie mich nochmals mit einer Prise Tabak verpflichten! Ich danke ihnen, Sir. Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen sagen zu können, Mr. Warden, daß daraus nichts werden kann, Sir, denn sie ist verlobt. Mein Kompagnon kann es bestätigen. Wir sind von der Sachlage unterrichtet.«
»Wir sind von der Sachlage unterrichtet«, bestätigte Craggs.
»Nun, ich vielleicht auch«, antwortete der Klient ruhig. »Was will das besagen? Sie wollen welterfahrene Leute sein und haben noch nie gehört, daß ein Weib andern Sinnes werden kann.«
»Es sind allerdings Klagen wegen Bruchs des Eheversprechens schon vorgekommen«, sagte Mr. Snitchey, »sowohl gegen Bräute wie gegen Witwen, aber in den meisten Fällen –«
»Fällen«, unterbrach ihn der Klient ungeduldig, »kommen Sie mir nicht mit Fällen. Das Leben füllt einen viel größern Band, als Ihre juristischen Schmöker es sind. Übrigens glauben Sie vielleicht, ich habe umsonst sechs Wochen in des Doktors Haus gewohnt?«
»Ich meine, Sir«, bemerkte Mr. Snitchey ernst, zu seinem Kompagnon gewandt, »ich glaube, daß von allen Streichen, die Mr. Warden schon von seinen Pferden gespielt worden sind – und sie waren ziemlich zahlreich und ziemlich kostspielig, wie niemand besser weiß als er und wir beide –, der schlimmste der war, daß ihn eines derselben mit drei gebrochenen Rippen, einer Achselverrenkung und Gott weiß wie viel Quetschungen an Dr. Jeddlers Gartenmauer zurückgelassen hat. Damals, als wir ihn an des Doktors Hand genesen sahen, dachten wir an nichts Böses, aber jetzt sieht es schlimm aus, Sir, schlimm! Es sieht sehr schlimm aus. Und noch dazu Dr. Jeddler – unser Klient, was, Mr. Craggs?«
»Und Mr. Alfred Heathfield dazu – fast auch schon ein Klient, Mr. Snitchey«, sagte Craggs.
»Und Mr. Michael Warden, ebenfalls Klient. In gewisser Hinsicht«, bemerkte der Besucher ungeniert, »und obendrein kein schlechter, da er zehn bis zwölf Jahre lang ein guter Spielball war. Allerdings hat sich Mr. Warden jetzt die Hörner abgelaufen. Dort in der Kiste – liegen die Späne, und er gedenkt jetzt in sich zu gehen und klüger zu werden, und zum Beweis dessen will Mr. Warden, wenn er kann, Marion, des Doktors liebenswürdige Tochter, heiraten und sie mit sich nehmen.«
»In der Tat, Mr. Craggs –«, begann Snitchey.
»In der Tat, Mr. Snitchey und Mr. Craggs, hochgeschätzte Firma«, unterbrach der Klient. »Sie kennen doch Ihre Pflicht Ihrem Klienten gegenüber und wissen ganz genau, daß es nicht Ihre Sache ist, sich in eine Liebesangelegenheit zu mischen, die ich Ihnen anvertrauen mußte?! Ich denke nicht daran, die junge Dame ohne ihre Einwilligung zu entführen. Es ist nichts Ungesetzliches dabei. Ich war niemals Mr. Heathfields Busenfreund. Ich mache mich keines Vertrauensbruches gegen ihn schuldig. Ich liebe, wo er liebt, und denke zu gewinnen, wo er gewinnen wollte – wenn ich kann.«
»Er kann nicht, Mr. Craggs«, sagte Snitchey, sichtlich beunruhigt und nervös. »Es wird ihm nicht gelingen, Sir. Sie hängt sehr an Mr. Alfred.«
»Wirklich?« meinte der Klient.
»Mr. Craggs, sie ist geradezu vernarrt in ihn, Sir«, beteuerte Snitchey.
»Ich habe doch nicht umsonst sechs Wochen in des Doktors Hause gewohnt. Und ich hatte bald so meine Zweifel«, bemerkte der Klient. »Ja, sie würde sehr an ihm hängen, wenn es nach dem Willen ihrer Schwester ginge, aber ich habe sie beobachtet. Marion vermeidet es, seinen Namen auszusprechen, weicht dem Thema überhaupt aus, schon bei der leisesten Anspielung.«
»Warum sollte sie das, Mr. Craggs? Warum sollte sie das, Sir?« fragte Snitchey.
»Ich weiß nicht warum, obwohl es viele Erklärungsgründe dafür gibt«, sagte der Klient und lächelte innerlich über die Spannung und Betroffenheit, die sich in Mr. Snitcheys wißbegierig glänzendem Auge ausdrückte, und über die vorsichtige Weise, mit der er selbst die Unterhaltung führte, um von der Sache mehr zu erfahren. – »Aber daß es der Fall ist, weiß ich bestimmt. Sie war sehr jung, als sie sich verlobte – wenn man es überhaupt so nennen darf – und bereut es vielleicht. Vielleicht – es ist eine peinliche Sache, so etwas auszusprechen, aber meiner Seel, ich meine es nicht schlimm –, vielleicht hat sie sich in mich verliebt so wie ich mich in sie.«
»Hoho, Mister Alfred, ihr alter Spielgefährte, Sie wissen, Mr. Craggs«, sagte Snitchey mit gezwungenem Lachen, »kannte sie schon als Wickelkind.«
»Um so wahrscheinlicher, daß sie es endlich satt hat, an ihn zu denken«, fuhr der Klient gelassen fort, »und nicht abgeneigt ist, ihn mit einem neuen Liebhaber zu vertauschen, der ihr unter romantischeren Umständen vor Augen trat oder besser gesagt von seinem Pferd vor Augen gebracht wurde, mit einem Liebhaber, der in dem für ein Mädchen vom Lande nicht ungünstigen Rufe steht, leichtsinnig und flott gelebt und dabei nichts Böses getan zu haben, und der es seinem Äußern nach – es mag das schon wieder eingebildet klingen, aber meiner Seel, ich meine es nicht so – mit Mr. Alfred noch lange aufnehmen kann.«
Dagegen ließ sich nicht viel einwenden, eigentlich gar nichts. Mr. Snitchey erkannte das genau, als er seinen Klienten mit einem Blick streifte. Gerade in der Sorglosigkeit und Ungeniertheit, mit der sich jener gab, lag viel natürliche Anmut und Liebenswürdigkeit. Es mußte den Eindruck machen, daß sein hübsches Gesicht und seine elegante Gestalt noch viel besser sein könnten, wenn er nur wollte, und daß er voll Kraft und Energie sein könnte, wenn er nur einmal sich aufraffen und Ernst machen wollte. (Bis jetzt hatte er es noch nie getan.)
»Eine gefährliche Sorte von Lebemann«, sagte sich der geriebene Advokat, »der sich sogar das Feuer, dessen er in den Augen einer jungen Dame bedarf, ausborgt und schuldig bleibt.«
»Also hören Sie, Snitchey«, fuhr der Klient fort, indem er aufstand und den Rechtsanwalt bei einem Knopfe faßte, »und Sie, Craggs«, er faßte Craggs ebenfalls bei einem Knopfe und stellte den einen rechts, den ändern links, so daß keiner entschlüpfen konnte, »ich frage Sie nicht um Rat. Sie tun ganz recht daran, sich von dieser Sache vollständig fernzuhalten, die nicht derart ist, daß sich ernste, gesetzte Männer wie Sie hineinmischen könnten. Ich will Ihnen bloß kurz mit ein paar Worten meine Lage und meine Absichten darstellen und es dann Ihnen überlassen, für mich in meinen Geldangelegenheiten das Bestmögliche zu tun, denn Sie werden einsehen, wenn ich jetzt mit des Doktors schöner Tochter entfliehe (ich hoffe es zu tun und unter ihrem liebenswürdigen Einfluß ein anderer Mensch zu werden), dürfte das augenblicklich viel kostspieliger sein, als wenn ich allein fliehe. Doch wird sich dies durch eine veränderte Lebensweise bald wieder einbringen lassen.«
»Ich denke, es ist besser, wir verschließen diesen Ausführungen unser Ohr, Mr. Craggs«, sagte Snitchey und schielte zu seinem Kompagnon hinüber.
»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Craggs. Beide hörten trotzdem aufmerksam zu.
»Sie können ruhig Ihr Ohr verschließen«, antwortete der Klient. »Ich will es aber doch erzählen. Ich habe nicht vor, des Doktors Einwilligung mir zu erbitten, weil er sie mir sowieso nicht geben würde. Ich tue dem Doktor nichts Böses damit (übrigens, wie er selbst sagt, sind solche Kleinigkeiten durchaus nicht ernsthaft zu nehmen), will ich doch sein Kind, meine Marion, von etwas befreien, was sie, wie ich genau weiß, mit Bangen im Herzen kommen sieht, nämlich von der Rückkehr ihres früheren Liebhabers zu ihr. Wenn irgend etwas in der Welt wahr ist, so ist es das, daß sie seiner Rückkehr mit Schrecken entgegensieht. Es geschieht also niemand etwas Böses. Ich bin so gehetzt und gejagt gerade jetzt, daß ich das Leben eines fliegenden Fisches führe. Ich bin umlauert selbst im Finstern, bin ausgesperrt aus meinem eignen Haus und von meinem eignen Grund und Boden vertrieben. Aber dieses Haus und dieser Grund und Boden und manches Joch Feld dazu werden mir eines Tages wieder gehören, wie Sie wissen und selbst sagen, und Marion wird wahrscheinlich als meine Frau nach zehn Jahren reicher dastehen – das müssen Sie nach Ihrer Darlegung, die gewiß nicht sanguinisch ist, zugeben – als an Alfred Heathfields Seite, dessen Rückkehr sie mit Furcht entgegensieht (bedenken Sie das wohl) und dessen Leidenschaft nicht heißer als meine sein kann. Wem geschieht also irgendein Unrecht? Die Sache ist fair von Anfang bis zu Ende. Mein Recht ist das gleiche wie seines, wenn sie zu meinen Gunsten sich entscheidet. Und ich will es auf ihre Entscheidung ankommen lassen. Es wird Ihnen lieb sein, wenn Sie nicht mehr viel von dieser Sache hören, und ich werde Ihnen auch nicht weiter mehr erzählen. Jetzt kennen Sie mein Vorhaben und wissen, was mir not tut. Wann muß ich fort von hier?«
»In einer Woche«, sagte Snitchey. »Was meinen Sie, Mr. Craggs?«
»Eher noch früher, möchte ich glauben«, antwortete Craggs.
»In einem Monat«, sagte der Klient, nachdem er die Gesichter der beiden scharf beobachtet hatte. »Heute über einen Monat.
Heute haben wir Donnerstag. Ob es glückt oder mißlingt, von heute über einen Monat reise ich ab.«
»Die Frist ist zu lang«, sagte Snitchey, »viel zu lang. Aber sei es schon. Ich glaubte schon, er würde sich drei ausbedingen«, brummte er in sich hinein.
»Sie gehen schon? Guten Abend, Sir.«
»Guten Abend«, antwortete der Klient und schüttelte der Firma die Hände. »Sie sollen sehen, welch guten Gebrauch ich noch von Reichtum machen werde. Von heute an heißt der Stern meines Schicksals Marion!«
»Geben Sie auf die Treppe acht, Sir«, versetzte Snitchey, »denn dort scheint der Stern nicht. Guten Abend.«
»Guten Abend!«
Die beiden Rechtsanwälte standen auf der obersten Stufe, jeder eine Kanzleikerze in der Hand, und leuchteten ihm hinunter. Als er fort war, standen sie da und sahen einander an.
»Was denken Sie von all dem, Mr. Craggs«, sagte Snitchey.
Mr. Craggs schüttelte den Kopf.
»Es war wohl unsre Meinung an dem Tage, als die Vormundschaft aufgehoben wurde, daß in der Art, wie das Paar voneinander Abschied nahm, etwas nicht ganz richtig wäre, ich erinnere mich jetzt«, sagte Snitchey.
»So ist's«, sagte Mr. Craggs.
»Vielleicht täuscht er sich doch«, fuhr Mr. Snitchey fort, sperrte die feuerfeste Kiste ab und stellte sie weg. »Und wenn nicht, ist schließlich ein bißchen Flatterhaftigkeit und Untreue auch kein Wunder, Mr. Craggs. Und doch hätte ich gedacht, daß das hübsche Gesichtchen sehr treu aussähe. Mir kam es vor«, sagte Mr. Snitchey, indem er seinen großen Mantel wegen des kalten Wetters draußen umnahm und seine Handschuhe anzog und dann eine der beiden Kerzen auslöschte, »als ob ihr Charakter in letzter Zeit kräftiger und entschlossener geworden wäre, entschlossener sogar als der ihrer Schwester.«
»Mrs. Craggs war derselben Meinung«, bemerkte Craggs.
»Ich gäbe wirklich etwas darum«, bemerkte Mr. Snitchey der im Grunde sehr gutherzig war, »wenn ich hoffen dürfte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Aber so leichtsinnig, launenhaft und unbedacht er auch ist, so kennt er immerhin die Welt und die Menschen. Er muß es wohl und hat seine Kenntnis teuer genug bezahlt. Ich kann mir nicht recht denken, daß er sich täuscht. Wir tun wohl am besten, uns nicht hineinzumischen; wir können weiter nichts tun, Mr. Craggs, als schweigen.«
»Weiter nichts«, stimmte Craggs zu.
»Unser guter Freund, der Doktor, nimmt solche Sachen zu leicht«, sagte Snitchey kopfschüttelnd. »Ich hoffe, daß ihn seine Philosophie diesmal nicht im Stiche läßt. Unser junger Freund sprach viel vom Schlachtfeld des Lebens« – er schüttelte wieder den Kopf –, »ich hoffe, daß er nicht schon beim Morgenrot unter die Gefallenen zählt. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich will das andere Licht auslöschen.«
Als Mr. Craggs bejahte, ließ Mr. Snitchey die Tat dem Worte folgen, und sie tasteten sich aus der Kanzlei hinaus, die jetzt in Dunkelheit lag wie das Thema oder wie die Gesetzgebung im allgemeinen.
Meine Geschichte führt nun in ein kleines, stilles Studierzimmer, wo an demselben Abend die Schwestern und der muntere alte Doktor vor einem traulichen Kamin saßen. Grace nähte, Marion las aus einem Buche vor. Der Doktor, in Schlafrock und Pantoffeln, die Füße auf dem warmen Kaminteppich, hörte in seinem Lehnstuhl zu und betrachtete seine Töchter. Sie waren beide sehr schön. Zwei hübschere Gesichter hatten noch nie eine Kaminecke traulich und heimisch gemacht. Etwas von ihrer Verschiedenheit hatten die abgelaufenen drei Jahre gemildert, und auf der reinen Stirn der Jüngern Schwester, in ihrem Auge und dem Ton ihrer Stimme war dieselbe ernste Innigkeit zu erkennen, die bei ihrer altern Schwester eine mutterlos verlebte Jugend schon längst gereift hatte. Aber immer noch schien sie lieblicher und zarter als die andere, immer noch schien sie ihr Haupt an ihre Schwester lehnen zu wollen und auf sie zu bauen und Rat und Hilfe in ihren Augen zu suchen. In diesen liebevollen Augen, so ruhig, so heiter und so freundlich, wie ehedem.
»Und da sie jetzt im Vaterhause war«, las Marion aus dem Buche vor, »dem Vaterhause, das ihr so unendlich teuer geworden durch alle ihre Erinnerungen, begann sie jetzt zu fühlen, daß die schwere Prüfung ihres Herzens bald kommen müsse und sich nicht mehr würde aufschieben lassen. O Vaterhaus, unser Trost und Freund, wenn alle andern dahingegangen sind, von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab –«
»Meine liebe Marion!« sagte Grace.
»Aber Kätzchen!« rief ihr Vater aus. »Was fehlt dir denn?«
Marion faßte ihrer Schwester hingestreckte Hand und las weiter. Aber ihre Stimme bebte und zitterte, trotzdem sie sich bemühte, ihre Ergriffenheit zu verbergen.
»– von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab immer kummervoll ist. O Vaterhaus, uns allen so teuer, vergib uns, wenn wir uns von dir wenden, und sei nachsichtig, wenn unser Fuß strauchelt! Laß kein Lächeln aus alter Zeit in dem Blick deines Erinnerungsbildes leuchten! Keinen Strahl von Liebe, Milde, Nachsicht und Herzlichkeit ausgehen von dem Haupt in weißem Haar! Keine Erinnerung an Liebeswort und Liebesblick den anklagen, der dich verlassen. Nur wenn dein Blick strafend und streng ist, dann sieh in deiner Barmherzigkeit den Reuigen an.«
»Liebe Marion, lies nicht weiter heut abend«, sagte Grace, denn sie bemerkte die Tränen in den Augen ihrer Schwester.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Marion und klappte das Buch zu. Die Worte schienen sie zu brennen.
Der Doktor war sehr belustigt und streichelte ihr das Haar.
»So etwas! Von einem Roman ganz aus der Fassung gebracht, von Druckerschwärze und Papier! Na, na, es ist schließlich ein und dasselbe, es ist ebenso vernünftig, Papier und Druckerschwärze ernst zu nehmen, wie irgendein anderes Ding. Aber trockne deine Tränen, Kind, trockne doch deine Tränen. Ich bin überzeugt, die Heldin ist längst wieder im Vaterhaus und alles ist wieder gut – und wenn nicht, so besteht ein wirkliches Heim bloß aus vier Wänden und ein eingebildetes aus Papier und Tinte. Was ist denn schon wieder los?«
»Ich bin's bloß, Mister«, sagte Clemency und steckte den Kopf zur Türe herein.
»Und was fehlt dir denn?« fragte der Doktor.
»Mein Gott, mir nichts«, erwiderte Clemency.
Das war freilich wohl wahr, nach ihrem rein gewaschenen Gesicht zu urteilen, aus dem wie gewöhnlich die beste Laune strahlte, die sonst wenig hübschen Züge verschonend. Wohl gelten Abschürfungen auf dem Ellbogen gewöhnlich nicht als persönlicher Reiz oder Schönheitsflecke, aber besser, man stößt sich auf dem Gang durchs Leben bloß die Arme wund als die Laune: und Clemencys Gemütsstimmung war, was das anbetrifft, so frisch und gesund wie die irgendeiner Schönen des Landes.
»Nichts fehlt mir«, sagte Clemency und trat zur Türe herein. »Aber kommen Sie mal etwas näher, Mister.«
Einigermaßen erstaunt willfahrte der Doktor ihrer Einladung.
»Sie sagten, ich sollte Ihnen keinen geben, wenn die andern dabei sind«, sagte Clemency.
Ein in der Familie Fremder hätte nach ihrem merkwürdigen Liebäugeln bei diesen Worten und der eigentümlichen verzückten Bewegung ihrer Ellbogen, als wolle sie sich selbst umarmen, annehmen müssen, daß sie, milde ausgedrückt, einen ehrsamen Kuß meine. In der Tat schien der Doktor im ersten Moment selbst etwas bestürzt. Aber bald gewann er seine Fassung wieder, als Clemency begann, ihre beiden Taschen zu durchsuchen, wobei sie mit der rechten anfing, dann in der unrichtigen wühlte, zuletzt zu der rechten wieder zurückkehrte und einen Brief zum Vorschein brachte.
»Britain fuhr vorbei«, sagte sie und reichte den Brief dem Doktor hin, »gerade als die Post ankam, und wartete darauf. Es steht A. H. in der Ecke. Ich wette, Mr. Alfred ist auf der Heim- reise. Wir kriegen eine Hochzeit ins Haus – heut morgen waren zwei Löffel in der Suppenschüssel. Ach du mein Gott, wie langsam er ihn wieder aufmacht!«
Sie brachte das alles vor wie ein Selbstgespräch, reckte sich in ihrer Ungeduld, die Nachricht zu vernehmen, auf den Zehen immer höher und höher, drehte ihre Schürze zu Korkzieherform und machte einen Mund wie einen Flaschenhals. Auf dem Höhepunkt der Erwartung angekommen, weil der Doktor mit dem Briefe immer noch nicht fertig werden wollte, ließ sie sich plötzlich wieder auf die Fußsohlen fallen und bedeckte mit der Schürze ihr Gesicht, ganz verzweifelt und nicht mehr imstande, es noch länger auszuhalten.
»Hierher, Kinder!« schrie der Doktor. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe niemals in meinem Leben ein Geheimnis bei mir behalten können. Es gibt auch nicht viel, was geheim zu halten wäre in dieser – doch still davon. Also, Alfred ist schon auf dem Heimweg und kommt demnächst an.«
»Demnächst«, wiederholte Marion.
»Nun, so bald doch nicht, wie du in deiner Ungeduld wohl vermutest, aber immerhin bald genug. Laßt mal sehen. Heute ist Donnerstag, nicht wahr? Dann will er heute in einem Monat hier sein.«
»Von heute in einem Monat«, wiederholte Marion leise.
»Ein fröhlicher Tag und ein Festtag für uns«, sagte Graces heitere Stimme, und sie küßte Marion beglückwünschend.
»Ein lang erwarteter Tag, Liebling, aber endlich doch gekommen.«
Ein Lächeln war die Antwort, ein trübes Lächeln, aber voll schwesterlicher Liebe, und als sie Grace ins Gesicht sah und der ruhigen Musik ihrer Stimme lauschte, wie sie die Freude über die Rückkehr weiter ausspanne da glänzte in ihrem eigenen Antlitz wieder Hoffnung und Freude auf.
Und noch etwas anderes: etwas, das durch alle ändern Empfindungen durchschimmerte und für das es keine Worte gibt. Es war nicht Freude, Frohlocken oder Stolz. Die hätten sich nicht so ruhig geäußert. Es war nicht nur Liebe und Dankbarkeit und entsprang keinem selbstsüchtigen Gedanken. Diese glänzen nicht so auf der Stirn, schweben nicht so auf den Lippen, bewegen das Herz nicht derart, daß es den ganzen Körper ergreift.
Dr. Jeddler konnte trotz seiner Philosophie, mit der er beständig in der Praxis in Widerspruch geriet, wie es auch berühmteren Philosophen zu ergehen pflegt, sein starkes Interesse an der Rückkehr seines alten Schülers und Mündels nicht verleugnen. So setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, streckte abermals die Füße auf dem warmen Kaminteppich aus und las den Brief wieder und wieder durch und hörte nicht auf, davon zu sprechen.
»Es hat einmal eine Zeit gegeben«, sagte er und blickte ins Feuer, »als du und er Arm in Arm herumlieft, wie ein Paar lebendige Puppen, weißt du noch, Grace?«
»O ja«, antwortete sie mit munterm Lachen und hantierte emsig mit ihrer Nadel.
»Heute in einem Monat, wahrhaftig«, meinte der Doktor nachdenklich. »Und wo war meine kleine Marion damals?«
»Nie weit von ihrer Schwester«, sagte Marion fröhlich, »wenn sie auch noch klein war. Grace war mir alles, damals schon, als sie selbst noch ein Kind war.«
»Sehr richtig, Kätzchen, sehr richtig«, erwiderte der Doktor. »Sie war ein gesetztes kleines Frauchen, Grace, und eine gute Haushälterin; ein geschäftiges, ruhiges, nettes Ding, das unsere Launen mit Geduld ertrug und immer ihre eignen Wünsche vergaß, selbst damals schon, wenn sie uns unsere von den Augen ablesen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals, Grace, mein Liebling, eigenwillig oder rechthaberisch gewesen wärst. Außer in einem Punkt!«
»Ich fürchte, ich habe mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert«, lachte Grace, immer noch emsig nähend. »Und was war das für ein Punkt, Vater?«
»Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Man mußte dich immer Alfreds Frau nennen. So nannten wir dich also Alfreds Frau, und nichts mochtest du lieber, so komisch das jetzt klingt; nicht einmal der Titel einer Herzogin, wenn wir dich zu einer solchen hätten machen können, wäre dir lieber gewesen.«
»Wirklich?« sagte Grace ruhevoll.
»Du weißt das nicht mehr?« fragte der Doktor.
»Ich glaube, ich erinnere mich, aber nur noch flüchtig. Es ist schon zu lange her.« Und sie summte den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor gern hatte, vor sich hin.
»Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie, dem Gespräch eine andere Wendung gebend, »und das wird eine glückliche Zeit für uns alle werden. Mein dreijähriges Amt geht zu Ende, Marion. Und es war ein sehr leichtes Amt. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich ihm wieder zurückgebe, daß du seiner die ganze Zeit über in Liebe gedacht hast und daß er kein einziges Mal meiner Dienste bedurfte. Darf ich ihm das sagen, Liebling?«
»Sag ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, hochherzig und standhaft erfüllt wurde, daß ich dich seit jener Zeit mit jedem Tage habe mehr lieben lernen und daß ich dich jetzt so unendlich tief ins Herz geschlossen habe.«
»Das kann ich ihm wohl kaum sagen«, entgegnete ihre Schwester, die Umarmung zärtlich erwidernd. »Wir wollen es Alfreds Phantasie überlassen, sich meine Verdienste selbst auszumalen. Er wird genug übertreiben, Marion, ganz wie du.«
Damit nahm sie ihre Arbeit wieder auf, die sie einen Augenblick aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so begeistert gesprochen, und summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hörte. Und der Doktor, immer noch in seinem Lehnstuhl, die Füße ausgestreckt, horchte auf die Weise, schlug den Takt dazu auf seinem Knie mit Alfreds Brief, betrachtete seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen nichtigen Dingen der eitlen Welt diese da wenigstens hübsch genug wären.
Unterdessen begab sich Clemency Newcome, die so lange im Zimmer gewartet hatte, bis sie die Neuigkeit erfahren, wieder in die Küche, wo ihr Dienstgenosse, Mr. Britain, es sich nach dem Abendessen bequem machte, umgeben von einer so zahlreichen Sammlung funkelnder Deckel, sauber gescheuerter Pfannen, polierter Schüsseln, glänzender Kessel und anderer Anzeichen weiblichen Fleißes an den Wänden und Simsen, daß er wie in der Mitte eines Spiegelsaales saß. Die meisten freilich gaben kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wieder. Und die Porträts waren keineswegs gleichartig. Auf manchen hatte er ein zu langes Gesicht oder ein sehr breites, dann wieder ein ganz leidliches, auf ändern wieder ein möglichst häßliches, je nach der Art, wie die Gegenstände es abspiegelten. Ganz so, wie es bei den Menschen ist. In einem Punkte aber stimmten alle Bilder überein. Nämlich, daß in ihrer Mitte behaglich ein Individuum saß, die Pfeife im Mund, einen Krug Bier beim Ellbogen – ein Individuum, das Clemency herablassend zunickte, als sie sich jetzt an denselben Tisch setzte.
»Nun, Clemency«, sagte Britain, »wie geh's dir immer, und was gibt's Neues?«
Clemency erzählte, was sie gehört hatte, und er nahm es sehr gnädig auf. Eine huldvolle Stimmung überkam Benjamin vom Scheitel bis zur Sohle. Er wurde viel breiter, viel röter, heiterer und fröhlicher in jeder Hinsicht. Es sah aus, als ob sein Gesicht, das vorher zu einem Knoten zusammengebunden gewesen, sich jetzt aufgeknöpft und geglättet hätte.
»Das wird wieder mal ein Geschäft für Snitchey und Craggs absetzen«, bemerkte er, langsam aus seiner Pfeife paffend. »Wir werden wieder mal die Zeugen abgeben müssen, Clemy.«
»Gott«, antwortete seine Gefährtin mit einer Lieblingsverrenkung ihrer Lieblingsgelenke. »Ich wollte, ich wäre es, Britain.«
»Was denn?«
»Die zum Altar ginge«, sagte Clemency.
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Munde und lachte herzlich. »Ja, du wärst gerade die Rechte«, sagte er. »Arme Clemy!«
Clemency lachte ihrerseits ebenso herzlich wie er und schien sich über den Gedanken ebensosehr zu belustigen.
»Ja«, stimmte sie bei, »ich wäre gerade die Rechte, was?«
»Du wirst nie heiraten, versteht sich«, sagte Mr. Britain und nahm wieder die Pfeife in den Mund.
»Meinst du wirklich nicht?« fragte Clemency ganz ernsthaft.
Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Keine Spur.«
»Denk mal«, sagte Clemency, »na! Trägst du dich nicht auch mit derartigen Gedanken? Demnächst, was?«
Eine so plötzlich gestellte Frage in einer so wichtigen Sache verlangte Überlegung. Nachdem Britain eine große Rauchwolke von sich geblasen und sie, den Kopf bald auf diese, bald auf jene Seite legend, betrachtet hatte, als wäre die Wolke die Hauptperson, die er von verschiedenen Gesichtspunkten aus jetzt beaugenscheinigen müsse, erwiderte er, daß er sich in der Angelegenheit noch nicht ganz klar wäre, aber – ja, ja, es sei schließlich nicht so unmöglich.
»Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück«, rief Clemency.
»Oh, daran wird es ihr nicht fehlen«, sagte Benjamin, »sicherlich nicht.«
»Aber sie würde nicht so glücklich leben und keinen so verträglichen Gatten haben«, sagte Clemency legte sich halb über den Tisch und sah nachdenklich in das Licht, »wenn ich nicht gewesen wäre –; nicht daß ich's beabsichtigt hätte – es war sicher nur Zufall – was, Britain?«
»Gewiß nicht«, antwortete Mr. Britain, jetzt auf jenem Höhepunkt des Genusses einer Pfeife, wo der Raucher den Mund nur mehr ein ganz klein wenig zum Sprechen öffnen kann und bequem im Stuhle sitzend nur mehr imstande ist, seiner Gesellschaft die Augen zuzuwenden und auch diese nur ernst und langsam. »Oh, ich bin dir sehr verbunden, Clemy, das weißt du ja.«
»Gott, wie hübsch der Gedanke daran ist!« sagte Clemency
In diesem Augenblick fielen ihre Augen auf die Unschlittkerze, und da sie sich plötzlich auf die Heilkraft dieses Wunderbalsams besann, salbte sie sich den linken Ellbogen reichlich mit dieser neuen Arznei.
»Du weißt, ich hab mancherlei Untersuchung über dies und jenes seinerzeit angestellt«, fuhr Mr. Britain mit dem tiefen Ernst eines Weisen fort, »weil ich immer von wißbegierigem Geiste war und viele Bücher über die Vorzüge und Mängel der irdischen Dinge gelesen habe. Schon als ich ins Leben trat, habe ich mich auf den Boden der Literatur begeben ...«
»Wirklich!« rief Clemency bewundernd aus.
»Ja«, sagte Mr. Britain. »Zwei der besten Jahre meines Lebens habe ich versteckt hinter einer Buchtrödlerbude vertrauert, stets auf dem Sprung, hervorzustürzen, wenn jemand ein Buch in die Tasche steckte. Sodann war ich Laufbursche bei einer Damenschneiderin, in welcher Eigenschaft ich dazu mißbraucht wurde, in Öltuchpaketen nichts als Täuschung und Trug zu den Leuten zu tragen. Das verbitterte mein Gemüt und erschütterte mein Vertrauen in die menschliche Natur. Und dann hörte ich in diesem Hause so ungeheuer viel Gerede, daß sich mein Gemüt noch mehr verdüsterte. Meine Meinung ist nach alledem, daß nichts in der Welt ein sichereres und angenehmeres Besänftigungsmittel für mein Gemüt und ein besserer Führer durchs Leben ist als ein Muskatreiber.«
Clemency wollte etwas hinzusetzen, aber er kam ihr zuvor.
»Im Verein«, fügte er ernst hinzu, »mit einem Fingerhut.«
»Was du nicht willst, daß man dir tu' – und cetrera. Was?« bemerkte Clemency, verschränkte zufrieden und voll Freude über dies schöne Sprichwort die Arme und streichelte sich die Ellbogen. »So ein kerniger Satz, was?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Mr. Britain, »ob wirklich so etwas wie wahre Philosophie darin liegt. Ich hege meine Zweifel darüber,aber es bewährt sich und erspart einem viel Schimpfen, was bei der echten Ware nicht immer der Fall ist.«
»Bedenke nur, wie du selbst manchmal fluchtest«, sagte Clemency.
»Hm«, meinte Mr. Britain, »aber das Merkwürdigste an der Sache ist für mich, daß du es eigentlich warst, die mich bekehrte, du. Das ist das Sonderbarste daran, denn du hast doch nicht einmal einen halben Gedanken im Kopf.«
Clemency war nicht im geringsten beleidigt, schüttelte den Kopf, lachte und umarmte sich selbst und sagte: »Nein, ich glaube auch nicht.«
»Ich bin sogar so ziemlich davon überzeugt«, sagte Mr. Britain.
»Oh, ich glaube, da hast du ganz recht«, sagte Clemency, »ich mag gar keinen, ich brauche auch gar keinen.«
Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte, bis ihm die Tränen über die Backen liefen. »Wie einfältig du bist, Clemency«, sagte er, wischte sich die Augen und konnte sich gar nicht mehr erholen. Clemency tat desgleichen, ohne das Geringste einzuwenden, und lachte ebenso herzlich wie er.
»Aber ich hab dich doch gern«, sagte Mr. Britain, »du bist ein ganz gutes Mädchen in deiner Art. Gib mir die Hand, Clemency. Was auch immer geschieht, ich will dich immer beachten und immer dein Freund sein.«
»Wirklich?« entgegnete Clemency. »Oh, das ist sehr gut von dir.«
»Ja, ja«, sagte Mr. Britain und reichte ihr die Pfeife zum Ausklopfen hin. »Ich will immer zu dir halten. Horch! Was für ein merkwürdiges Geräusch?«
»Geräusch?« wiederholte Clemency.
»Fußtritte draußen, es klang, als ob jemand von der Mauer springe«, sagte Britain. »Sind sie schon alle oben?«
»Ja, um diese Zeit sind alle schon zu Bett.«
»Hast du denn nichts gehört?«
»Nein.«
Beide horchten, hörten aber nichts.
»Ich will dir was sagen«, meinte Benjamin und nahm eine Laterne herunter, »ich will zu meiner Beruhigung mal einen Blick hinaus tun, ehe ich schlafen gehe. Schließe die Tür auf, während ich das Licht anzünde, Clemy«
Clemency gehorchte schnell, bemerkte aber dabei, daß seine Mühe umsonst sei, daß er sich etwas eingebildet habe, und so weiter.
»Sehr möglich«, meinte Mr. Britain, ging aber doch hinaus, mit einem Schüreisen bewaffnet, und leuchtete mit der Laterne nach allen Seiten.
»Es ist so still wie auf einem Friedhof«, sagte Clemency, als sie ihm nachblickte, »und fast auch so schauerlich.«
Als sie wieder in die Küche zurücksah, schrie sie angstvoll auf, denn eine leichte Gestalt näherte sich ihr. »Wer ist das?«
»Still«, flüsterte Marion aufgeregt. »Du hast mich immer lieb gehabt, nicht wahr?«
»Dich lieb gehabt, Kind? Sicherlich.«
»Ich weiß es. Und ich kann dir vertrauen, nicht wahr? Ich habe hier niemand, dem ich vertrauen kann.«
»Ja«, sagte Clemency herzlich.
»Es ist jemand draußen«, sagte Marion und deutete auf die Türe, »den ich heute nacht noch sehen und sprechen muß.––– Michael Warden, um Gottes willen, entfernen Sie sich! Jetzt nicht.« Clemency fuhr beunruhigt und erstaunt auf, als sie dem Blick der Sprechenden folgte und eine dunkle Gestalt im Flur stehen sah.
»Im nächsten Augenblick können Sie entdeckt sein«, sagte Marion. »Jetzt nicht! Warten Sie, wenn es geht, in einem Versteck. Ich werde gleich kommen.«
Er winkte ihr mit der Hand und war verschwunden.
»Geh nicht zu Bett. Warte hier auf mich«, stieß Marion hervor. »Schon vor einer Stunde wollte ich mit dir sprechen. O verrate mich nicht!« Mit wilder Hast griff sie nach der ängstlich zitternden Hand der Magd und drückte sie an ihre Brust. Eine Bewegung, die in ihrer Leidenschaft beredter war als die flehentlichsten Worte - und als das Licht der zurückkehrenden Laterne wieder in die Stube hineinflackerte, war Marion verschwunden.
»Alles ruhig und still. Niemand da. Einbildung vermutlich«, sagte Mr. Britain, schloß die Tür und schob den Riegel vor. »Die Folgen einer zu lebhaften Einbildungskraft. Hallo, ja, was ist denn los?«
Clemency saß in einem Stuhl, bleich und zitternd vom Kopf bis zu den Füßen, und konnte ihre Aufregung nicht verbergen.
»Los?« wiederholte sie, sich nervös die Hände und Ellbogen reibend, und wich scheu seinem Blick aus. »Das ist hübsch von dir, Britain, hübsch. Du gehst hinaus und bringst einen fast um vor Todesangst mit Lärmen und Laternen, und was weiß ich sonst noch. Was los? – O ja.«
»Wenn du beim Anblick einer Laterne vor Schrecken fast stirbst, Clemy«, sagte Mr. Britain, »so läßt sich das Gespenst bald vertreiben«, und er blies kaltblütig das Licht aus und hängte die Laterne wieder auf. »Aber du hast doch sonst Courage genug«, sagte er und blieb stehen, um sie zu betrachten, »und warst auch ganz ruhig nach dem Lärm und als ich anzündete. Was ist dir denn durch den Kopf geschossen? Doch nicht ein Gedanke?«
Aber da ihm Clemency in ihrer gewohnten Art gute Nacht wünschte und sich zum Schlafengehen fertig zu machen schien, sagte ihr auch Britain, nachdem er noch die originelle Bemerkung von sich gegeben, daß niemand wisse, wie er mit den Weibern dran sei, gute Nacht, nahm sein Licht und ging schläfrig zu Bette.
Als alles ruhig war, kehrte Marion zurück.
»Mach auf«, sagte sie, »und bleib dicht neben mir, während ich draußen mit ihm spreche.« So furchtsam ihr Benehmen auch war, so verriet es doch einen festen und unerschütterlichen Entschluß, so daß Clemency nicht widerstehen konnte. Sie riegelte leise die Tür auf; ehe sie aber noch den Schlüssel umdrehen konnte, warf sie einen Blick auf das junge Wesen, das nur darauf wartete hinauszuschlüpfen.
Marions Gesicht war nicht abgewendet oder zu Boden gesenkt, sondern blickte ihr ruhig ins Auge im ganzen Stolz seiner Jugend und Schönheit. Eine Ahnung, welch schwache Schranke nur mehr zwischen einem glücklichen Heim und der Liebe des schönen Mädchens lag, ein Gedanke an den Kummer dann in diesem Haus und die Vernichtung der schönsten Hoffnungen schoß durch Clemencys schlichte Seele und traf ihr weiches Herz so tief, machte es so vor Kummer und Mitgefühl überquellen, daß sie, in Tränen ausbrechend, ihre Arme um Marions Hals schlang.
»Ich weiß nur wenig, liebes Kind«, rief sie, »sehr wenig, aber ich weiß, daß das nicht recht ist. Bedenke, was du tust, Kind!«
»Ich habe es vielmals bedacht«, sagte Marion sanft.
»Noch einmal denke drüber nach«, flehte Clemency. »Bis morgen.«
Marion schüttelte den Kopf.
»Mr. Alfreds wegen«, sagte Clemency mit schlichtem Ernst. »Seinetwegen, den du früher so lieb hattest.«
Marion bedeckte das Gesicht einen Augenblick mit den Händen und wiederholte: »Früher!«, als wollte es ihr das Herz zerreißen.
»Laß mich hinausgehen«, bat Clemency »Ich will ihm sagen, was du willst. Setz heute nacht den Fuß nicht über die Schwelle. Es kommt dabei nichts Gutes heraus. Ach, es war ein Unglückstag, als Mr. Warden hierher gebracht wurde. Denk an deinen guten Vater, mein Liebling, an deine Schwester.«
»Ich habe es getan«, sagte Marion und erhob rasch das Haupt. »Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß mit ihm sprechen. Du bist meine beste und treueste Freundin auf der Welt, weil du so zu mir gesprochen hast. Aber ich muß diesen Schritt tun. Willst du mich begleiten, Clemency«, sie küßte ihr freundliches Gesicht, »oder soll ich allein gehen?«
Kummervoll und ängstlich drehte Clemency den Schlüssel um und öffnete die Tür. Marion, die Hand ihrer Gefährtin festhaltend, schritt rasch über die Schwelle in das ungewisse Dunkel der Nacht hinaus.
In der Finsternis trat er zu ihr, und sie sprachen miteinander ernst und lang. Und die Hand, die Clemency gefaßt hielt, zitterte bald, bald wurde sie eisig kalt, umklammerte ihre Finger in der Aufregung der Worte. Als sie zurückkehrten, folgte er Marion bis an die Tür, blieb einen Augenblick stehen, faßte Marions andere Hand und drückte sie an die Lippen. Dann stahl er sich hinweg.
Die Türe wurde verriegelt und verschlossen, und wieder stand sie im Vaterhause. Nicht niedergebeugt von dem Geheimnis, das sie mitbrachte, aber mit demselben Ausdruck in ihrem jungen Gesicht, der schon einmal am Abend durch ihre Züge geschimmert und durch ihre Tränen geglänzt hatte.
Wieder dankte und dankte sie ihrer einfachen Freundin und baute auf sie, wie sie sagte, unbedingt und mit Vertrauen und Zuversicht. Und als sie wohlbehalten ihr Zimmer erreicht hatte, sank sie auf die Knie, und mit dem Geheimnis, das ihr Herz bedrückte, konnte sie beten.
Ja, und konnte aufstehen vom Gebet so ruhevoll und heiter, konnte sich niederbeugen über die geliebte Schwester, die schlummernd dalag, konnte ihr ins Angesicht sehen und lächeln, wenn es auch nur ein trauriges Lächeln war, und flüstern, während sie einen Kuß auf die Stirn der Schlafenden drückte, wie doch Grace immer wie eine Mutter zu ihr gewesen und sie wie ein Kind geliebt habe.
Willenlos legte sich ihr Arm um den Nacken der Schwester, als sie in Schlummer sank, als wolle sie sie sogar im Schlaf zärtlich beschützen. Mit einem »Gott segne sie!« auf den Lippen sank Marion in friedlichen Schlummer, bloß gestört von einem einzigen Traum, indem sie mit schluchzender Stimme den Ausruf tat, sie wäre so mutterseelenallein und alle hätten ihrer vergessen.
Ein Monat ist bald vorbei, und wenn die Zeit noch so schleicht. Der Monat, der zwischen dieser Nacht und Alfreds Rückkehr lag, verfloß schnell und entschwand wie Nebeldunst.
Der Tag kam heran. Ein stürmischer Wintertag, an dem das alte Haus zuweilen erzitterte, als schauderte es vor Kälte. Ein Tag, der ein Heim doppelt traulich macht und ein Kaminfeuer doppelt fröhlich, wenn rötliche Glut auf den Gesichtern tanzt und man sich am Feuer zu engerem, geselligem Bunde gegen die draußen tobenden Elemente drängt. An solch einem wilden Wintertag sperrt man die Nacht hinaus und verhängt die Fenster. Da ist Lachen, Tanz und Musik. Da sind Lichterpracht, gesellige Freuden und fröhliche Gesichter am Platze.
Und für alles das hatte der Doktor gesorgt, um sein ehemaliges Mündel zu bewillkommen. Man wußte, daß Alfred vor Einbruch der Nacht nicht eintreffen konnte, und sie wollten, wenn er käme, die Nachtluft von ihrem Jauchzen widerhallen lassen, wie sich der Doktor ausdrückte. Alle alten Freunde sollten versammelt sein, und kein Gesicht, das Alfred gekannt und gerne gehabt, dürfe fehlen. Alle, alle müßten dasein.
So wurden denn Gäste geladen und Musik bestellt und Tafeln bereitet und der Tanzsaal hergerichtet und mit gastlicher Freigebigkeit für jedes gesellige Bedürfnis reichlich gesorgt. Da Weihnachten war und Alfreds Auge lange genug den Anblick der englischen Stechpalme in ihrem Immergrün entbehrt haben mochte, war der ganze Tanzsaal damit behangen und ausgeschmückt, und die roten Beeren winkten aus den Blättern hervor wie ein englischer Willkommgruß.
Es war ein Tag der Emsigkeit für alle. Aber für niemand so sehr wie für Grace, die lautlos überall wirkte und die Seele aller Vorbereitungen war. Wie oft blickte Clemency an diesem Tage, wie oft schon den langen Monat hindurch angstvoll, fast furchterfüllt forschend auf Marion. Sie sah, daß ihr Liebling blasser war als gewöhnlich, daß aber auf dem Gesichte eine gefaßte Ruhe lag, die es noch anmutiger machte.
Abends, als Marion angekleidet war und in ihren Haaren einen Kranz trug, den Grace stolz selbst geflochten hatte – es waren Alfreds Lieblingsblumen, und deshalb hatte Grace sie gewählt –, lag jener alte Ausdruck gedankenvoll, fast sorgenschwer und doch so durchgeistigt, edel und selig, wieder auf ihrer Stirn und machte sie noch hundertmal lieblicher.
»Der nächste Kranz, den ich in dieses schöne Haar flechte, wird ein Brautkranz sein«, sagte Grace, »oder ich bin eine schlechte Prophetin.«
Marion lächelte und hielt sie in ihren Armen fest.
»Noch einen Augenblick, Grace! Verlaß mich noch nicht! Weißt du sicher, daß sonst nichts mehr fehlt?«
Das kümmerte sie wohl im Grunde wenig. Der Gesichtsausdruck ihrer Schwester war es, an den sie dachte, und ihre Augen forschten zärtlich darin.
»Meine Kunst ist zu Ende, mein liebes Kind«, sagte Grace, »schöner kannst du nicht mehr sein. Ich hab' dich noch nie so schön gesehen wie heute.«
»Ich war noch nie so glücklich«, antwortete Marion.
»Oh, es wartet noch ein größeres Glück auf dich! In einem andern solchen Heim, ebenso freundlich und traulich wie dieses hier, werden bald Alfred und seine junge Gattin wohnen.«
Marion lächelte wieder. »Ein glückliches Heim, Grace, steckt dir im Kopfe. Ich kann es dir an den Augen ablesen. Und ich weiß, es wird ein glückliches sein, meine liebe Grace. Wie froh bin ich, daß ich das erkannt habe!«
»Nun«, rief der Doktor, hereinstürmend. »Ist jetzt alles bereit zu Alfreds Empfang? Er kann erst ziemlich spät kommen – kaum eine Stunde vor Mitternacht. Da haben wir noch Zeit genug, um vor seiner Ankunft in Stimmung zu kommen. Wenn er eintritt, muß das Eis längst gebrochen sein. Schüre das Feuer an, Britain. Es soll auf die Stechpalme leuchten, bis sie selbst glüht. Es ist eine Welt des Unsinns, mein Kätzchen, diese treuen Liebhaber und so weiter – alles Unsinn. Aber wir wollen den Unsinn mit den ändern Menschen mitmachen und unserm treuen Liebhaber ein närrisches Willkommen bereiten. Auf mein Wort«, sagte er und blickte mit Stolz auf seine Töchter, »ich weiß vor lauter Unsinn heute abend nur das eine gewiß, daß ich der Vater zweier sehr hübscher Töchter bin.«
»Und wenn die eine dir je Kummer und Schmerz bereitet hat oder es vielleicht noch einmal tun wird – ja tun wird –, liebster Vater«, sagte Marion, »so vergib ihr jetzt, wo ihr Herz voll ist. Sag, daß du ihr vergeben willst. Sag, daß sie immer einen Anteil an deiner Liebe haben soll, auch, wenn – sie –«, sie sprach den Satz nicht zu Ende und verbarg ihr Gesicht an der Brust des alten Mannes.
»Aber, aber, aber«, sagte der Doktor sanft, »vergeben! Was habe ich denn zu vergeben? Heidi, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkehren, um uns in solche Aufregung zu versetzen, da müssen wir sie uns vom Leibe halten, müssen ihnen Eilboten entgegenschicken, um sie auf der Straße aufzuhalten und sie nur eine Meile oder zwei per Tag reisen lassen, bis wir gehörig vorbereitet sind, sie zu empfangen. Gib mir einen Kuß, Kätzchen. Vergeben! Was für ein törichtes Kind du bist! Wenn du mich fünfzigmal des Tages gequält und geärgert hättest anstatt gar nicht, würde ich dir alles vergeben, nur eine solche Bitte nicht. Gib mir noch einen Kuß, Kätzchen. So! Für Zukunft und Vergangenheit ist jetzt reine Rechnung zwischen uns. Schürt doch das Feuer an. Sollen denn die Leute in dieser kalten Dezembernacht erfrieren. Es soll hell und warm und fröhlich sein, oder ich verzeihe keinem von euch.«
So aufgeräumt und lustig zeigte sich der Doktor. Und das Feuer wurde angeschürt, und die Lichter glänzten hell. Gäste kamen, und ein fröhliches Gewimmel begann, und schon herrschte im Hause die angenehme Stimmung heiterer Erwartung.
Mehr und mehr Gäste erschienen. Fröhliche Augen blitzten auf Marion, lächelnde Lippen wünschten ihr Glück, kluge Mütter fächelten sich und hofften, sie möge nicht zu jung und flatterhaft für das häusliche Leben sein; stürmische Väter fielen in Ungnade, weil sie von Marions Schönheit gar zu sehr begeistert waren, Töchter beneideten sie, Söhne beneideten »ihn«, und zahllose Liebespaare machten sich die Gelegenheit zunutze. Alle waren voller Teilnahme, Aufregung und Erwartung.
Mr. und Mrs. Craggs kamen Arm in Arm. Nur Mrs. Snitchey kam allein. »Mein Gott, wo haben Sie denn ihn«, forschte der Doktor.
Der Paradiesvogel auf Mrs. Snitcheys Turban zitterte, als ob er wieder lebendig geworden wäre, als sie sagte, das wisse jedenfalls Mr. Craggs. Sie würde ja nie eingeweiht. »Die scheußliche Kanzlei«, bestätigte Mrs. Craggs.
»Ich wünschte, sie brennte einmal ab«, sagte Mrs. Snitchey.
»Er ist – er ist – eine kleine geschäftliche Angelegenheit muß wohl meinen Kompagnon abgehalten haben«, sagte Mr. Craggs und sah sich unruhig um.
»Ja, ja, Geschäftssache. Machen Sie mir das nicht weis«, sagte Mrs. Snitchey.
»Wir wissen, was es heißt, Geschäftssache«, sagte Mrs. Craggs.
Mrs. Snitchey schien es nicht zu wissen, offenbar war das der Grund, warum ihr Paradiesvogel so unheilverkündend zitterte und die zahlreichen Glöckchen in Mrs. Craggs' Ohrringen erregt schaukelten.
»Es wundert mich, daß du kommen konntest, Craggs«, sagte Mrs. Craggs.
»Mr. Craggs ist gewiß selig darüber«, sagte Mrs. Snitchey.
»Die Kanzlei nimmt sie so in Anspruch«, sagte Mrs. Craggs.
»Eine Person, die eine Kanzlei hat, sollte überhaupt nicht heiraten dürfen«, sagte Mrs. Snitchey.
Dann meinte Mrs. Snitchey zu sich selbst, daß ihr Blick die beiden Craggs' ins Herz getroffen habe und daß er das fühle. Und Mrs. Craggs bemerkte zu ihrem Gatten, daß die Snitcheys ihn hinter seinem Rücken betrögen und daß er das erst einsehen werde, wenn es zu spät sei. Aber Mr. Craggs achtete auf diese Bemerkungen nicht besonders und sah sich immer noch unruhig um, bis sein Blick auf Grace fiel, die er sofort begrüßte.
»Guten Abend, Madam«, sagte er zu Grace. »Sie sehen entzückend aus. Ihre – Miss – Ihre Schwester, Miss Marion, ist doch -–-«
»O sie ist ganz wohl, Mr. Craggs.«
»Ja, ich – ist sie hier?« fragte Craggs.
»Hier? Sehen Sie denn nicht dort? Sie tritt eben zum Tanz an«, sagte Grace.
Mr. Craggs setzte die Brille auf, um besser zu sehen, betrachtete Marion eine Zeitlang, hustete und steckte seine Augengläser mit zufriedener Miene wieder ins Futteral und in die Tasche.
Jetzt ertönte die Musik, und der Tanz begann. Das helle Feuer prasselte lustig und hüpfte, als ob es aus guter Kameradschaft selbst mittanzen wollte. Zuweilen rumorte es, als wollte es auch Musik machen. Dann glänzte es und glühte, als wäre es das Auge des alten Zimmers, und zwinkerte wie ein schlauer Patriarch, der die Jugend in den Ecken flüstern sieht. Dann neckte es wieder die Stechpalmenzweige, und wenn die dunkelgrünen Blätter in seinem Scheine aufleuchteten, da sah es aus, als ständen sie wieder draußen in der kalten Winternacht und zitterten im Winde. Manchmal wurde es ganz wild und mutwillig und schlug über die Stränge; dann streute es laut lachend mitten unter die tanzenden Füße einen Regen harmloser Funken und schwang sich toll jauchzend den alten Schlot hinauf.
Wieder war ein Tanz fast vorbei, als Mr. Snitchey seinen Kompagnon, der zusah, am Arme faßte.
Mr. Craggs fuhr zusammen, als wäre sein Freund ein Gespenst.
»Ist er fort?« fragte er.
»Still! Er ist länger als drei Stunden bei mir gewesen und ist alles genau durchgegangen. Er nahm genau Einblick in alle unsere Arrangements für ihn und war außerordentlich peinlich in allem. Er – – uff.«
Der Tanz war aus. Marion ging dicht an ihm vorbei, während er sprach. Sie bemerkte weder ihn noch seinen Kompagnon, sondern sah sich nach ihrer Schwester im Hintergrund des Saales um, dann schritt sie langsam durch das Gedränge und verschwand.
»Sehen Sie, alles ist gut und richtig«, sagte Mr. Craggs. »Er sprach wohl nicht mehr davon, wie?«
»Nicht ein Wort!«
»Und ist er wirklich fort? Ist er in Sicherheit?«
»Er hält sein Wort. Er fährt in seiner Nußschale mit der Ebbe den Strom hinab und segelt vor dem Wind in dieser dunklen Nacht ins Meer hinaus. Er ist ein verdammter Wagehals. Um diese Zeit gibt es keinen einsamen Weg sonst. Das ist die Sache. Die Ebbe setzt eine Stunde vor Mitternacht ein, sagt er. Ich bin froh, daß es vorüber ist.« Mr. Snitchey wischte sich den Schweiß vom Gesicht, das ganz rot und aufgeregt aussah.
»Was meinen Sie«, sagte Craggs, »zu der –?«
»Still«, flüsterte der andere vorsichtig und sah geradeaus. »Ich verstehe Sie schon. Nennen Sie keinen Namen und lassen Sie sich nicht anmerken, daß wir von Geheimnissen sprechen. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und um die Wahrheit zu gestehen, es ist mir jetzt schon einerlei. Es ist eine wahre Erleichterung. Ich glaube, seine Eigenliebe hat ihn getäuscht. Die junge Dame wird wohl ein bißchen kokettiert haben. Es wird darauf hinauslaufen. Ist Alfred nicht angekommen?«
»Noch nicht«, sagte Mr. Craggs, »er wird jede Minute erwartet.«
»Gut.« Mr. Snitchey wischte sich wieder die Stirn ab. »Es ist eine große Erleichterung. Ich bin noch niemals so unruhig gewesen, seitdem wir beisammen sind. Ich gedenke jetzt den Abend zu genießen, Mr. Craggs.«
Mrs. Craggs und Mrs. Snitchey traten zu ihnen, als diese letzten Worte gefallen waren.
Der Paradiesvogel war in wilder Bewegung, und die kleinen Glocken läuteten hörbar.
»Es war schon allgemeines Gesprächsthema, Mr. Snitchey«, sagte Mrs. Snitchey. »Ich hoffe, die Kanzlei ist jetzt zufriedengestellt.«
»Womit zufriedengestellt, mein Herz?« fragte Mr. Snitchey.
»Daß es glücklich gelungen ist, ein wehrloses Weib der Lächerlichkeit und dem Spott preiszugeben«, antwortete seine Gattin. »Das ist doch der Zweck der Kanzlei, offenbar.«
»Ich für meinen Teil«, sagte Mrs. Craggs, »bin schon so lange gewohnt, die Kanzlei mit allem, was das häusliche Glück vernichtet, eng verknüpft zu sehen, daß ich schon froh bin, wenigstens zu wissen, daß sie der offenkundige Feind meines Friedens ist. Es ist so etwas wie ein Spiel mit offenen Karten.«
»Mein Schatz«, sagte Mr. Craggs vorwurfsvoll, »deine Meinung ist stets unschätzbar für mich, aber ich kann gewiß nicht zugestehen, daß die Kanzlei die Zerstörerin deines Friedens sei.«
»Nein«, sagte Mrs. Craggs und führte mit ihren Glöckchen einen förmlichen Tanz auf. »Nein, wahrhaftig nicht! Du würdest der Kanzlei nicht würdig sein, wenn du diese Offenheit besäßest.«
»Was mein Ausbleiben heute abend betrifft, liebe Gattin«, sagte Mr. Snitchey und reichte seiner Frau den Arm, »so liegt die Schuld allerdings ganz auf meiner Seite, aber Mr. Craggs weiß –«
Mrs. Snitchey schnitt die Entschuldigungsrede ihres Gatten schroff ab, zog ihn beiseite und forderte ihn auf, den »Mann« anzusehen, ihr den Gefallen zu tun, den »Mann« anzusehen.
»Welchen Mann denn, teuere Gattin?« fragte Mr. Snitchey.
»Den Gefährten deines Lebens – ich kann es dir ja nicht sein, Snitchey«
»O doch, du, nur du bist es, teuerste Gattin.«
»Nein, nein, nein, ich bin es nicht«, sagte Mrs. Snitchey mit majestätischem Lächeln. »Ich kenne meine Stellung gar wohl. Sehen Sie ihn doch an, den Gefährten Ihres Lebens, Mr. Snitchey Ihr Vorbild. Den Bewahrer Ihrer Geheimnisse. Den Mann, dem Sie vertrauen. Ihr anderes Selbst, kurz und gut.«
Die Verknüpfung seines Selbst mit Craggs veranlaßte Mr. Snitchey, in diese Richtung zu schauen.
»Wenn du heute abend dem Manne in die Augen sehen kannst«, fuhr Mrs. Snitchey fort, »und nicht erkennst, daß du hintergangen und betrogen bist, daß du ein Opfer seiner Ränke und ein Sklave seines Willens geworden bist durch eine unerklärliche Faszination, die ich mir nicht erklären kann und vor der ich dich vergebens gewarnt habe, dann kann ich nur sagen, ich bedauere dich.«
Zur gleichen Zeit orakelte Mrs. Craggs über dasselbe Thema. Wie sei es nur möglich, fragte sie, daß Craggs Mr. Snitchey so blind vertrauen könne und seine eigene Lage so gar nicht erkenne. Ob er denn nicht deutlich gesehen habe, daß Snitcheys Gesicht, als er eingetreten voll Hinterlist, Tücke und Verräterei gewesen sei, ob er denn leugnen wolle, daß schon die Art, mit der sich jener die Stirn zu trocknen und unruhig um sich zu blicken pflege, verrate, daß etwas schwer auf seinem Gewissen laste, wenn er überhaupt so etwas wie ein Gewissen habe. Ob etwa andere Leute auch, wie sein Snitchey, zu festlichen Gelegenheiten kämen wie Strauchdiebe – übrigens kein sehr treffendes Bild, denn Snitchey war so schüchtern wie möglich zur Türe hereingekommen. Und ob er – Craggs – ihr gegenüber am hellichten Tage – es war fast Mitternacht – immer noch auf dem Standpunkt beharre, mit Snitchey durch dick und dünn gehen zu wollen, allem Augenschein, jeder Welterfahrung und Vernunft zum Trotz.
Weder Snitchey noch Craggs machten einen Versuch, sich dem Strome solchen Zornes entgegenzustemmen, sondern begnügten sich beide, ruhig mitzuschwimmen, bis seine Kraft nachgelassen hatte, was im selben Augenblicke geschah, als man allgemein zu einem Tanz antrat. Mr. Snitchey benützte die Gelegenheit, Mrs. Craggs zu bitten, während Mr. Craggs so galant war, Mrs. Snitchey aufzufordern. Die Damen willigten auch nach einigen leichten Ausflüchten, wie: warum engagieren Sie nicht eine andere, und: ich sehe es Ihnen an, Sie wären froh, wenn ich ausschlüge, oder: wie, Sie tanzen auch außerhalb der Kanzlei (dies schon mehr scherzhaft), huldreich ein und traten an.
Es war dies eine alte Sitte bei ihnen, bei jeder Gelegenheit, denn sie waren eng befreundet und lebten auf dem Fuß besten Einvernehmens.
Vielleicht waren der falsche Craggs und der schurkische Snitchey im Gehirne der beiden Damen auch nur eine so fingierte Person wie X und Y in den Akten ihrer beiden Gatten, oder die beiden Damen taten gar äußerlich nur so als ob. So viel ist jedenfalls gewiß, daß jede der beiden Damen die sich selbst auferlegte Rolle und ihr Fach ebenso eifrig und fleißig betrieb wie der Gatte das seine und daß beide Frauen ein glückliches Gedeihen der Kanzlei ohne ihr lobenswertes Mitwirken beinahe für unmöglich gehalten hätten.
Jetzt schwebte der Paradiesvogel in die Mitte des Saales, und die Glöckchen fingen an zu klingen und zu springen, und des Doktors rotes Gesicht drehte sich um und um wie ein mit Hochglanz lackierter Kreisel mit einem Menschengesicht. Der atemlose Mr. Craggs fing bereits an zu bezweifeln, daß das Tanzen so wie das übrige Leben einem »zu leicht« gemacht würde, und Mr. Snitchey hüpfte in muntern Sprüngen und Kapriolen für seine Wenigkeit & Craggs und ein halbes Dutzend anderer mehr.
Und auch das Feuer faßte frischen Mut und loderte hell auf, angefacht von dem lebhaften Zug, den der Tanz verursachte. Es war der Genius des Zimmers und überall gegenwärtig. Es glänzte in den Augen der Männer, schimmerte in den Juwelen am weißen Nacken der Mädchen, spielte um ihre Ohren, als wolle es ihnen etwas Neckisches zuflüstern, flackerte auf dem Boden und legte ihren Füßen einen Teppich von Rosen. Es glänzte auf der Decke, daß seine Glut sich auf allen Gesichtern spiegelte, und zündete eine große Illumination in Mrs. Craggs' kleinem Glockenturm an.
Und frischer und frischer wurde die anfachende Luft, immer munterer die Musik, in immer lebhafterem Takt bewegte sich der Tanz; und ein Wehen erhob sich, das die Blätter und Beeren an den Wänden schaukeln machte, als hingen sie noch im Freien, und rauschte durch das Zimmer, wie wenn eine unsichtbare Schar Elfen den braven Tänzern aus Fleisch und Bein auf dem Fuße folgte. Kein Zug auf des Doktors Gesicht war mehr zu erkennen, wie er sich drehte und drehte. Jetzt schienen ein Dutzend Paradiesvögel durchs Zimmer zu fliegen und tausend kleine Glocken zu klingen, eine Flut wehender Kleider wurde im Sturm davongetrieben. Endlich verstummte die Musik, und der Tanz hörte auf.
Erhitzt und atemlos war der Doktor, aber es machte ihn nur noch ungeduldiger auf Alfreds Kommen.
»Hast du nichts gesehen, Britain, nichts gehört?«
»Zu finster zum Sehen, Sir, zu viel Lärm im Haus zum Hören.«
»Da hast du recht, um so fröhlicher der Willkomm. Wie spät ist's?«
»Gerade zwölf, Sir. Er kann nicht mehr lang bleiben, Sir.«
»Schüre das Feuer an und wirf noch einen Klotz darauf«, sagte der Doktor. »Sein Willkommen soll ihm in die Nacht hinausleuchten – dem guten Jungen, wenn er daherkommt.«––––-
Er sah es, ja! Aus seinem Wagen erblickte er den Schein, als er um die Ecke bei der alten Kirche bog. Er kannte das Zimmer, aus dem es leuchtete. Er sah die kahlen winterlichen Zweige der alten Bäume zwischen sich und dem Licht. Er wußte, daß einer dieser Bäume zur Sommerszeit lieblich vor Marions Fenster rauschte.
Tränen standen ihm in den Augen. Sein Herz klopfte so heftig, daß er kaum sein Glück ertragen konnte. Wie oft hatte er sich in seinen Gedanken dieses Bild ausgemalt und gebangt, daß es nicht dazu kommen möchte – danach verlangt und geschmachtet in weiter Ferne.
Wieder das Licht, deutlich und weithin leuchtend; angezündet, wie er wußte, als Willkommengruß und um ihn zur Eile anzutreiben. Er winkte mit der Hand und schwang den Hut, jubelte laut, als ob sie die Glut wären und ihn sehen und hören könnten, wie er jauchzend ihnen durch Schmutz und Morast entgegenfuhr.
»Halt!« Er kannte den Doktor und ahnte, was vorbereitet war. Er sollte sie nicht überraschen. Aber doch konnte er eine Überraschung daraus machen, wenn er zu Fuß nach dem Hause ging. Stand die Gartentür offen, konnte er leicht hineingelangen. Wenn nicht, war die Mauer leicht zu erklettern, wie er von früher her wußte, und im Nu stünde er dann mitten unter ihnen.
Er stieg aus dem Wagen und sagte dem Kutscher – selbst das war ihm nicht leicht in seiner Aufregung –, er solle für ein paar Minuten zurückbleiben und ihm dann erst nachfahren.
So schnell er konnte, lief er voraus, probierte, ob das Tor offen sei, kletterte über die Mauer, sprang auf der ändern Seite herunter und stand atemlos in dem alten Obstgarten.
Es lag ein frostiger Reif auf den Bäumen, und in dem schwachen Lichte des bewölkten Mondes hingen die dünnen Zweige wie welke Girlanden herab. Dürre Blätter raschelten unter seinem Fuß, wie er leise nach dem Hause schlich. Öde brütete die Winternacht auf der Erde und am Himmel. Freundlich schien ihm das Licht entgegen aus den Fenstern, Gestalten huschten hin und her, und das Summen und Murmeln von Stimmen grüßte lieblich sein Ohr. Lauschend, ob er ihre Stimme von den übrigen unterscheiden könnte, und schon halb überzeugt, daß er sie höre, hatte er fast die Türe erreicht, als sie sich schnell öffnete und eine Gestalt ihm entgegentrat und sofort erschrocken mit einem halbunterdrückten Schrei zurückwich.
»Clemency«, sagte er, »erkennst du mich denn nicht mehr?«
»Treten Sie nicht ein!« rief die Dienerin und hielt ihn zurück. »Kehren Sie um. Fragen Sie mich nicht warum. Treten Sie nicht ein.«
»Was gibt es denn?« rief er aus.
»Ich weiß es nicht, ich – ich kann es Ihnen nicht sagen. Kehren Sie um. Hören Sie?«
Ein Lärm entstand plötzlich im Hause. Ein wilder Schrei, laut und schrill, lief durch das Haus, und Grace, Entsetzen in Gesicht und Gebärde, stürzte heraus.
»Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist geschehen? Ist sie tot?«
Sie riß sich los, als wollte sie ihm ins Gesicht sehen, und fiel zu seinen Füßen nieder.
Eine Schar Gestalten kam aus dem Hause gestürzt. Unter ihnen der Doktor, ein Papier in der Hand.
»Was ist geschehen?« schrie Alfred, raufte sich das Haar und blickte voll Verzweiflung von Gesicht zu Gesicht, während er neben dem ohnmächtigen Mädchen kniete. »Will mich denn niemand ansehen? Mir niemand antworten? Erkennt mich denn niemand? Ist denn niemand unter euch, der mir sagt, was geschehen ist?«
Ein Gemurmel erhob sich: »Sie ist fort!«
»Fort?« wiederholte er geistesabwesend.
»Entflohen, mein lieber Alfred«, sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Entflohen aus dem Vaterhause. Heute nacht! Sie schreibt, sie habe ohne Schuld und frei gewählt – bittet, wir möchten ihr vergeben und ihrer nicht vergessen – und ist entflohen.«
»Mit wem? Wohin?«
Er sprang auf, als wollte er ihr nach, aber als sie zurückwichen, blickte er verstört um sich, wankte zurück, brach zusammen und blieb neben Grace knien, ihre kalte Hand in der seinen. Es herrschte Verwirrung und Aufregung, es war ein Hinundherstürzen ohne Sinn und Zweck. Einige liefen auf die Landstraße hinaus, andere holten Pferde und Fackeln, andere sprachen laut und erregt miteinander und wendeten ein, daß man weder Spur noch Richtung habe, um sie einholen zu können. Man trat zu ihm und versuchte ihn zu trösten, stellte ihm vor, daß Grace in das Haus geschafft werden müßte, aber er litt es nicht. Er hörte niemand an und bewegte sich nicht. Der Schnee fiel schnell und dicht. Alfred sah einen Augenblick zum Himmel auf und dachte sich, daß diese weiße Asche gut für ihn passe, die da auf sein Hoffen und sein Leid gestreut wurde. Er blickte um sich her auf den sich weiß färbenden Boden und begriff, daß die Spur von Marions Fuß sich bald verwischen werde. Er fühlte nichts von dem Wetter und regte sich nicht von der Stelle.


Dritter Teil


Sechs Jahre war die Welt seit dieser Nacht älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag, und ein starker Regen war gefallen. Die Sonne brach plötzlich aus den Wolken hervor, die alte Walstatt strahlte ihr ein Willkommen entgegen, das sich über das ganze Land verbreitete, als sei ein Freudenfeuer angezündet, das von tausend Orten Antwort winkte. Schön lag die Landschaft glitzernd im Lichtschein da, ein reicher, üppiger Hauch glitt dahin wie himmlische, alles erhellende Gegenwart. Der Wald, eben noch eine dunkle, schwarze Masse, spielte in bunten Farben von gelb, grün, braun und rot. Regentropfen sanken zitternd und funkelnd von den Blättern seiner Bäume nieder. Das grünende Wiesenland im Sonnenglanz, eben noch blind gewesen, hatte seine Augen wieder aufgeschlagen und blickte empor in den leuchtenden Himmelsraum. Die Kornfelder, Hecken und Zäune, die Hütten, die dicht gedrängten Dächer, Kirchturm, Bach und Mühle, alles trat lächelnd aus nebelgrauem Dunkel hervor. Lieblich sangen die Vögel, Blumen erhoben das Haupt, und frischer Geruch stieg aus dem feuchten Boden empor. Die blauen Streifen, hoch oben, wurden größer und weiter, und die schrägen Strahlen der Sonne trafen mit tödlichem Pfeil die Wolkenwand, die noch zu fliehen zögerte. Ein Regenbogen, der Inbegriff aller Farben, die Erde und Himmel schmücken, wölbte sich triumphierend über den ganzen Horizont.
Um diese Stunde zeigte eine kleine Schenke an der Straße, lauschig versteckt hinter einer großen Ulme mit einer köstlichen Ruhebank um den dicken Stamm, ihr freundliches Gesicht dem Wanderer, wie es sich für ein Wirtshaus geziemt, und winkte mit stummer, aber bedeutungsvoller Versicherung eines freundlichen Willkommens. Das rötliche Schild mit seinen goldenen, in der Sonne glänzenden Buchstaben lugte aus dem dunklen Laube des Baumes hervor wie ein fröhliches Gesicht und verhieß gute Bewirtung. Die Tränke voll reinen Wassers und auf dem Erdboden drunter Halme wohlriechenden Heus machten jedes Pferd, das vorbeiging, die Ohren spitzen. Die roten Vorhänge in den Zimmern zur ebenen Erde und die saubern weißen Gardinen in den kleinen Schlafzimmern oben winkten bei jedem Luftzug ein freundliches: Tritt ein! Auf den glänzend grünen Läden war in goldenen Buchstaben zu lesen von Bier und Ale, von guten Weinen und netten Betten, und darüber hing das beredte Bild einer schäumenden Trinkkanne. Auf den Fenstersimsen standen blühende Blumen in roten Töpfen, die sich lebendig von der weißen Front des Hauses abhoben, und in dem dunklen Torweg glänzten Streifen von Licht auf Flaschen und Zinnkrügen.
In der Türe erschien jetzt die saubere Gestalt eines Wirtes. Klein, aber rund und breit, stand der Mann da, die Hände in den Taschen und die Beine gerade weit genug gespreizt, um Zuversicht zu seinem Keller auszudrücken und sorgloses Vertrauen auf die Unterkunft, die die Schenke bieten könne, einzuflößen.
Die reichliche Nässe, die nach dem starken Regen von jedem Gegenstand herabtröpfelte, paßte recht gut zu dem Mann. Nichts war um ihn herum, das nach Durst aussah. Einige Dahlien mit schwerem Kopf, die über das Staket des nett gehaltenen Gartens guckten, hatten offenbar mehr getrunken, als sie vertragen konnten – vielleicht ein wenig zu viel – und schienen jetzt genug zu haben. Aber die Hagebutten, die Levkojen, die Zierpflanzen an den Fenstern und die Blätter des alten Baumes waren in der gehobenen Stimmung von mäßigen Leuten, die nie mehr zu sich nehmen, als ihnen gesund ist, und doch Sorge tragen, ihre besten Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen. Wie sie klare Tropfen auf dem Boden verstreuten, schienen sie harmlose sprühende Fröhlichkeit reichlich zu spenden und Gutes zu wirken, wo sie sie hinwerfen, vernachlässigte Winkel betauend, die den Regen nur selten sahen.
Diese Dorfschenke hatte bei ihrem Entstehen ein ungewöhnliches Zeichen gewählt. Sie führte den Namen »Zum Muskatnußreiber«. Und unter diesem Wort stand auf demselben rotflammenden Schild im dunkeln Laub und ebenfalls in goldenen Buchstaben: Benjamin Britain.
Ein zweiter Blick auf die Gesichtszüge und eine genauere Betrachtung verriet, daß Benjamin Britain in eigener Person in der Türe stand – ein wenig verändert zwar gegen früher, aber nur zu seinem Vorteil; ein recht gemütlicher, stattlicher Gastwirt.
»Mrs. B.«, sagte Mr. Britein und sah die Straße hinab, »bleibt etwas lange. Es ist Teezeit.«
Da noch immer keine Mrs. Britain zu entdecken war, schlenderte er langsam bis in die Mitte der Straße und warf einen Blick voll Zufriedenheit auf das Haus. »Sieht ganz so aus wie eine Wirtschaft, in die ich selbst einkehren möchte, wenn es nicht meine eigene wäre.« Dann schlenderte er an das Gartenstaket und betrachtete die Dahlien. Sie blickten über ihn hinweg mit hilflos und schläfrig hängenden Köpfen und nickten jedesmal, wenn die schweren Regentropfen von ihnen auf den Boden fielen.
»Für euch muß Sorge getragen werden«, sagte Benjamin. »Darf nicht vergessen, es ihr zu sagen. Wo sie nur so lange bleibt.«
Mr. Britains Ehehälfte schien in so hohem Maße seine bessere Hälfte zu sein, daß er ohne sie ratlos und verloren war.
»Sie hat doch nicht so viel zu besorgen, glaube ich«, sagte Ben, »ein paar Geschäfte nach dem Markt abzumachen, aber nicht viel. Aha, da kommen wir endlich.«
Ein Sesselwägelchen, kutschiert von einem Burschen, kam die Straße dahergerasselt, und darin, einen großen durchnäßten Regenschirm hinter sich zum Trocknen aufgespannt, saß die behäbige Gestalt einer Frau gesetztem Alters, die bloßen Arme über einem Korb, den sie auf dem Schoße trug, verschränkt und verschiedene andere Körbe und Pakete um sich herum. Ein gewisser freundlicher, gutmütiger Ausdruck in ihrem Gesicht und eine zufriedene Art von Unbehilflichkeit, wie sie von den Stößen des Wagens auf ihrem Sitze hin und her schwankte, erinnerten schon aus der Ferne an alte Zeiten. Bei ihrem Näherkommen trat dies noch deutlicher hervor, und als das Fuhrwerk an der Schenke »Zum Muskatnußreiber« hielt und ein Paar Schuhe schnell an Mr. Briteins offenen Armen vorbeischlüpften und aus dem Wagen stiegen und gewichtig auf den Boden trafen, da war kein Zweifel mehr: diese Schuhe gehörten niemand anders als Clemency Newcome.
Und sie gehörten ihr auch. Und Clemency stand in ihnen, die frische, rote, behäbige Person, die sie war, mit so rein gescheuertem Gesicht wie jemals, nur mit heilen Ellbogen, die jetzt sogar Grübchen zeigten.
»Du bleibst lange, Clemy«, sagte Mr. Britain.
»Du weißt, Ben, ich hatte eine Menge zu tun«, antwortete sie und beaufsichtigte rührig das Hineinschaffen ihrer Körbe und Pakete: »Acht, neun, zehn – wo ist elf? Ach, meine elf Körbe. Es ist alles in Ordnung. Schirre das Pferd ab, Harry, und wenn es wieder hustet, so gib ihm heute abend warme Streu. Acht, neun, zehn, wo ist nur elf? Ach ja, ich vergaß, es ist schon richtig. Was machen die Kinder, Ben?«
»Frisch und munter, Clemy.«
»Gott segne ihre lieben Gesichter!« sagte Mrs. Britain – mit ihrem Manne jetzt im Schenkzimmer –, band sich den Hut ab und strich sich das Haar mit der flachen Hand glatt.
»Gib mir einen Kuß, Alter!«
Mr. Britain beeilte sich, es zu tun.
»Ich glaube«, sagte Mrs. Britain, widmete sich ihren Taschen und zog einen riesigen Ballen dünner Bücher und zerknitterter Papiere, ein wahres Eselsohrendurcheinander, hervor, »ich habe alles erledigt. Alle Rechnungen bezahlt – die Rüben verkauft – die Brauerrechnung abgemacht – Tabakpfeifen bestellt – siebzig Pfund vier Shillinge in die Bank gezahlt – Dr. Heathfields Guthaben wegen der kleinen Clemy erledigt – du kannst dir schon denken, wie's ausgefallen ist – Dr. Heathfield will wieder nichts nehmen, Ben.«
»Hab mir's gleich gedacht«, bemerkte Britain.
»Ja. Er sagt, wie groß unsere Familie auch würde, er möchte dir nie einen halben Penny abnehmen dafür – nicht, wenn du zwanzig Kinder kriegen solltest.«
Mr. Britains Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an, und er sah starr an die Wand.
»Ist das nicht hübsch von ihm?« sagte Clemency.
»Außerordentlich«, entgegnete Mr. Britain. »Aber ich möchte seine Freundlichkeit um keinen Preis mehr in Anspruch nehmen.«
»Nein«, stimmte Clemency bei. »Natürlich nicht. Dann ist das Pony – es hat acht Pfund zwei Shillinge abgeworfen – nicht schlecht, was?«
»Sehr gut«, sagte Ben.
»Es freut mich, daß du zufrieden bist. Ich dachte es mir gleich; so, das ist, glaub' ich, alles! Und jetzt nichts mehr von Geschäften und cetrera, Britain. Hahaha, da nimm die Papiere und schau sie durch. Halt, wart einen Augenblick. Hier ist ein neues Plakat. Frisch aus der Druckerei. Wie gut es riecht.«
»Was ist's?« fragte Ben und sah das Blatt durch.
»Weiß ich nicht«, antwortete seine Frau. »Ich habe keine Silbe davon gelesen.«
»Öffentliche Feilbietung«, las der Wirt »Zum Muskatreiber«. »Vorbehaltlich früherer Erledigung durch Privatvertrag.«
»Ja, das schreiben sie immer drauf«, sagte Clemency.
»Ja, aber nicht, was jetzt kommt«, erwiderte er. »Schau mal her: Wohnhaus usw., Wirtschaftsgebäude usw., Wald und Garten usw., Hof und Zaun usw., Messrs. Snitchey & Craggs usw., Beigabe und Zubehör zu der unbelasteten und schuldenfreien Gutsherrschaft Michael Wardens Wohlgeboren wegen Übersiedlung ins Ausland.«
»Wegen Übersiedlung ins Ausland«, wiederholte Clemency.
»Hier steht's«, sagte Mr. Britain. »Schau her.«
»Und erst heute noch habe ich im alten Hause drüben wispern hören, daß sie bald bessere und genauere Nachrichten schicken wolle«, sagte Clemency, den Kopf sorgenvoll schüttelnd und wieder nach ihrem Ellbogen greifend, als ob die Erinnerung an frühere Zeiten auch alte Gewohnheiten wachrufe. »O mein, o mein, o mein, das wird wieder schweres Herzleid drüben geben, Ben.«
Mr. Britain stieß einen Seufzer aus und schüttelte auch den Kopf und sagte, er könne die Sache nicht begreifen und habe den Versuch schon längst aufgegeben. Mit diesen Worten machte er sich daran, das Plakat beim Schenkfenster aufzukleben. Clemency, die mittlerweile sinnend dagestanden, raffte sich auf und eilte hinaus, nach ihren Kindern zu sehen.
Obgleich der Wirt der Schenke »Zum Muskatnußreiber« große Achtung vor seiner Frau hegte, so geschah das doch ganz nach der alten Gönnerweise, und alles, was seine Gattin tat, ergötzte ihn höchlichst. Nichts hätte ihn mehr in Erstaunen gesetzt, als wenn ihm jemand bewiesen hätte, daß nur sie allein es war, die die ganze Wirtschaft führte und durch verständige Sparsamkeit, gute Laune, Ehrlichkeit und Fleiß ihn zum wohlhabenden Manne machte.
Es tat Mr. Britain sehr wohl, daran zu denken, daß er sich herabgelassen, als er Clemency geheiratet. Sie war ihm ein ständiges Zeugnis seines guten Herzens, und er hielt dafür, daß ihre Vortrefflichkeit als Hausfrau nur eine Bestätigung des alten Spruchs sei, »jede gute Tat trägt in sich selbst den Lohn«.
Er hatte das Plakat aufgeklebt und die Quittungen in den Schenkschrank geschlossen, wobei er immerwährend über ihre Geschäftsgewandtheit vor sich hin lachte, als sie mit der Nachricht hereinkam, daß die beiden jungen Herren Britain unter der Aufsicht einer gewissen Betsy im Wagenschuppen spielten, die kleine Clemy aber schlafe >wie ein Bild<. Dann setzte sich Clemency zum Tee, der ihrer auf einem kleinen Tische harrte. Es war eine kleine, hübsche Schankstube mit dem üblichen Schmuck an Gläsern und Flaschen, dazu eine einfache Uhr, die auf die Minute ging – es war genau halb sechs –, und jedes Ding stand an seinem Platz peinlichst blank gescheuert und poliert.
»Das erste Mal, daß ich heut zum Sitzen komme«, sagte Mrs. Britain und holte so tief Atem, als ob sie nun für den ganzen Abend festsäße. Gleich darauf stand sie aber doch wieder auf, um ihrem Mann Tee einzuschenken und Butterbrot zu schneiden.
»Wie mich dieses Plakat an alte Zeiten erinnert!«
»Hm«, sagte Mr. Britain, indem er seine Untertasse handhabte wie eine Auster und sie dementsprechend ausschlürfte.
»Dieser selbe Mr. Michael Warden«, sagte Clemency mit einem Blick auf die Versteigerungsanzeige, »hat mich um meine alte Stelle gebracht.«
»Aber dir deinen Gatten verschafft«, sagte Mr. Britain.
»Ja, das hat er«, erwiderte Clemency, »das verdanke ich ihm.«
»Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit«, sagte Mr. Britain und betrachtete sie über seine Untertasse hinweg. »Ich hatte mich einigermaßen an dich gewöhnt, Clemy, und sah ein, daß ich ohne dich nicht gut würde leben können. Hahaha, wer hätte gedacht, daß wir einander heiraten würden.«
»Ja, wer hätte das gedacht«, rief Clemency, »es war sehr gut von dir, Ben.«
»Nein, nein, nein!« antwortete Ben mit einer Miene von Selbstverleugnung, »nicht der Rede wert.«
»O doch, Ben«, sagte seine Gattin mit großer Herzenseinfalt. »Ich denke doch, und ich bin dir sehr dankbar dafür.« Sie blickte wieder nach dem Plakat. »Ach, als das liebe Kind fort und in Sicherheit war, da konnte ich mich nicht enthalten, um ihretwillen und der andern wegen zu erzählen, was ich wußte. Hätte ich das nicht sollen?«
»Jedenfalls hast du es erzählt«, bemerkte ihr Gatte.
»Und Dr. Jeddler«, fuhr Clemency fort, setzte ihre Tasse nieder und betrachtete gedankenvoll das Plakat, »jagte mich in seinem Gram und seinem Zorn von Haus und Hof. Ich bin nie in meinem ganzen Leben über etwas so froh gewesen wie darüber, daß ich kein böses Wort gesagt und daß ich ihm nichts nachgetragen habe, selbst damals nicht. Es hat ihm später aufrichtig leid getan. Wie oft hat er hier gesessen und wieder und wieder davon gesprochen, wie leid es ihm täte. Zum letzten Mal gestern noch, als du aus warst. Wie oft hat er hier in der Stube gesessen und stundenlang von diesem und jenem geredet, als ob es ihn interessiere – aber eigentlich nur der alten Zeit zuliebe und weil er weiß, daß sie mich so gern gehabt hat, Ben.«
»Wie hast du das alles damals nur herausgebracht, Clemy?« fragte Britain, erstaunt, daß seine Gattin eine Wahrheit deutlich erfassen konnte, die er trotz seines spekulativen Geistes nur in dämmernden Umrissen begriffen hatte.
»Das weiß ich selber nicht«, sagte Clemency und blies in ihren Tee, um ihn abzukühlen. »Gott, ich könnte es nicht sagen, und wenn hundert Pfund Belohnung draufstünden.«
Er würde seine metaphysischen Grübeleien wohl noch weiter fortgesponnen haben, wenn nicht Clemy hinter ihm an der Tür des Schenkzimmers ein sehr greifbares Etwas in Gestalt eines in Trauer gekleideten Gentlemans im Reitanzug erspäht hätte. Der Herr schien ihrem Gespräch zuzuhören und es gar nicht eilig zu haben.
Clemency stand rasch auf. Auch Mr. Britain tat desgleichen und begrüßte den Gast.
»Wollen Sie sich vielleicht hinaufbemühen, Sir. Es ist ein sehr hübsches Zimmer oben, Sir.«
»Ich danke«, sagte der Fremde und betrachtete Mrs. Britain aufmerksam. »Kann man hier eintreten?«
»O gewiß, wenn es Ihnen beliebt, Sir«, antwortete Clemency und lud den Herrn ein. »Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?«
Das Plakat fiel dem Fremden ins Auge, und er las es.
»Ein vorzüglicher Besitz das, Sir«, bemerkte Mr. Britain.
Der Gast gab keine Antwort, sondern drehte sich um, als er zu Ende gelesen, und betrachtete Clemency mit derselben forschenden Neugier wie früher, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie fragten mich eben?«
»Was Sie wünschten, Sir«, antwortete Clemency und musterte ihn ebenfalls verstohlen.
»Wenn Sie mir einen Schluck Ale geben«, sagte er und trat zu einem Tisch am Fenster, »und es mir hierherbringen wollen, werde ich Ihnen sehr verbunden sein. Aber lassen Sie sich nicht beim Essen stören.«
Ohne weitere Umstände setzte sich der Fremde dann nieder und sah auf die Landschaft hinaus. Er war ein Mann in der Blüte des Lebens und sehr gut gewachsen. Sein sonnengebräuntes Gesicht beschatteten dunkle Haare, und er trug einen Schnurrbart. Nachdem er sein Bier bekommen, schenkte er sich ein Glas ein, trank freundlich auf das Wohl des Hauses und fügte hinzu, als er das Glas wieder niedersetzte: »Ist wohl ein neues Haus, das hier, nicht wahr?«
»Nicht ganz neu«, antwortete Mr. Britain.
»So zwischen fünf und sechs Jahre alt«, sagte Clemency mit deutlicher Betonung.
»Vorhin, als ich eintrat, glaubte ich Dr. Jeddlers Namen vernommen zu haben«, erkundigte sich der Gast. »Auch dieses Plakat erinnert mich an ihn, denn ich weiß zufällig etwas von der Geschichte durch Hörensagen und durch Verbindungen, die ich habe. Lebt der alte Herr noch?«
»Ja, Sir, er lebt noch«, antwortete Clemency
»Hat er sich sehr verändert?«
»Seit wann, Sir?« fragte Clemency mit besondrem Nachdruck.
»Seit seine Tochter – aus dem Hause ging?«
»Ja. Seit damals hat er sich wohl sehr verändert. Er ist alt und grau geworden und hat nichts mehr von seiner alten Weise an sich. Aber ich glaube, er ist jetzt getröstet. Er hat sich seitdem mit seiner alten Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich sehr wohl getan. Anfangs war er sehr niedergebeugt, und es zerriß einem fast das Herz, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schimpfen hörte, aber nach einem oder zwei Jahren wurde es wieder besser mit ihm. Er fing wieder an, von seiner verlorenen Tochter zu sprechen und sie zu loben und die Welt sogar auch. Er wurde nie müde, mit Tränen im Auge zu erzählen, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hat ihr verziehen. Das war um die Zeit herum, als Miss Grace heiratete. Britain, du erinnerst dich doch?«
Mr. Britain erinnerte sich sehr gut.
»Die Schwester ist also verheiratet«, bemerkte der Fremde. Er schwieg eine Weile, ehe er fragte: »Mit wem?«
Clemency hätte fast das Teebrett fallen lassen, so sehr überrascht war sie über diese Frage.
»Haben Sie denn nie davon gehört?«
»Ich möchte gerne Genaueres darüber wissen.« Er schenkte sich ein neues Glas ein und setzte es an die Lippen.
»Oh, das wär' eine lange Geschichte, wenn man sie genau erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf die linke Hand und ihren Ellbogen auf die andere und blickte kopfschüttelnd im Geiste auf die verflossenen Jahre zurück, wie jemand, der ins Feuer sieht. »Das würde eine lange Geschichte werden.«
»Aber wenn man es in Kürze erzählt?« fragte der Fremde.
»In Kürze erzählt«, wiederholte Clemency in demselben nachdenklichen Ton und scheinbar ganz geistesabwesend, »was wäre da zu erzählen? Daß sie sich zusammen abhärmten, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen, daß sie sie in liebem Angedenken hielten und ihr mit keinem Worte Vorwürfe machten und Entschuldigungen aller Art für sie fanden, weiß jeder. Ich wenigstens weiß es. Niemand besser«, fügte sie hinzu und wischte sich mit der Hand die Augen.
»Und so –«, half der Fremde weiter.
»Und so«, sagte Clemency, mechanisch die Worte wiederholend und ohne ihre Stellung zu verändern, »so heirateten sie endlich. Sie wurden getraut an Marions Geburtstag – er kehrt morgen wieder. In aller Stille, aber sehr glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierengingen: >Soll unsere Hochzeit nicht an Marions Geburtstag sein?<, und so geschah es dann auch.«
»Und leben sie glücklich miteinander?« fragte der Fremde.
»Ja. Nie lebten zwei Menschen glücklicher, und nichts drückt sie als nur der alte Gram.«
Clemency erhob den Kopf, als ob sie plötzlich sich darüber klar werde, unter welchen Umständen sie diese Ereignisse sich ins Gedächtnis zurückrufe, und warf einen raschen Blick auf den Fremden. Da sie bemerkte, daß sein Gesicht dem Fenster zugewandt war, als sei er in Betrachtung der Aussicht versunken, machte sie ihrem Gatten allerhand erregte Zeichen und wies auf das Plakat und bewegte den Mund, als ob sie immer dasselbe Wort oder denselben Satz angestrengt wiederhole. Sie ließ dabei keinen Laut vernehmen, und ihre stummen Gebärden waren so außergewöhnlicher Art, daß dies unerklärliche Benehmen Mr. Britain an den Rand der Verzweiflung brachte. Er starrte den Tisch an, den Fremden, die Löffel, seine Frau, folgte ihrer Pantomime mit Blicken tiefsten Staunens und gänzlicher Ratlosigkeit, fragte sie in derselben stummen Sprache, ob vielleicht das Besitztum in Gefahr schwebe, ob er selbst in Gefahr schwebe oder sie; beantwortete ihre Signale mit andern, die die tiefste Verwirrung ausdrückten und riet halblaut aus den Bewegungen ihrer Lippen auf die merkwürdigsten Dinge, auf: »Milch und Wasser? – Monatswechsel – Maus und Walnuß« – und konnte doch nicht herausbekommen, was sie eigentlich wollte.
Clemency gab es endlich auf und rückte ganz allmählich ihren Stuhl ein wenig näher, beobachtete den Fremden mit scheinbar gesenkten Augen scharf und wartete gespannt, bis er ihr wieder eine Frage stellen werde. Sie brauchte nicht länge zu warten, denn er sagte gleich darauf:
»Und was war das spätere Schicksal der jungen Dame, die das Haus verließ? Ihre Familie weiß doch davon, nehme ich an?«
Clemency schüttelte den Kopf. »Dr. Jeddler soll mehr davon wissen, als er sich merken läßt, hörte ich. Miss Grace hat Briefe von ihrer Schwester bekommen, in denen sie schreibt, daß sie sich wohl befinde und glücklich darüber sei, daß sich Grace und Alfred geheiratet hätten. Und Miss Grace hat wieder geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über Marions Leben und ihrem Schicksal, das bis zu dieser Stunde noch nicht aufgeklärt ist und das –«
Sie wurde unsicher und stockte.
»Und das –«, wiederholte der Fremde.
»Das wohl nur eine einzige Person aufklären könnte«, sagte Clemency tief aufatmend.
»Und wer wäre das?« fragte der Fremde.
»Mr. Michael Warden«, antwortete Clemency fast mit einem Schrei, der gleichzeitig ihrem Manne verständlich machte, was ihr vorher nicht hatte gelingen wollen, und Michael Warden verriet, daß er erkannt sei.
»Sie erinnern sich meiner, Sir«, sagte Clemency und zitterte vor Erregung. »Ich hab es gleich bemerkt. Sie kennen mich noch von jener Nacht im Garten her. Ich war bei ihr.«
»Ja, Sie waren es«, sagte der Gast.
»Ja, Sir, ja gewiß. Und dies hier ist mein Mann, wenn Sie gestatten. Ben, mein lieber Ben, lauf zu Miss Grace, lauf zu Mr. Alfred, lauf wohin du willst, Ben, bring irgend jemand her, Ben, auf der Stelle!«
»Halt!« sagte Michael Warden, sich ruhig zwischen die Tür und Britain stellend. »Was wollen Sie tun?«
»Sie wissen lassen, daß Sie hier sind, Sir«, antwortete Clemency, außer sich vor Erregung die Hände zusammenschlagend, »ihnen sagen, daß sie von Ihren eigenen Lippen Nachricht über sie bekommen können, daß sie ihnen nicht ganz verloren ist und wieder nach Hause kommt und ihren Vater, ihre liebe Schwester und sogar ihre alte Dienerin, sogar mich« – sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust – »wieder mit dem Anblick ihres süßen Gesichtchens selig machen wird. Lauf, Ben, lauf!« – Sie wollte Britain wieder zur Türe drängen, aber immer noch wehrte ihm Mr. Warden den Ausgang, nicht zürnend, aber schmerzerfüllt.
»Oder vielleicht«, sagte Clemency und faßte in ihrer Erregung Mr. Warden am Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier, vielleicht ganz in der Nähe. Ich sehe es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Sir, lassen Sie mich doch zu ihr. Ich wartete sie, wie sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als den Stolz der ganzen Ortschaft. Ich kannte sie noch, als sie Mr. Alfreds Braut war, und versuchte, sie zurückzuhalten, als Sie sie weglockten. Ich weiß, wie es in ihrem Vaterhaus aussah, als sie noch die Seele darin war, und wie es anders geworden ist, seit sie entflohen ist. Lassen Sie mich doch mit ihr sprechen, Sir!«
Warden sah sie mitleidig und ein wenig verwundert an, gab aber kein Zeichen der Zustimmung von sich.
»Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, fuhr Clemency fort, »wie aufrichtig ihr alle vergeben haben, wie sehr sie sie lieben und welche Freude sie hätten, sie noch einmal sehen zu dürfen. Sie fürchtet sich vielleicht, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht kann ich ihr Mut machen. Sagen Sie mir nur das eine, Mr. Warden, ist sie bei Ihnen?«
»Nein«, sagte der Gast mit einem Kopfschütteln.
Seine Antwort, sein Benehmen, seine Trauerkleider, seine stille Rückkehr, seine öffentlich angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, erklärten ihr alles.
Marion war tot!
Er widersprach ihr nicht. Ja, sie war tot.
Clemency setzte sich hin, legte das Gesicht auf den Tisch und weinte.
In diesem Augenblick kam ein alter, grauhaariger Herr ganz außer Atem hereingestürzt und keuchte so stark, daß er an seiner Stimme kaum als Mr. Snitchey zu erkennen war.
»Gott im Himmel, Mr. Warden!« sagte der Advokat und zog den Gentleman beiseite. »Welcher Wind –«, er war so erschöpft, daß er innehalten mußte und erst nach einer Pause ganz schwach hinzusetzen konnte – »hat Sie hierhergeführt.«
»Ein ungünstiger, fürchte ich«, gab Mr. Warden zur Antwort. »Wenn Sie hätten hören können, was eben hier vorging, wie man mich bat, Unmögliches zu tun und wie ich nur Verwirrung und Herzleid bringen konnte.«
»Ich kann mir schon alles denken, aber warum sind Sie gerade hierher gegangen, mein lieber Herr«, rief der Advokat.
»Ich bitte Sie! Wie konnte ich denn wissen, wem das Haus gehört. Als ich meinen Bedienten zu Ihnen schickte, stolperte ich hier herein, weil mir das Haus ganz neu war und ich ein begreifliches Interesse fühle an allem, was sich hier in dieser alten Umgebung verändert hat. Überdies wollte ich doch mit Ihnen erst außerhalb der Stadt zusammenkommen, ehe ich mich öffentlich zeigte. Ich wollte erfahren, was die Leute von mir sprächen. Ich sehe übrigens an Ihrem Benehmen, daß Sie es mir sagen können. Wäre nicht Ihre verwünschte Vorsicht gewesen, hätte ich längst alles schon wissen können.«
»Unsere Vorsicht!« rief der Advokat aus. »Wie können Sie uns einen Vorwurf machen, Mr. Warden! Ich spreche im Namen meiner Wenigkeit & Craggs' – selig –«, dabei blickte Mr. Snitchey den Flor auf seinem Hute an und schüttelte den Kopf. »Wir hatten doch vereinbart, daß wir den Gegenstand nicht wieder berühren sollten, da es eine Angelegenheit wäre, in die sich so ernste und gesetzte Männer wie wir – ich notierte mir Ihre damaligen Äußerungen – nicht mischen dürften. Unsere Vorsicht! Während Mr. Craggs, Sir, in sein geachtetes Grab stieg in dem vollen Glauben –«
»Ich hatte ein feierliches Versprechen gegeben, zu schweigen, falls ich zurückkehren würde, wann immer das auch geschehen möchte«, unterbrach ihn Mr. Warden, »und habe es gehalten.«
»Gewiß, Sir, und ich wiederhole es, wir waren ebenfalls zum Schweigen verpflichtet, einesteils unserer Pflicht gegen uns selbst wegen, und dann verschiedener Klienten halber, zu denen auch Sie zählten. Es kam uns nicht zu, Sie über eine derartig delikate Angelegenheit auszuforschen. Ich hatte wohl so meinen Argwohn, Sir; es sind kaum sechs Monate her, daß ich von der Wahrheit unterrichtet wurde.«
»Von wem?« fragte Mr. Warden.
»Von Dr. Jeddler selbst, Sir, der mich aus freien Stücken ins Vertrauen zog. Er und nur er allein hat die volle Wahrheit seit mehreren Jahren gewußt.«
»Und Sie wissen sie auch?« fragte Mr. Warden.
»Ich auch, Sir«, antwortete Snitchey. »Und ich habe auch Grund, anzunehmen, daß Grace sie morgen abend ebenfalls erfahren wird. Man hat es ihr versprochen. Mittlerweile werden Sie mir hoffentlich die Ehre geben, Gast meines Hauses zu sein, da man Sie in Ihrem eignen nicht erwartet. Doch um weiteren Verlegenheiten auszuweichen, falls man Sie erkennen sollte – Sie haben sich zwar sehr verändert, und ich glaube, ich selbst wäre an Ihnen, Mr. Warden, ahnungslos vorübergegangen –, wäre es vielleicht besser, wir dinierten hier und gingen erst abends in die Stadt. Man ißt hier sehr gut zu Mittag, Mr. Warden; übrigens ist hier Ihr eigener Grund und Boden. Meine Wenigkeit & Craggs – selig – nahmen hier öfter ein Kotelett und waren immer sehr zufrieden.«
»Mr. Craggs, Sir«, fuhr Snitchey fort, die Augen auf einen Moment fest schließend und dann wieder öffnend, »wurde leider allzufrüh aus dem Buche der Lebendigen gestrichen.«
»Der Himmel vergebe mir, daß ich Ihnen nicht längst kondolierte«, erwiderte Michael Warden und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »aber ich bin wie im Traume. Es ist mir, als sei ich nicht recht bei Vernunft. Mr. Craggs, ja richtig. Es tut mir wirklich sehr leid, daß wir Mr. Craggs verloren haben.« Er sah bei diesen Worten auf Clemency und schien viel eher mit Benjamin zu sympathisieren, der sich bemühte, seine Frau zu trösten.
»Mr. Craggs, Sir«, bemerkte Snitchey, »mußte sich, wie ich zu meinem Leidwesen konstatiere, leider überzeugen, daß es dem Menschen nicht so leicht gemacht ist, das Leben zu behalten, wie ihm seine Theorie sagte, sonst wäre er noch unter uns. Es ist ein großer Verlust für mich! Mr. Craggs war mein rechter Arm, mein rechtes Bein, mein rechtes Ohr, mein rechtes Auge; ohne ihn bin ich wie gelähmt. Er vermachte seinen Anteil am Geschäfte Mrs. Craggs, den Testamentsvollstreckern, Administratoren und Kuratoren. Sein Name steht bis zum heutigen Tag noch über der Firma. Ich versuche manchmal wie ein Kind, mir einzureden, daß er noch lebe. Ich spreche immer noch gewohnheitsmäßig: für meine Wenigkeit & Craggs – selig, – Sir, selig.« Und der weichherzige Advokat wedelte mit dem Taschentuch.
Michael Warden, der Clemency noch immer beobachtete, beugte sich zu Snitchey und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ach, die Ärmste!« sagte Snitchey und schüttelte den Kopf. »Ja, sie hing immer so sehr an Marion. Sie hatte sie immer so gern. Hübsche Marion! Arme Marion! Kopf hoch, Mistress! Sie sind doch jetzt verheiratet. Denken Sie doch daran, Clemency.«
Clemency seufzte nur und schüttelte den Kopf.
»Nun, nun, warten Sie halt bis morgen«, sagte der Advokat freundlich.
»Morgen macht die Toten nicht mehr lebendig, Mister«, sagte Clemency schluchzend.
»Nein, das freilich nicht, sonst würde es uns Mr. Craggs – selig wieder zurückgeben«, entgegnete Snitchey. »Aber es kann gewisse mildernde Umstände bringen. Etwas Angenehmes. Warten Sie nur bis morgen.«
Clemency schüttelte die dargebotene Hand und sagte, sie wolle es tun, und Britain, der beim Anblick seiner in Schmerz aufgelösten Gattin – es war gerade, als ob das ganze Geschäft den Kopf hängen ließe – schrecklich niedergeschlagen war, sagte, daß es recht so sei. Und Mr. Snitchey und Michael Warden gingen die Treppe hinauf und waren bald in eine so vorsichtig geführte Unterhaltung vertieft, daß keine Silbe ihres Geflüsters hörbar wurde inmitten des Geklappers von Tellern und Schüsseln, des Zischens der Bratpfannen, des Brodeins der Kasserollen und des eintönigen Schnarrens des Bratspießrades, das von Zeit zu Zeit so schrecklich schnappte, als ob ihm ein Schlaganfall zugestoßen wäre – und all der andern Maßnahmen in der Küche.
Der folgende Tag war hell und friedevoll, und nirgendwo glänzten die herbstlichen Farben schöner als in dem stillen Obstgarten vor des Doktors Haus. Der Schnee vieler Winternächte war hier geschmolzen, manchen Sommer hindurch hatten die welken Blätter hier geraschelt, seit Marion geflohen war. Die Geißblattlaube war wieder grün, die Bäume warfen reiche und wechselnde Schatten auf das Gras, die Landschaft lag so still und heiter wie je. Nur sie fehlte.
Nur sie, nur sie. Sie hätte sich seltsam ausgenommen jetzt in dem alten Hause, seltsamer vielleicht, als damals das Haus ohne sie. Eine Dame saß jetzt an ihrem alten Platz, eine Dame, aus deren Herzen sie nie entschwunden war, in deren Gedächtnis sie treu fortlebte, unverändert, in Jugendfrische strahlend. In deren Liebe – Grace war jetzt selbst Mutter, und ein reizendes, kleines Töchterchen spielte an ihrer Seite – sie keine Nebenbuhlerin, keine Nachfolgerin hatte und auf deren Lippen jetzt der Name Marion schwebte.
Der Geist der Dahingegangenen blickte aus diesen Augen, aus Graces Augen, die jetzt an ihrem Hochzeitstag, dem gemeinsamen Geburtstage Marions und Alfreds, mit ihrem Gatten im Obstgarten saß.
Er war kein berühmter Mann geworden und auch nicht reich. Er hatte die Freunde seiner Jugend und die alte Umgebung nicht vergessen und überhaupt keine von des Doktors Prophezeiungen erfüllt. Aber bei seinen häufigen, geduldigen und heimlichen Besuchen in den Häusern der Armen, bei den vielen Nachtwachen an Krankenbetten und täglich so viel Mildem und Gutem, das auf den Seitenpfaden des Lebens blüht und dennoch nicht niedergetreten wird vom schweren Fuß der Armut, vor Augen, hatte er mit jedem Jahr die Wahrheit seines alten Glaubens besser erkannt und bewiesen. Seine wenn auch stille und bescheidene Lebensweise hatte ihm gezeigt, wie oft noch immer Engel bei den Menschen einkehren, so wie vor alters. Und wie oft gerade die Unscheinbarsten – selbst solche, die dem Auge häßlich und abstoßend erscheinen und in Lumpen gekleidet sind – am Schmerzenslager der Kranken in einem neuen Lichte erscheinen und zu hilfreichen Engeln werden mit einer Strahlenkrone um das Haupt.
Er lebte auf diesem alten Schlachtfeld vielleicht einem bes- sern Zwecke, als wenn er ruhelos ehrgeizigen Zielen nachgejagt hätte. Und er lebte glücklich mit seiner Gattin, seiner lieben Grace.
Und Marion? Hatte er sie vergessen?
»Die Zeit ist schnell entschwunden seitdem, liebe Grace« – sie sprachen von jener Nacht – »und doch scheint es so unendlich lange her zu sein. Wir zählen nach Veränderungen und Ereignissen in uns. Nicht nach Jahren.«
»Aber es sind auch Jahre verflossen, seit Marion gegangen ist«, erwiderte Grace. »Sechsmal, mein lieber Alfred, den heutigen Tag mit eingerechnet, haben wir an ihrem Geburtstag hier gesessen und von ihrer so heißersehnten und lange verschobenen Rückkehr gesprochen. Wann wird es nur endlich sein. Wann endlich?«
Alfred betrachtete sie aufmerksam, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und zog sie näher an sich:
»Aber Marion sagte dir doch in ihrem Abschiedsbrief, den sie auf dem Tische zurückließ und den du so oft liest, daß Jahre vergehen müßten, ehe es sein kann, nicht wahr.«
Grace zog den Brief aus dem Busen und küßte ihn und nickte.
»Und daß sie während dieser Jahre, so glücklich sie auch sein möge, die Zeit ersehnen werde, wo sie zurückkehren und alles aufklären könne, und daß sie dich bitte, hoffnungs- und vertrauensvoll desgleichen zu tun. Lautet der Brief nicht so, mein Herz?«
»Ja, Alfred.«
»Und steht es nicht immer wieder in jedem Brief, den sie seitdem geschrieben hat?«
»Nur im letzten nicht – dem letzten seit einigen Monaten –, in dem sie von dir sprach und von dem, was du damals schon gewußt haben sollst und was ich heute abend erfahren darf.«
Er blickte in das Abendrot und sagte, daß sie es erfahren dürfe, wenn die Sonne untergegangen sei.
»Alfred«, sagte Grace und legte die Hand voll Ernst auf seine Schulter. »Es steht etwas in dem alten Brief, was ich dir nie gesagt habe, aber heute abend, lieber Alfred, wo dieser Sonnenuntergang naht und unser Leben mit dem scheidenden Tag feierlicher und stiller zu werden scheint, kann ich es nicht geheimhalten.«
»Was ist es, Geliebte?«
»Als Marion von uns ging, schrieb sie in diesem ersten Brief, daß sie jetzt dich, Alfred, in meine Hände lege wie du einst sie mir, und sie bat mich und beschwor mich, daß ich, wenn ich sie und dich liebte, nicht deine Neigung zu mir – sie wisse genau, daß eine solche bestünde – zurückweisen möge, wenn einmal die noch frische Wunde geheilt sei, sondern sie ermutigen und erwidern solle.«
»– und mich wieder zu einem stolzen und glücklichen Mann machen, Grace. Schrieb sie das nicht?«
»Sie wollte mich so glücklich über deine Liebe machen, wie es der Fall ist«, war die Antwort, und sie schloß ihn in ihre Arme.
»Hör zu, Geliebte«, sagte er. - »Nein, so!« Und er legte sanft ihr Haupt an seine Schulter. »Ich weiß, warum ich von dieser Stelle im Brief nie etwas gehört habe. Ich weiß, warum du damals nie eine Spur davon in Wort oder Blick gezeigt hast. Ich weiß auch, warum meine Grace, trotzdem sie immer so freundlich zu mir gewesen ist, doch so schwer zu bewegen war, mein Weib zu werden. Und weil ich es weiß, kenne ich auch den unschätzbaren Wert des Herzens, das ich in meinen Armen halte, und danke Gott für den unendlichen Reichtum.«
Sie weinte, aber nicht aus Kummer, als er sie an sein Herz drückte. Nach einer Weile sah er auf das Kind zu seinen Füßen, das mit einem Körbchen voll Blumen spielte, und sagte zu ihm: »Schau doch, wie rot und golden die Sonne ist!«
»Alfred«, Grace blickte bei seinen letzten Worten rasch auf. »Die Sonne geht unter, vergiß nicht, daß ich es jetzt erfahren soll.«
»Du sollst die Wahrheit von Marions Geschichte jetzt erfahren, Geliebte«, antwortete er.
»Die ganze Wahrheit!« bat sie flehend. »Die unverhüllte Wahrheit. So lautet doch das Versprechen, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Ehe die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Und du siehst, Alfred, sie sinkt schnell.«
Er legte den Arm um sie und sah ihr fest in die Augen.
»Die Wahrheit, liebe Grace, soll nicht ich dir sagen. Sie soll dir von ändern Lippen kommen.«
»Von ändern Lippen?«
»Ja, ich kenne dein festes Herz. Ich weiß, wie tapfer du bist und daß ein vorbereitendes Wort bei dir genügt. Du sagtest, die Zeit ist gekommen. Ja, sie ist gekommen. Sage mir, daß du stark genug bist, eine Prüfung, eine Überraschung – eine Erschütterung zu ertragen: Und der Bote steht vor der Türe.«
»Welcher Bote? Welche Nachricht bringt er?«
»Ich darf nicht mehr sagen. Glaubst du, du verstehst mich?«
»Ich fürchte mich, daran zu denken«, sagte sie.
Trotz seinem ruhigen Blick lag eine Erregung in seinem Gesicht, die sie erschreckte. Wieder barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter und bat ihn zitternd, noch einen Augenblick zu warten.
»Mut, Grace! Wenn du Kraft genug hast, den Boten zu empfangen, so wartet er vor dem Tore. Die Sonne sinkt an Marions Geburtstag. Also Mut, Mut, Grace!«
Sie erhob das Haupt, sah ihn an und sagte, daß sie bereit sei. Wie sie dastand und ihm nachblickte, war ihr Gesicht Marions Zügen, wie sie in den letzten Tagen im Vaterhause gewesen, wunderbar ähnlich. Er nahm das Kind mit sich. Sie rief es zurück – es trug ihrer Schwester Namen – und drückte es an ihre Brust. Wieder freigelassen, sprang das Kind Alfred nach, und Grace war allein.
Sie wußte nicht, wovor sie sich fürchtete oder was sie erhoffte. Sie blieb regungslos stehen und blickte nach der Pforte, wo die beiden verschwunden waren.
Gott, was trat da aus dem Schatten, stand dort auf der Schwelle! Diese Gestalt in den weißen, von der Abendluft bewegten Kleidern, das Haupt zärtlich ruhend an ihres Vaters Brust! O Gott, war das eine Vision, die sich aus des alten Mannes Armen loslöste und mit einem Schrei in wildem Ungestüm schrankenloser Liebe ihr in die Arme sank!
»O Marion, Marion! O meine Schwester, mein Herzensliebling! Was für ein unaussprechliches Glück, dich wiederzusehen!«
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht heraufbeschworenes Phantasiegebilde, sondern Marion, die süße Marion selbst. So glücklich, so lieblich, so unberührt von Kummer und Prüfung, so herrlich in ihrer Anmut, daß, wie die untergehende Sonne auf ihr himmelwärts gerichtetes Gesicht schien, sie wie ein Engel aussah, der auf die Erde segenspendend herabgekommen.
Marion hielt ihre Schwester umfaßt, hatte sie zu einer Bank gezogen und beugte sich über sie und lächelte durch Tränen. Dann kniete sie vor ihr nieder und konnte keine Sekunde das Auge von ihr wenden. Endlich brach sie das Schweigen, und ihre Stimme war klar, tief und ruhig wie im Einklang mit der Abendstille.
»Als dies noch mein liebes Vaterhaus war, Grace, wie es jetzt es wieder sein soll -«
»O mein süßes Herz, nur einen Augenblick! O Marion, dich wieder sprechen zu hören!«
»Als dies noch mein Vaterhaus war, Grace, das es jetzt wieder sein soll, liebte ich Alfred von ganzem Herzen. Ich liebte ihn auf das innigste und wäre gern für ihn gestorben, obwohl ich noch so jung war. Ich verschmähte seine Liebe nie in meinem innersten Herzen. Keinen einzigen Augenblick. Sie war mir teuerer, als ich sagen kann. Es ist lange her und längst vorbei, und alles ist ganz anders geworden, und doch ertrug ich den Gedanken nicht, du könntest glauben, ich hätte ihn einst nicht treu geliebt. Ich liebte ihn nie heißer, Grace, als an jenem Tage, wo er Abschied nahm. Ich liebte ihn nie mehr als an jenem Abend, wo ich von hier verschwand.«
Ihre Schwester konnte ihr bloß ins Antlitz schauen und sie fest umschlungen halten.
»Aber ohne es zu wissen«, sagte Marion mit sanftem Lächeln, »hatte er bereits ein anderes Herz gewonnen, ehe ich noch eins besaß, um es ihm zu schenken. Dieses Herz - deines, liebe Schwester - war so von Zärtlichkeit zu mir erfüllt, so hingebend und so edel, daß es seine Liebe verbarg und sie geheimhielt vor aller Augen, außer vor meinen – oh, welche Augen wären auch so von Zärtlichkeit und Dankbarkeit geschärft gewesen –, und sich für mich opferte. Aber ich kannte gar wohl die Tiefe dieses Herzens. Ich wußte um den Kampf, den es ausgestanden. Ich wußte, wie hoch und unschätzbar sein Wert für ihn war und wie hoch er es hielt, mochte er mich lieben, wie er wollte. Ich wußte, wieviel ich diesem Herzen schuldete, und hatte das Vorbild täglich vor Augen. Was du für mich getan, Grace, fühlte ich, würde ich auch für dich tun können. Ich legte mich nie zur Ruhe, ohne unter Tränen zu beten, daß ich die Kraft dazu haben möge. Ich legte mich nie zur Ruhe in die Kissen, ohne an Alfreds eigene Worte an seinem Abschiedstag zu denken, daß täglich im menschlichen Herzen Siege erfochten würden, gegen die die Siege auf diesem Schlachtfeld in nichts versänken. Und je mehr ich an die Entsagung dachte, die täglich und stündlich in dem großen Lebenskampf, von dem er sprach, bewiesen wird, ohne daß jemand ihrer gedächte, da fühlte auch ich meine Aufgabe täglich leichter werden. Und er, der unsere Herzen sieht in diesem Augenblick und weiß, daß kein Tropfen Gram oder Leid in dem meinen ist, nichts als ungemischte Freude – er gab mir die Kraft zum Entschluß, niemals Alfreds Weib zu werden. Mein Bruder und dein Gatte, wenn meine Handlungsweise dieses glückliche Ende herbeiführen könnte, sollte er sein, aber ich niemals sein Weib!«
»O Marion! O Marion!« –
»Ich versuchte, gleichgültig gegen ihn zu sein« – sie drückte ihrer Schwester Gesicht an ihre Wangen–, »aber das war schwer, und du warst immer seine treue Fürsprecherin. Ich wollte dir meinen Entschluß mitteilen, aber es ging nicht. Du mochtest mich nie anhören und würdest mich nicht verstanden haben. Die Zeit seiner Rückkehr kam heran. Ich fühlte, daß ich handeln mußte, ehe der tägliche Umgang mit ihm sich erneuern würde. Ich erkannte, daß ein großer Schmerz in diesem Augenblick uns allen langes Leid ersparen würde, erkannte, daß, wenn ich vor ihm entfloh, das Ende so kommen müßte, wie es gekommen ist, und daß wir beide noch glücklich werden würden, Grace. Ich schrieb an die gute Tante Martha und bat sie um Aufnahme in ihrem Hause; ich sagte ihr damals nicht die volle Wahrheit, und doch gewährte sie mir gern meine Bitte. Während ich noch mit mir selbst rang und mit meiner Liebe zu dir und dem Vaterhaus, da wurde Mr. Warden durch einen Unglücksfall eine Zeitlang unser Hausgenosse.«
»Wie oft habe ich in all den Jahren gezittert«, rief Grace aus und wurde leichenblaß, »daß du ihn niemals liebtest und ihn nur geheiratet hast, um dich für mich aufzuopfern.«
»Er war damals im Begriff, heimlich ins Ausland zu flüchten«, fuhr Marion fort und zog ihre Schwester näher zu sich. »Er schrieb an mich, setzte mir seine Verhältnisse und Absichten auseinander und bot mir seine Hand an. Er sagte mir, er habe bemerkt, daß ich Alfreds Rückkehr nicht mit Freude entgegensähe – ich glaube, er war der Meinung, mein Herz habe keinen Teil an diesem Bunde. Ich hätte Alfred vielleicht früher geliebt, aber es wäre vorbei, ich suchte meine Gleichgültigkeit zu verbergen, indem ich mich absichtlich gleichgültig stellte – kurz, ich weiß es nicht. Aber es war mein Wunsch, daß Alfred glauben solle, er habe mich ganz verloren, und daß ihm keine Hoffnung mehr bliebe. Verstehst du mich, geliebte Schwester.«
Grace sah ihr aufmerksam ins Gesicht; sie schien in Ungewißheit zu schweben.
»Ich kam mit Mr. Warden zusammen und vertraute seiner Ehrenhaftigkeit. Ich gestand ihm mein Geheimnis am Vorabend seiner und meiner Flucht. Er hat es treu bewahrt.«
Grace blickte sie verwirrt an. Sie schien kaum zu hören.
»Meine liebe, liebe Schwester!« sagte Marion. »Sammle deine Gedanken einen Augenblick und hör zu. Sieh mich nicht so seltsam an. Es gibt Stätten, wohin diejenigen, die eine rebellische Leidenschaft unterdrücken oder einen tiefen Schmerz in ihrer Brust heilen wollen, sich in Abgeschlossenheit vor der Welt und ihren Hoffnungen für immer zurückziehen wollen. Wenn Frauen dies tun, so nehmen sie den Namen an, der dir und mir so teuer ist, und nennen einander Schwestern. Aber es gibt auch Schwestern, Grace, die in der weiten Welt und mitten im Menschengewühl bemüht sind, Segen zu spenden und Gutes zu tun, und so dasselbe Ziel erreichen und mit frischem, jugendlichem Herzen und noch empfänglich für Glück auch sagen können: der Kampf ist vorbei und der Sieg gewonnen. Und so ist es mir gegangen. Verstehst du mich jetzt?«
Immer noch blickte Grace sie starr an und gab keine Antwort.
»O Grace, meine liebe Grace«, und Marion schmiegte sich noch zärtlicher an die Brust jener, die sie so lang gemieden, »wenn du nicht glücklich als Gattin und Mutter wärest – wenn ich keine kleine Namensschwester hier fände – wenn Alfred, mein lieber Bruder, nicht dein zärtlicher Gatte wäre, woher sollte ich denn dann die Glückseligkeit nehmen, die ich jetzt empfinde. Wie ich das Haus verlassen habe, so kehre ich zurück. Mein Herz hat keine andere Liebe gekannt, meine Hand ist noch immer frei, ich bin immer noch deine jungfräuliche Schwester, unverheiratet, unversprochen – deine alte Marion, in deren Herzen du allein ohne Nebenbuhler wohnst, Grace.«
Grace verstand jetzt. Die Spannung in ihren Zügen ließ nach, sie fiel Marion um den Hals und weinte und weinte und liebkoste sie wie ein Kind.
Als sie sich wieder gesammelt hatten, sahen sie den Doktor und Tante Martha, seine Schwester, und Alfred neben sich stehen. »Das ist ein schwerer Tag für mich«, sagte Tante Martha und lächelte unter Tränen, als sie ihre Nichten umarmte, »denn indem ich euch alle glücklich mache, verliere ich mein liebes Kind, und was könnt ihr mir für meine Marion geben?«
»Einen bekehrten Bruder«, sagte der Doktor.
»Das ist wenigstens etwas«, antwortete Tante Martha, »in einer Posse wie –«
»Ich bitte dich, hör auf«, sagte der Doktor bußfertig.
»Na, ich will's gut sein lassen«, meinte Tante Martha. »Aber ich komme wahrhaftig schlecht dabei weg. Ich weiß wirklich nicht, was aus mir ohne meine Marion werden soll, wo wir fast ein halbes Dutzend Jahre zusammengelebt haben.«
»Du mußt zu uns ziehen und hier leben«, rief der Doktor, »wir zanken uns gewiß nicht mehr.«
»Oder heiraten, Tante«, riet Alfred.
»Ich glaube wirklich«, erwiderte die alte Dame, »es wäre nicht übel, wenn ich Michael Warden ins Auge faßte, der sich in jeder Hinsicht gebessert haben soll, wie ich höre. Aber da ich ihn schon als Knaben kannte und ich schon damals nicht mehr sehr jung war, könnte er mir vielleicht einen Korb geben. Nein, ich will lieber zu Marion ziehen, wenn sie heiratet – was wohl nicht mehr sehr lang dauern kann –, und bis dahin allein bleiben. Was meinst du dazu, Bruder?«
»Ich habe doch wieder große Lust, zu sagen, daß es eine lächerliche Welt ist, in der es nichts Ernsthaftes gibt«, bemerkte der Doktor.
»Du könntest zwanzig Gutachten darüber ausstellen, Anthony«, bemerkte seine Schwester, »und es würde dir's doch niemand glauben, wenn du dabei ein solches Gesicht machst.«
»Es ist eine Welt voller Herzen«, sagte der Doktor und umarmte seine jüngere Tochter, und sich hinüberbeugend, um auch Grace an sich zu ziehen, denn er konnte die Schwestern nicht voneinander trennen: »Eine ernste Welt trotz aller ihrer Narretei, trotz aller ihrer Torheiten, die groß genug waren, die ganze Erde zu überschwemmen. Eine Welt, über der die Sonne nie aufgeht, ohne auf Tausende von unblutigen Kämpfen niederzuscheinen, die die Leiden und Verbrechen der Schlachtfelder einigermaßen wiedergutmachen, eine Welt, die wir nicht verspotten dürfen, Gott verzeih' mir, denn sie ist eine Welt voll heiliger Geheimnisse, und nur ihr Schöpfer allein weiß, was unter der Oberfläche seines geringsten Ebenbildes sich verbirgt.« - - -
Ich täte niemand einen Gefallen damit, wenn ich mit plumper Hand die Freude dieser langgetrennten und jetzt wieder vereinigten Familie ausmalen wollte. Ich will dem Doktor nicht durch die Erinnerungen an seinen Schmerz folgen, den er nach Marions Flucht gefühlt, und will nicht erzählen, wie ernst er die Welt empfunden, in der tief wurzelnde Liebe das Erbteil aller Menschen ist, auch nicht, wie ihn eine Kleinigkeit, ein einziger kleiner Rechenfehler in seiner großen närrischen Philosophie zu Boden gedrückt hatte, auch nicht, wie ihm seine Schwester schon längst aus Mitleid die Wahrheit allmählich enthüllt und ihm das Herz seiner Tochter, die freiwillig in die Verbannung gegangen war, entdeckt und ihn an Marions Brust zurückgeführt hatte.
Ich will auch nicht schildern, wie Alfred Heathfield im letzten Jahre die Wahrheit erfahren, wie Marion ihn gesehen und ihm als ihrem Bruder versprochen hatte, am Abend ihres Geburtstags Grace mit eigenem Munde alles zu enthüllen.–––
»Verzeihung, Doktor«, sagte plötzlich Mr. Snitchey, in den Garten guckend. »Darf ich mir die Freiheit nehmen, näher zu treten?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er geradenwegs auf Marion zu und küßte ihr erfreut die Hand.
»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, meine teure Miss Marion«, begann er, »würde er am heutigen Ereignis lebhaftestes Interesse nehmen. Er würde sicher zur Ansicht kommen, daß Ihnen das Leben nicht allzu leicht gemacht wurde, und vielleicht, daß es recht angebracht ist, kleine Erleichterungen zu spenden, wann immer wir können. Denn Mr. Craggs war ein Mann, der sich überzeugen ließ. Er war Belehrungen stets zugänglich. Wenn er jetzt einer solchen Belehrung ein offenes Ohr leihen könnte – doch hier liegt der schwache Punkt der Sache. Mrs. Snitchey, teure Gattin« – auf diesen Ruf erschien die Dame in der Türe – »wir sind unter alten Freunden.«
Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch dargebracht, nahm sie ihren Gatten beiseite. »Nur einen Augenblick, Mr. Snitchey«, sagte die würdige Dame. »Es liegt nicht in meiner Natur, die Asche der Toten aufzuwirbeln.«
»Nein, meine Teure«, antwortete der Advokat.
»Mr. Craggs ist –«
»Ja, meine Liebe. Er ist gestorben«, sagte Mr. Snitchey.
»Nichtsdestoweniger bitte ich dich«, fuhr seine Gattin fort, »dir jenen Ballabend ins Gedächtnis zurückzurufen. Nur darum bitte ich dich. Wenn dich dein Erinnerungsvermögen nicht ganz verläßt und du nicht ganz und gar geistesschwach bist, so ersuche ich dich, den heutigen Abend mit jenem zu verknüpfen und daran zu denken, wie ich dich auf meinen Knien anflehte und bat–«
»Auf den Knien?« fragte Mr. Snitchey
»Ja«, sagte Mrs. Snitchey mit Festigkeit. »Du weißt es noch ganz gut–––anflehte, dich vor diesem Mann zu hüten – sein Auge zu beobachten. Jetzt sage mir, ob ich damals nicht recht hatte und ob er an jenem Tage nicht um Geheimnisse wußte, die zu verschweigen er für gut fand.«
»Mrs. Snitchey«, flüsterte ihr der Advokat ins Ohr, »Madame, bemerkten Sie auch etwas in meinem Auge?«
»Nein«, sagte Mrs. Snitchey mit Schärfe. »Bilden Sie sich das nicht ein!«
»Ich sage das bloß, weil wir an jenem Abend zufällig«, fuhr Snitchey fort und hielt seine Gattin am Ärmel fest, »alle beide im Besitz eines Geheimnisses waren, das wir nicht verraten durften, und beide firmagemäß ein und dasselbe wußten. Je weniger Sie, Madame, von dieser Sache sprechen, desto besser. Nehmen Sie es als eine Lehre hin und sehen Sie in Zukunft die Dinge mit weiserem und barmherzigerem Auge an. Miss Marion, ich habe Ihnen eine alte Freundin mitgebracht. Hier, Mistress.«
Die alte Qemency trat, die Schürze vor den Augen, von ihrem Gatten geführt, langsam herein; Britain wie in einer bösen Vorahnung, daß es mit dem Wirtshaus »Zum Muskatreiber« vorbei sei, falls seine Gattin den Mut verlöre.
»Nun, Mistress«, sagte der Advokat und hielt Marion zurück, die der alten Dienerin entgegeneilen wollte, »was ist denn mit Ihnen los?«
»Los?« schrie die arme Clemency.
Aber wie sie jetzt, verwundert und verletzt durch die Frage und erschrocken über ein lautes Gebrüll Mr. Britains, aufblickte und das wohlbekannte liebe Gesicht so dicht vor sich sah, da machte sie große Augen, schluchzte, lachte, weinte und schrie, umarmte Marion, hielt sie fest, ließ sie wieder los, fiel über Mr. Snitchey her und umarmte ihn – zur größten Empörung Mrs. Snitcheys –, fiel über den Doktor her und umarmte ihn, dann über Mr. Britain, und umarmte schließlich sich selbst, warf die Schürze über den Kopf und lachte und weinte durcheinander.
Ein Fremder war hinter Mr. Snitchey in den Obstgarten gekommen und an der Türe stehengeblieben, ohne von den ändern bemerkt zu werden, die sehr wenig Aufmerksamkeit übrig hatten und durch Clemencys Ekstasen vollständig in Anspruch genommen waren. Er wollte offenbar nicht auffallen, sondern blieb abseits stehen mit niedergeschlagenen Augen.
Sein Gesicht machte den Eindruck von Betrübnis, der in der allgemeinen Fröhlichkeit nur noch auffälliger wurde. Es war ein Herr von sehr vornehmer Erscheinung. Nur Tante Marthas scharfen Augen schien er nicht entgangen zu sein. Kaum hatte sie ihn erspäht, war sie schon in die lebhafteste Konversation mit ihm verwickelt. Gleich darauf trat sie wieder zu Marion, die neben Grace und ihrer kleinen Namensschwester stand, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie sehr zu überraschen schien. Aber schnell sich wieder fassend, näherte sich Marion mit der Tante dem Fremden und ließ sich mit ihm in eine Unterhaltung ein.
»Mr. Britain«, sagte der Advokat und zog ein nach einem Aktenstück aussehendes Dokument aus der Tasche. »Ich beglückwünsche Sie. Sie sind jetzt der einzige und alleinige Eigentümer jenes Grundstückes, das Sie bisher in Pacht hatten und auf dem Sie eine konzessionierte Schenke oder Gastwirtschaft betreiben, die gemeinhin nach ihrem Schilde als das Wirtshaus »Zum Muskatreiber« bezeichnet wird und bekannt ist. Ihre Frau ging durch Verschulden meines Klienten, Mr. Michael Warden, eines Hauses verlustig und gewinnt nun durch ihn ein anderes. Ich werde mir das Vergnügen machen, Ihnen an einem der nächsten Vormittage meine Aufwartung zu machen, um mich um Ihre Stimme bei den nächsten Wahlen zu bewerben.«
»Würde es einen Unterschied in der Stimmenabgabe machen, wenn das Schild geändert würde, Sir?« fragte Britain.
»Durchaus nicht«, antwortete der Advokat.
»Dann«, sagte Mr. Britain und gab Snitchey die Urkunde zurück, »flicken Sie noch die Worte ein: ›und Fingerhut‹, und ich werde die beiden Sprüche im Wohnzimmer aufhängen lassen anstelle des Porträts meiner Gattin.«
»Und mir?« sagte eine Stimme hinter ihnen, es war Michael Wardens, des Fremden Stimme. »Lassen Sie mir den Segen dieser Inschriften zukommen! Mr. Heathfield und Dr. Jeddler, ich hätte Ihnen großes Unrecht zufügen können! Daß es nicht dazu kam, ist nicht mein Verdienst. Ich will nicht sagen, daß ich um sechs Jahre weiser oder besser bin, als ich war, aber jedenfalls habe ich so lange bereut. Ich habe keinen Anspruch auf schonende Behandlung von Ihrer Seite. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft dieses Hauses, lernte aber meine Fehler einsehen mit einer Beschämung, die ich nie vergessen habe, und nicht ohne Nutzen, durch eine Dame« – er blickte Marion an – »die ich demütig um Verzeihung bat, als ich ihren innern Wert und meine eigne Unwürdigkeit erkannte. In wenigen Tagen werde ich diesen Ort für immer verlassen, und ich bitte Sie alle um Verzeihung: – Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem ändern zu! Vergiß und vergib!«
Der Geist der Zeit, der mir den letzten Teil dieser Geschichte mitteilte und den seit fünfunddreißig Jahren persönlich zu kennen ich das Vergnügen habe, teilte mir gelegentlich mit, nachlässig auf seine Sense gelehnt, daß Michael Warden England nie verließ und auch sein Haus nicht verkaufte, sondern es zu einer goldnen Stätte der Gastlichkeit machte und sich eine Gattin gewann, den Stolz und die Ehre der ganzen Gegend, die den Namen Marion führt. Allerdings ist mir bekannt, daß der Geist der Zeit zuweilen die Tatsachen arg untereinandermengt, und daher weiß ich nicht, wieviel Gewicht auf seine Aussagen zu legen ist.