Charles Dickens - Das Heimchen am Herde


Charles Dickens - 5. Weihnachtsgeschichte
Das Heimchen am Herde
Ein Hausmärchen.


Erstes Zirpen.


Der Kessel fing an! Sprecht mir nicht davon, was Mrs. Peerybingle behauptet hat. Natürlich weiß ich es besser als sie. Für ewige Zeiten mag Mrs. Peerybingle es vor Gericht zu Protokoll geben, daß sie nicht imstande sei, auszusagen, wer von ihnen beiden den Anfang gemacht hat – ich behaupte, daß der Kessel es war. Wer sollte es denn sonst wissen, wenn nicht ich. Dort in der Ecke steht eine kleine Schwarzwälderuhr, und deren Wachsgesicht zeigte an, daß der Kessel ganze fünf Minuten vorher angefangen hat, bevor das Heimchen überhaupt zu zirpen begann.
Gerade als hätte die Uhr nicht voll ausgeschlagen und als hätte der kleine Landmann oben drauf, der mit seiner Sense vor einem maurischen Schloß rechts und links drauflos arbeitete, nicht einen halben Morgen Gras abgemäht – das, nebenbei gesagt, garnicht da war, bevor das Heimchen überhaupt daran dachte, einzufallen.
Nicht, daß ich von Natur aus immer recht haben will. Alle Welt weiß das. Um nichts in der Welt möchte ich Mrs. Peerybingle widersprechen, wenn ich nicht vollkommen von der Wahrheit meiner Aussage überzeugt wäre. Wahrlich, nichts könnte mich dazu veranlassen. Hier jedoch sprechen Tatsachen. Und Tatsache ist, daß der Kessel mindestens fünf Minuten vorher begann, bevor das Heimchen überhaupt ein Lebenszeichen von sich gab. Wenn mir jetzt jemand widerspricht, so sage ich zehn!
Erlaubt jetzt, daß ich exakt erzähle, wie es geschah. Freilich hätte ich das gleich tun sollen, – aber das ist einfach so: soll ich eine Geschichte erzählen, so habe ich mit dem Anfang anzufangen – und wie kann ich mit dem Anfang anfangen, wenn ich nicht mit dem Kessel beginne?
Ist es nicht gerade, als handelte es sich um eine Wette oder ein musikalisches Preisringen? Natürlich zwischen dem Kessel und dem Heimchen. Und nun erzähle ich auch, wie es zugegangen ist und wie sich die Sache verhält.
Mrs. Peerybingle ging in die unheimliche Dämmerung hinaus und klapperte mit ihren Pantoffeln, unendlich viele rohe Abdrücke des ersten Euklidischen Lehrsatzes auf dem Hofe zurücklassend, über die nassen Steine, um den Kessel aus dem Wasserfaß zu füllen. Sodann kehrte sie in das Haus zurück, d. h. ohne die Pantoffel – und das ist ein großer Unterschied, denn die Pantoffel waren hoch und Mrs. Peerybingle war klein – und nun stellte sie den Kessel ans Feuer. Dabei verschwand ihre gute Laune, oder Mrs. Peerybingle hatte sie beiseite gelegt. Denn das Wasser auf dem Hofe – das sehr kalt war und außerdem so klebrig und glitschig, daß es alle möglichen Stoffe, selbst Pantoffel nicht ausgenommen, durchdringt – hatte Mrs. Peerybingles Füße nicht geschont und selbst ihre Waden bespritzt. Bilden wir uns aber nun – und das mit Fug und Recht – etwas auf unsere Beine ein und sind wir obendrein sehr eigen, was Sauberkeit und saubere Strümpfe betrifft, so empfinden wir das natürlich zunächst als eine große Unannehmlichkeit. –
Nun kommt noch dazu, daß auch der Kessel überaus widerspenstig war. Er wollte auf der Eisenstange nicht sitzen bleiben: er wollte nichts davon wissen, sich den Kohlen freundlich anzubequemen. Er beugte sich absolut wie ein Betrunkener vornüber und, als richtiger Einfaltspinsel von einem Kessel, ließ er seinen Inhalt auf den Herd tröpfeln. –
Er war streitsüchtig und zischte und sprudelte mürrisch über dem Feuer. Schließlich widersetzte sich auch der Deckel Mrs. Peerybingles Fingern; erst schlug er einen Purzelbaum und dann fiel er mit boshafter Hartnäckigkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen, seitwärts bis auf den Grund des Kessels hinunter. Sogar der Rumpf des »Königlichen Georg« hat, um aus den Tiefen des Meeres gehoben zu werden, den Ingenieuren nicht halb soviel Widerstand geleistet, als dieser widerspenstige Kesseldeckel den Fingern der Mrs. Peerybingle.
Auch dann noch erwies sich der Kessel widerspenstig und dickköpfig; streckte seinen Henkel keck empor und schien seine Schnauze impertinent und höhnisch gegen Mrs. Peerybingle zu rümpfen, als wollte er sagen:
»Ich will nicht kochen. Nichts kann mich dazu bewegen!«
Aber Mrs. Peerybingle hatte ihre gute Laune wiedergefunden: sie rieb ihre molligen rundlichen Hände aneinander und setzte sich vergnügt vor den Kessel. Inzwischen schlug die Flamme fröhlich empor und beleuchtete freundlich den kleinen Grasmäher auf der Schwarzwälder Uhr, so daß man hätte glauben können, er stehe stockstill vor dem maurischen Palast und nur die Flamme sei in Bewegung.
Allein er bewegte sich doch; er hatte noch ganz richtig und regelmäßig seine Anfälle, immer zwei in der Sekunde. Aber es war schrecklich, seine Leiden anzusehen, wenn die Uhr im Begriff war zu schlagen, und sooft der Kuckuck aus seiner Klapptür im Palast herausguckte und sechsmal einsetzte, schüttelte es ihn jedesmal wie eine Gespensterstimme, oder wie ein Eisendraht, der an seinen Beinen zerrte.
Erst nach einer heftigen Erschütterung, und nachdem das Schnarren und Rasseln der Gewichte und der Schnüre unter ihm vollständig aufgehört hatte, kam der geängstete Grasmäher wieder zu sich. Sein Schrecken war übrigens begründet gewesen; denn die rasselnden Knochengerippe von Uhren sind mit ihrer lärmenden Tätigkeit ganz danach angetan, jeden außer Fassung zu bringen, und es wundert mich sehr, wie sich irgendein Mensch, ganz besonders aber ein Schwabe, daran ein Vergnügen finden konnte, sie zu erfinden. Behauptet man doch überhaupt, die Schwaben liebten weite Gehäuse und viel Kleidungsstoff für die unteren Teile ihres Körpers, und sie hätten darum schon der Übereinstimmung wegen ihre Uhren nach unten zu nicht so ganz nackt und unbekleidet lassen sollen.
Aber dies war der Augenblick, wo der Kessel sich zu amüsieren anfing. Dies war der Augenblick, wo der Kessel, sanft und musikalisch werdend, in seiner Kehle ein ununterdrückbares Gurgeln zu bekommen begann und kurze Schnaubetöne hören ließ, die er jedoch sofort erstickte, als wüßte er selbst noch nicht, ob er ein angenehmer Gesellschafter wäre. Dies war der Augenblick, wo er, nach zwei oder drei vergeblichen Anläufen seine zutraulichen Gefühle nicht zu verraten, alle üble Laune, alle Zurückhaltung beiseite schob und plötzlich in so fröhliche, trauliche Melodien ausbrach, daß sogar die sentimentalste Nachtigall ihn darum beneidet hätte.
Und wie einfach war der Gesang! Gott, ihr hättet ihn verstanden wie ein Buch – ja vielleicht besser als gewisse Bücher, die ich nicht nennen will. Während er seinen warmen Atem in einer lichten Wolke ausströmte, der fröhlich und anmutig einige Fuß emporstieg, und dann in der Kaminecke als an seinem Privathimmel hängen blieb, trällerte der Kessel sein Lied mit solchem Elan und einer Begeisterung, daß sein metallischer Körper auf dem Feuer summte und vor Freude schaukelte; und selbst der Deckel, der vorhin so widerspenstige Deckel – so viel vermag ein gutes Beispiel! – führte eine Art von Polka auf und klapperte wie ein taubstummes junges Zimbelbecken, das nie etwas von den Gewohnheiten seines Zwillingsbruders gehört hat.
Daß dieser Gesang des Kessels ein Einladungs- und Willkommensgruß für jedermann da draußen war, für jemand, der sich in diesem Augenblick dem kleinen behaglichen Hause und dem flackernden Feuer näherte, darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Mrs. Peerybingle wußte das freilich sehr gut, während sie nachdenklich vor dem Herde saß.
Die Nacht ist finster, sang der Kessel, und dürre Blätter liegen am Wege; und oben ist alles Nebel und Dunkelheit, unten alles Schmutz und Schlamm; nur einen hellen Punkt gibt es in der traurigen düstern Luft, doch ich weiß nicht einmal, ob es einer ist, denn er scheint nur ein dunkelroter, zorniger Schimmer an der Stelle zu sein, wo Sonne und Wind gemeinsam den Wolken ein Brandmal aufdrücken, um sie wegen eines solchen Wetters zu strafen; und wohin man sieht, ist die Landschaft nur ein einziger trübseliger schwarzer Streifen; und Reif bedeckt den Wegweiser und Glatteis die Pfade; und das Eis ist kein Wasser und das Wasser kann nicht fließen und kein Wesen kann sagen, daß etwas sei, wie es sein sollte; aber er kommt, kommt, kommt! ...
Und hier, wenn ihr erlaubt, stimmte das Heimchen ein mit einem Zirp–zirp–zirp von einer Großartigkeit wie ein Chor, – mit einer Stimme, die in einem so fabelhaften Mißverhältnis stand zu seiner Größe im Vergleich mit der des Kessels – (was sag' ich Größe! man konnte es ja nicht einmal sehen!) – daß, wenn es geplatzt wäre wie ein zu stark geladenes Gewehr, es als ein Opfer seines Fleißes auf der Stelle geblieben wäre und seinen kleinen Körper in tausend Splitter zerzirpt hätte – es würde euch das nur als eine natürliche und unvermeidliche Folge erschienen sein, auf die es extra losgearbeitet hatte. –
Bei dem Kessel war es aus mit seinem Solo. Allerdings fuhr er mit ungeschwächter Anstrengung fort; aber das Heimchen spielte jetzt die erste Violine und behielt sie. Gott, wie das zirpte! Seine schrille, harte, durchdringende Stimme tönte durch das ganze Haus und schien in der Dunkelheit draußen zu scheinen wie ein Stern. Es lag ein unbeschreibliches Trillern und Tremulieren in seinen höchsten Noten, das auf den Gedanken brachte, es sei ihm, hingerissen von dem Feuer seiner Begeisterung, nicht mehr möglich, sich aufrecht zu erhalten und müsse nun immer hüpfen und springen. Doch stimmten sie ganz ausgezeichnet zusammen, das Heimchen und der Kessel. Der Refrain des Liedes war immer derselbe, und lauter, lauter, immer lauter sangen sie in ihrem Wetteifer.
Die hübsche kleine Zuhörerin – denn hübsch war sie und jung, obgleich ein wenig rundlich, was mir persönlich aber durchaus nicht unsympathisch ist – die hübsche kleine Zuhörerin zündete ein Licht an, warf einen Blick nach dem Heumäher oben auf der Uhr, der schon eine recht schöne Mittelernte von Minuten geerntet hatte, und blickte dann zum Fenster hinaus, wo sie jedoch dank der Finsternis nichts sah als ihr eigenes Gesicht, das sich in den Scheiben spiegelte. Allerdings ist meine Ansicht – und ich glaube, auch die eure –: sie hätte lange hinausblicken können, ehe sie nur etwas halb so Anmutiges gesehen hätte.
Als sie auf ihren alten Sitz am Herde zurückkehrte, waren das Heimchen und der Kessel noch immer am Musizieren in einer Art wütenden Wettstreites – offenbar war die schwache Seite des Kessels die, daß er nicht wußte, wann er besiegt war.
Eine Aufregung, ganz wie bei einem Wettrennen. Zirp, zirp, zirp! Heimchen eine Weile voran Sum, sum, sum–m m! Kessel tapfer hinterdrein, gerade wie ein großer Brummkreisel. Zirp, zirp, zirp! Heimchen biegt um die Ecke. Sum, sum, sum–m–m! Kessel folgt natürlich: kein Gedanke, sich für besiegt zu halten. Zirp, zirp, zirp! Heimchen lustiger als je. Sum, sum, sum–m–m! Kessel bedächtig, aber beharrlich! Zirp, zirp, zirp! Heimchen legte sich ins Geschirr, um ihm den Garaus zu machen. Sum, sum, sum–m–m! Kessel gibt nicht nach – bis sie schließlich im Holterpolter des Wettrennens sich so miteinander vermischen, daß, um einigermaßen sicher zu entscheiden, ob der Kessel zirpte und das Heimchen summte, oder ob das Heimchen zirpte und der Kessel summte, oder ob sie beide zirpten und beide summten, ein hellerer Kopf als der eure und der meine dazu nötig gewesen wäre. – Darüber kann jedoch kein Zweifel bestehen: daß der Kessel und das Heimchen genau in demselben Augenblick und vermöge einer ihnen allein bekannten Harmonie ihren Herdgesang auf den Flügeln eines Lichtstrahls, der durch das Fenster drang, die ganze Straße hinunter sandten. Und dieser Strahl, der auf einen gewissen Jemand fiel, der sich in der Dunkelheit dem Hause näherte, teilte ihm sofort die ganze Sache mit und rief: »Willkommen zu Hause, alter Knabe! Willkommen, lieber Freund!«
Gerade als dies Ziel erreicht war, kochte der Kessel, vollständig besiegt, über und wurde schnell vom Feuer genommen. Dann lief Mrs. Peerybingle nach der Tür, und bei dem Gerassel von Wagenrädern, dem Stampfen eines Pferdes, dem Rufen eines Mannes, dem Drauflosstürmen eines aufgeschreckten Hundes und dem ebenso überraschenden wie geheimnisvollen Erscheinen eines Wickelkindes wußte sie bald gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. –
Woher das Wickelkind kam oder wo Mrs. Peerybingle es nur so im Handumdrehen herbekommen, das kann ich beim besten Willen nicht erzählen. Jedenfalls aber lag ein lebendiges Wickelkind in Mrs. Peerybingles Armen, und sie schien sogar glücklich und stolz darauf zu sein, als sie von der robusten Gestalt eines Mannes sanft ans Feuer gezogen wurde, der viel größer und viel älter als sie war; er mußte sich tief herabbücken, um sie zu küssen. Aber es war auch der Mühe wert. Sogar für einen Mann von sechs Fuß sechs Zoll lohnte es sich, ja, wäre er noch obendrein mit Kreuzschmerzen behaftet gewesen!
»Herr, mein Gott!« sagte Mrs. Peerybingle. »Wie siehst du aus, bei dem Wetter!«
Man konnte in der Tat nicht leugnen, daß er recht schlimm aussah, – der dicke Nebel hing in großen Tropfen an seinen Augenwimpern wie gefrorener Tau, und das Feuer und die Nässe ließen richtige Regenbogen in seinem Backenbart spielen.
»Ja, siehst du, Dot«, sagte John langsam, während er einen Schal von seinem Halse wickelte und sich die Hände rieb: »ja, ... Sommerwetter haben wir gerade nicht. Da ist's also nicht zu verwundern.«
»Ich bitte dich, John, nenne mich nicht Dot. Wirklich, der Name ist mir unleidlich«, sagte Mrs. Peerybingle und verzog das Mäulchen in einer Weise, die klar zeigte, daß sie ihn im Gegenteil sehr gern leiden mochte. »Na, und was bist du denn sonst?« erwiderte John, indem er lächelnd auf sie herabblickte und ihre Taille so sanft drückte, wie seine große Hand und sein starker Arm zuließen. »Was bist du denn sonst als ein Pünktchen und« – hier blickte er das Kind an – »ein Pünktchen und ein Klexchen ... Aber nein, ich sag's nicht, es würde mir doch nicht gelingen; aber ich war nahe daran, einen Witz zu machen; ich glaube, ich war noch nie so nahe daran.«
Nach seiner Behauptung war er überhaupt oft nahe daran, etwas sehr Gescheites zu sagen, dieser unbeholfene, langsame, ehrliche John; dieser John mit seinem schwerfälligen Kopf und so hellem Herzen, mit so rauher Schale und so mildem Kern; außen so schläfrig und innen so lebhaft, so einfältig und doch so gut! O Mutter Natur, gib deinen Kindern die echte Poesie des Herzens, wie sie die Brust dieses armen Fuhrmanns in sich barg – denn nebenbei gesagt, er war nur ein Fuhrmann – und dann können sie gern in Prosa reden und ein prosaisches Leben führen, wir werden dich doch segnen für solche Gesellschaft!
Es war ein Vergnügen, Dot zu sehen, so klein und so rundlich, mit ihrem Wickelkinde auf den Armen, ein richtiges Püppchen von einem Wickelkinde – wie sie mit koketter Nachdenklichkeit ins Feuer sah und ihr feines Köpfchen grade genug auf die Seite neigte und es in seltsamer, halb natürlicher, halb gezierter, aber ganz anmutiger Weise, gleichsam wie ein kleines Nest an die breite rauhe Gestalt des Fuhrmanns schmiegte. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie er in seiner zärtlichen Unbeholfenheit sich bemühte, seine rauhe Stütze ihren leichten Bedürfnissen anzupassen und seine kräftige Männlichkeit zu einem nicht unangemessenen Stabe für ihre blühende Jugend zu machen. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie Tilly Tolpatsch, die im Hintergrunde auf das Kind wartete, trotz ihrer angehenden fünfzehn Jahre sich die Gruppe ganz genau ansah und, Mund und Augen weit offen und den Kopf vorgestreckt, dastand – in einer Weise, als ob sie begierig Luft einatme. Nicht weniger erfreulich war es zu sehen, wie John, der Fuhrmann, auf einige Worte, die Dot bezüglich vorerwähnten Kindes sagte, seine Hand in demselben Augenblick zurückzog, als er es berühren wollte, als hätte er Furcht, es zu zerdrücken, und sich damit begnügte, es mit vorgeneigtem Oberkörper aus der Ferne zu betrachten, und zwar mit einer Mischung von Stolz und Verlegenheit – wie wohl ein liebenswürdiger Bullenbeißer dreingeschaut hätte, wenn er eines schönen Tages herausgefunden hätte, daß er Vater eines jungen Kanarienvogels sei.
»Ist er nicht hübsch, John? Sieht er nicht reizend aus, wenn er schläft?«
»Ganz reizend«, sagte John. »Ja, ja, ganz reizend. Er schläft wohl überhaupt die meiste Zeit, nicht wahr?«
»Aber mein Gott, John! Bewahre, nein!«
»Oh!« sagte John nachdenklich. – »Ich dachte, er hätte seine Augen meistens geschlossen. Halloh!«
»Du lieber Gott, John, wie du einen erschreckst!«
»Es ist nicht gut, daß er die Augen so verdreht!« sagte der erschreckte Fuhrmann. »Nicht wahr? Sieh, wie er mit beiden zugleich blinzelt! Und sieh nur den kleinen Mund an! Wie er schnappt, – gerade wie ein Goldfisch!«
»Du verdienst garnicht, Vater zu sein, durchaus nicht«, sagte Dot mit der ganzen Würde einer erfahrenen Matrone. »Aber wie solltest du auch wissen, John, wieviel kleine Schmerzen so ein Kindchen leiden muß! Du weißt nicht einmal ihren Namen, du dummer Mann!«
Und nachdem sie das Kind auf den linken Arm genommen und ihm als eine Art Herzstärkung den Rücken geklopft hatte, zupfte sie lachend ihren Mann am Ohr.
»Nein«, sagte John, indem er seinen Überrock auszog. »Du hast Recht, Dot, ich verstehe mich nicht besonders auf dergleichen. Ich weiß nur, daß ich heut abend tüchtig mit dem Wind habe kämpfen müssen. Er kam von Nordost gerade in den Wagen herein, auf dem ganzen Heimweg.«
»Ach ja, mein armer, guter Mann!« rief Mrs. Peerybingle und wurde sofort außerordentlich beweglich. »Da, nimm den kostbaren Schatz, Tilly, während ich etwas Nützliches tue. Du lieber Gott, ich glaube, ich könnt' ihn schier totküssen! Kusch dich, gutes Tier. Kusch dich, Boxer! Erst sollst du deinen Tee haben, John, und dann will ich dir bei den Paketen helfen, wie eine fleißige Biene: ›Wie das kleine Bienchen – und so weiter: du weißt ja, John. Hast du je ›Wie das kleine Bienchen‹ gelernt, John, als du in die Schule gingst?«
»Nicht alle Verse«, antwortete John. »Ich war einmal sehr nahe daran, sie alle zu lernen. Aber ich hätte es doch nur verdorben.«
»Ha, ha, ha!« lachte Dot. Es war das lustigste Lachen von der Welt. »Was für ein guter, lieber, alter Dummkopf du doch bist, John!«
Ohne auf diese Behauptung irgend etwas einzuwenden, ging John hinaus, um nach dem Jungen mit der Laterne zu sehen, die wie ein Irrlicht vor Tür und Fenster hin und her hüpfte, ob er auch ordentlich für das Pferd sorge – und dieses Pferd war dicker und fetter, als ihr glauben würdet, wenn ich euch seinen Umfang angäbe, und so alt, daß sein Geburtstag sich in der grauen, dunklen Vorzeit verlor. Boxer, welcher wußte, daß die ganze Familie auf seine Aufmerksamkeit Anspruch hatte, und diese unparteiisch unter die einzelnen Mitglieder derselben verteilen wollte, stürmte überall beunruhigend ein und aus – bald bellte er rund um das Pferd herum, während dieses an der Stalltür gestriegelt wurde, bald stellte er sich, als wolle er sich wie toll auf seine Herrin stürzen, und machte dann plötzlich in ergötzlicher Weise halt, dann wieder der Tilly Tolpatsch, die auf einem Schemel am Feuer saß, einen Schrei entlockte, indem er ihr mit seiner feuchten Schnauze unvermutet im Gesicht herumfuchtelte; bald ein aufdringliches Interesse für das Wickelkind zeigte; bald rund um den Herd ging und sich niederlegte, als wolle er sich für die Nacht niederlassen; bald wieder aufstand und sein bißchen Schwanz in die Nacht hinaustrug, als habe er sich gerade eines Stelldicheins erinnert, und fort war er im raschen Trabe, um es nicht zu versäumen.
»Da, da ist der Tee, die Kanne steht auf dem Herdrand«, sagte Dot mit der ernsten Geschäftigkeit eines Kindes, das Hausfrau spielt. »Und da ist der kalte Schinken und da Butter und da Brot und all das andere! Hier ist ein Waschkorb für die kleinen Pakete, John, wenn du welche hast – aber wo bist du denn, John? Tu, was du tust, aber laß das liebe Kind nicht auf den Rost fallen, Tilly!«
Es muß hier bemerkt werden, daß Fräulein Tolpatsch trotz des Protestes, den sie gegen diese Möglichkeit einlegte, ein seltenes und ganz überraschendes Talent dafür besaß, das Wickelkind in allerlei Gefahren zu bringen, und mehr als einmal sein junges Leben mit einer nur ihr eigentümlichen Kaltblütigkeit aufs Spiel gesetzt hatte. Sie war von schmächtiger, hoher Gestalt, diese junge Dame, so, daß ihre Kleider in beständiger Gefahr zu sein schienen, von ihren spitzen Schultern, an denen sie nur lose hingen, herabzugleiten. An ihrem Kostüm war das Merkwürdige, daß es an allen möglichen Stellen gewisse Stückchen Flanell sehen ließ, und in der Gegend des Rückens ein Korsett von verschossenem Grün sichtbar wurde. Da Fräulein Tolpatsch stets in einem Zustande war, wo sie alles Denkbare begaffte und bewunderte und zudem in fortwährende Betrachtung der Vollkommenheiten ihrer Herrin und des Wickelkindes versunken war, so kann man wohl sagen, daß die kleinen Irrtümer ihres Verstandes ebensosehr ihrem Kopfe wie ihrem Herzen Ehre machten; und obgleich sie dem Köpfchen des Wickelkindes weniger Ehre machten, das sie gelegentlich in Berührung brachten mit Türkanten, Tischecken, Treppengeländern, Bettpfosten und andern fremdartigen Gegenständen, so waren sie doch nur das ehrliche Resultat von Tillys beständigem Erstaunen darüber, daß man sie so freundlich behandelte und sie in einem so behaglichen Hause untergebracht war. Denn die Tolpatsch, Vater und Mutter, waren der Fama beide gleich unbekannt. Tilly war durch öffentliche Barmherzigkeit aufgezogen worden, da sie ein Findling war, und dieses Wort, obgleich es grad so viel Buchstaben besitzt wie Liebling, hat doch einen ganz anderen Sinn und bezeichnet etwas durchaus anderes. –
Dot liebkost ihren Mann.
Es würde euch fast ebensosehr ergötzt haben wie John, wenn ihr selbst die kleine Mrs. Peerybingle mit ihrem Manne hättet zurückkommen sehen, wie sie an dem Waschkorbe zog und die tapfersten Anstrengungen machte, nichts zu tun – denn er trug ihn ja. Und soviel ich weiß, amüsierte es auch das Heimchen, wenigstens fing es jetzt mit einer gewissen Heftigkeit wieder zu zirpen an.
»Hallo!« sagte John in seiner langsamen Weise, »'s ist heut abend lustiger als je, scheint mir.«
»Und es bringt uns sicherlich Glück, John! Das hat's immer getan. Ein Heimchen am Herd zu haben, ist das größte Glück von der Welt!«
John sah sie an, als wäre er nahe daran, auf den Gedanken zu kommen, sie sei sein Oberheimchen, und war vollständig mit ihr einverstanden. Aber es war vermutlich wieder eine jener Gelegenheiten, wo er nahe daran war, einen Witz zu machen, denn er sagte nichts.
»Das erstemal, daß ich seinen munteren lieben Gesang hörte, das war an jenem Abend, John, da du mich in dein Haus – in mein neues Heim brachtest, als seine kleine Herrin. Es ist nahezu ein Jahr her. Du erinnerst dich doch, John!«
O ja, John erinnerte sich! »Das sollt' ich meinen!«
»Sein Zirpen war mir ein so lieblicher Willkommensgruß! Es schien so voller Verheißung und Ermutigung! Es war, als wolle es mir sagen, du würdest gut und freundlich gegen mich sein und nicht erwarten – das fürchtete ich damals, John – einen alten Kopf auf den Schultern deiner dummen kleinen Frau zu finden.«
John klopfte nachdenklich eine dieser Schultern und streichelte dann ihren Kopf, als wollte er sagen: »Nein, nein, ich hatte so etwas nicht erwartet; ich bin mit diesem Kopf und diesen Schultern ganz zufrieden.« Und er hatte durchaus recht: sie waren allerliebst.
»Es sagte die Wahrheit, John, als es zu sprechen schien; denn du bist mir immer der beste, der nachsichtigste, der liebevollste Gatte gewesen. Du hast mir dieses Haus zu einem glücklichen Heim gemacht, John, und ich liebe das Heimchen darum.«
»Na, dann ich auch«, sagte der Fuhrmann. »Dann ich auch, Dot.«
»Ich liebe es, weil ich es so oft gehört habe und wegen der vielen guten Gedanken, die seine unschuldige Musik in mir angeregt hat. Wenn ich mich abends in der Dämmerung bisweilen ein wenig verlassen und niedergeschlagen fühlte, John, – nämlich ehe das Kindchen kam, um mir Gesellschaft zu leisten und es fröhlich im Hause zu machen – wenn ich bedachte, wie einsam du sein würdest, wenn ich stürbe, wie trostlos ich sein würde, wenn ich es wissen könnte, daß du mich verloren hättest, Liebster: da schien sein Zirp – zirp – zirp auf dem Herde mir von einem andern Stimmchen zu erzählen, von einem so süßen, meinem Herzen so teuren Stimmchen, daß dessen zukünftiger Klang meinen Kummer bald wie einen Traum verschwinden ließ. Und wenn ich sonst fürchtete – und ich fürchtete es anfangs wirklich, John, denn du weißt ja, ich war noch sehr jung! – wir könnten als ein schlechtes Ehepaar zusammenleben, da ich fast nur ein Kind war und du mehr aussahst wie mein Vormund als wie mein Mann – und daß du, welche Mühe du dir gäbest, doch nicht imstande wärest, mich so lieben zu lernen, wie du hofftest und wünschtest; dann heiterte sein Zirp-zirp-zirp mich wieder auf und gab mir frischen Mut und neues Vertrauen. An all diese Dinge dacht' ich heute abend, Lieber, als ich dasaß und dich erwartete; und das ist's, warum ich das Heimchen so lieb habe!«
»Dann ich auch«, wiederholte John. »Aber Dot ... ich erst hoffen und wünschen, daß ich dich lieben lernte! Wie du nur reden magst! Das hatte ich längst gelernt, eh' ich dich hierher brachte, damit du des Heimchens kleine Herrin seist, Dot!«
Sie legte ihre Hand einen Augenblick auf seinen Arm und schaute mit erregtem Gesicht zu ihm auf, als hätte sie ihm etwas sagen wollen. Am nächsten Augenblick jedoch lag sie vor dem Korbe auf den Knien, plauderte mit ihrer angenehmen Stimme fröhlich und eifrig, während sie sich mit den Paketen beschäftigte.
»Es sind heute abend nicht viele, John; aber ich habe soeben hinten auf dem Wagen einige Ballen gesehen, und wenn sie auch mehr Arbeit machen, so bringen sie doch auch mehr ein; wir haben also nichts, worüber wir uns zu beklagen hätten, nicht wahr? Und zudem hast du gewiß auf dem Heimweg schon einiges abgeliefert, nicht?«
»Jawohl«, sagte John. »Eine recht hübsche Anzahl.«
»Aber was ist dies für eine runde Schachtel? Du meine Güte, John, das ist ja ein Hochzeitskuchen!«
»Sowas kann nur eine Frau erraten!« sagte John voll Bewunderung. »Ja, ein Mann wäre gar nicht auf solche Gedanken gekommen! Man packe nur einen Hochzeitskuchen in eine Teekiste, in eine auseinandergenommene Bettstelle, in ein Lachsfäßchen oder in irgendein anderes unwahrscheinliches Ding, ich wette, eine Frau findet ihn sofort heraus ... Ja, das ist richtig, ich habe ihn von dem Konditor mitgebracht.« »Und er wiegt, ich weiß nicht wie viele ... ganze hundert Pfund!« rief Dot, indem sie große Anstrengungen machte, ihn aufzuheben. »Für wen ist er, John? Wo soll er hin?«
»Lies die Adresse auf der anderen Seite«, erwiderte John.
»Wie, John! Du meine Güte, John!«
»Ja, wer hätte das gedacht!« versetzte John.
»Du meinst doch nicht etwa«, fuhr Dot fort, indem sie sich auf den Boden setzte und den Kopf schüttelte, »daß er für Gruff und Tackleton, den Spielwarenhändler, ist!«
John nickte.
Mrs. Peerybingle nickte ebenfalls, wenigstens fünfzigmal. Nicht zum Zeichen der Zustimmung, sondern in stummer, mitleidiger Überraschung, und inzwischen zog sie mit all ihrer geringen Kraft ihre Lippen spitz zusammen – sie waren gar nicht für das Spitzzusammenziehen geschaffen, das ist mir klar – und blickte in Gedanken verloren den guten Fuhrmann gleichsam durch und durch an. Inzwischen fragte Fräulein Tolpatsch, die ein ungeheures Talent dafür hatte, aus dem Fluß der Unterhaltung einige Brocken zum Vergnügen des Wickelkindes herauszufischen, wobei sie sie jedoch alles Sinnes beraubte und fast sämtliche Wörter ins Diminutiv verwandelte, um sie diesem jungen Geschöpfchen anzupassen: »Wirklich für Gruffchen und Tapletonchen, das Spielwarenhändlerchen? Wollte bei dem Pastetenbäckerchen Hochzeitküchelchen holen? Und Mütterchen wirklich Schächtelchen sofortchen erkanntchen, als Väterchen sie heimchen gebracht!« und so weiter.
»Und die Heirat soll also wirklich zustande kommen!« sagte Dot. »Gott, wir sind zusammen in die Schule gegangen, John.«
John dachte ohne Zweifel an sie, oder war vielleicht nahe daran zu denken, wie sie in jener Schulzeit ausgesehen habe. Er sah sie mit nachdenklichem Wohlgefallen an, ohne jedoch zu antworten.
»Und er ist so alt – ! Ihr so ungleich – ! ... Sag doch mal, John, wie viel Jahre ist Gruff und Tackleton wohl älter als du?«
»Wieviel Tassen Tee soll ich heute abend in einer Sitzung wohl mehr trinken als Gruff und Tackleton je in vier Sitzungen getrunken hat?« versetzte John gutgelaunt, indem er einen Stuhl an den runden Tisch rückte und den kalten Schinken in Angriff nahm. »Was das Essen anbelangt, Dot, so esse ich nur wenig, aber dieses Wenige lass' ich mir schmecken.«
Selbst dieser sein gewöhnlicher Trinkspruch, eine seiner unschuldigen Selbsttäuschungen, – denn sein Appetit war stets hartnäckig und strafte ihn augensichtlich Lügen – rief kein Lächeln auf das Gesicht seines kleinen Weibchens, das zwischen den Paketen stand und die Kuchenschachteln langsam mit dem Fuße von sich stieß, ohne ihrem zierlichen Schuh, dem sie sonst so viel Beachtung schenkte, auch nur einen Blick zu gönnen, obgleich ihre Augen ebenfalls niedergeschlagen waren. In Gedanken verloren stand sie da, dachte ebensowenig an den Tee wie an John – obwohl er sie anrief und mit dem Messer auf den Tisch klopfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen – bis er endlich aufstand und ihren Arm berührte. Da schaute sie ihn einen Augenblick an und eilte, über ihre Nachlässigkeit lachend, auf ihren Platz hinter dem Teebrett. Aber sie lachte nicht wie früher. Die Art und Weise sowohl wie der Klang hatten sich ganz verändert.
Auch das Heimchen war verstummt. Das Zimmer war irgendwie nicht mehr so gemütlich wie früher. Gar nicht mehr.
»Dies sind also sämtliche Pakete, John?« sagte sie und unterbrach ein langes Schweigen, das der ehrliche Fuhrmann der praktischen Illustration des einen Teils seines beliebten Trinkspruches gewidmet hatte – indem er in der Tat bewies, daß er mit Appetit aß, wenn auch nicht zugegeben werden konnte, daß er nur wenig aß. »Dies sind also sämtliche Pakete, John?«
»Das ist alles«, versetzte John. »Aber – nein – ich –« setzte er hinzu, indem er Messer und Gabel niederlegte und tief ausatmete. »In der Tat, ich habe den alten Herrn rein vergessen!«
»Den alten Herrn?«
»Im Wagen«, sagte John. »Er war im Stroh eingeschlafen, als ich ihn zum letztenmal sah. Ich bin zweimal ganz nahe daran gewesen, mich seiner zu erinnern, seit ich hier bin; aber er ist mir wieder aus dem Kopfe gekommen. Holla! Heda, Ihr dort! Aufgestanden, guter Freund!«
John sagte diese letzten Worte vor der Tür, wohin er mit dem Licht in der Hand geeilt war.
Fräulein Tolpatsch, überzeugt, daß hinter dem Namen »alter Herr« irgendein Geheimnis stecke, und die in ihrer verworrenen Phantasie gewisse Vorstellungen religiöser Natur mit diesem Ausdruck verband (»Alter Herr« [Old gentleman] Spitzname des Teufels), geriet so in Aufregung, daß sie hurtig von ihrem Schemel am Feuer aufstand, um Schutz hinter der Schürze ihrer Herrin zu suchen. Aber in dem Augenblick, als sie an der Tür vorübereilte, kam sie in Berührung mit einem unbekannten Greise und machte sofort instinktiv einen Angriff auf ihn mit der einzigen Waffe, die ihr gerade zu Gebote stand. Da diese Waffe zufällig das Wickelkind war, so entstand große Aufregung und Bestürzung, die Boxers Scharfsinn nur noch vermehrte; denn dieser brave Hund, achtsamer als sein Herr, hatte allem Anschein nach den alten Herrn in seinem Schlaf bewacht, damit er sich nicht mit ein paar jungen Pappeln davonmachte, die hinten auf den Wagen gebunden waren, und auch jetzt noch blieb er ihm hart auf den Fersen, zauste beständig an seinen Gamaschen und machte verzweifelte Angriffe auf seine Knöpfe.
»Na, Herr, Ihr versteht das Schlafen, das kann man nicht anders sagen«, sprach John, als die Ruhe wieder hergestellt war.
Während dieser Zeit hatte der alte Herr barhaupt und regungslos mitten im Zimmer gestanden.
»So ausgezeichnet versteht Ihr's, daß ich Euch fast fragen möchte, wo denn die andern sechs sind. Aber das gäbe ja beinahe einen Witz und ich würde ihn gewiß nur verderben. Übrigens nahe daran«, murmelte der Fuhrmann lachend: »ganz nahe daran!«
Der Fremde, der langes weißes Haar, schöne und für einen Greis merkwürdig stolze und ausdrucksvolle Züge und glänzende durchdringende dunkle Augen hatte, sah sich freundlich lachend um und grüßte des Fuhrmanns Frau mit würdevollem Kopfnicken.
Sein Anzug war zwar einfach, aber sehr komisch – er war schon längst aus der Mode gekommen. Er war ganz von brauner Farbe. In der Hand hielt er einen großen ebenfalls braunen Knüttel oder eine Art Spazierstock. Da geschah etwas Merkwürdiges: als er damit auf den Boden stieß, fiel er auseinander und wurde ein Stuhl, auf den er sich mit der größten Gelassenheit setzte.
»Sieh nur!« sagte der Fuhrmann, indem er sich zu seiner Frau umwandte. »Gerade so fand ich ihn am Wege sitzend. Aufrecht wie ein Meilenzeiger. Und beinahe ebenso taub!«
»Er saß im Freien, John?«
»Ganz im Freien«, erwiderte der Fuhrmann; »just als die Nacht hereinbrach. ›Fahrgeld‹, sagte er und gab mir einundeinenhalben Schilling. Dann stieg er ein. Und jetzt ist er da.«
»Er wird doch wohl bald gehen wollen, John?«
Aber nein. Er wollte nur reden.
»Mit eurer Erlaubnis«, sagte der Fremde sanft, »ich soll abgeholt werden. Tut, als wenn ich gar nicht da wäre.«
Damit nahm er aus einer seiner weiten Taschen eine Brille und aus einer andern ein Buch und begann behäbig zu lesen, wobei er sich um Boxer nicht mehr kümmerte, als wäre er ein Lämmchen gewesen.
Der Fuhrmann und seine Frau wechselten einen bestürzten Blick. Der Fremde erhob sein Haupt, blickte von der letzteren auf den ersteren, und sagte:
»Eure Tochter, guter Freund?«
»Frau«, erwiderte John.
»Nichte?« fragte der Fremde.
»Frau!« schrie John.
»Wirklich?« versetzte der Fremde. »In der Tat, sehr jung!«
Dann schlug er gemütlich einige Blätter um und setzte seine Lektüre fort. Aber kaum hatte er zwei Zeilen gelesen, da unterbrach er sich wieder und fragte:
»Und das Kind – Euer?«
John machte mit dem Kopfe ein gar nicht mißzuverstehendes Zeichen der Bejahung – mit Hilfe eines Sprachrohrs hätte er nicht verständlicher antworten können.
»Mädchen?«
»Kna-a-be!« schrie John.
»Auch noch sehr jung, he?«
Sofort meldete sich Mrs. Peerybingle zum Wort.
»Zwei Monat und drei Ta-a-ge! Vor sechs Wochen wurde er gerade gei-i-mpft! Pocken sehr schön bekommen! Doktor sagte, ein merkwürdig schönes Ki-i-nd! So kräftig wie sonst nur Kinder von fünf Mo-o-nden! Seine Klugheit ganz wu-un-derbar! Wird Ihnen unglaublich scheinen, aber kann schon auf seinen Beinchen ste-e-hen!« Hier hielt die atemlose kleine Mutter, die diese kurzen Sätze dem Greise ins Ohr geschrien, bis ihr hübsches Gesicht feuerrot geworden, das Kindchen vor ihn hin, als einen unumstößlichen triumphierenden Beweis ihrer Behauptung, während Tilly mit dem melodischen Rufe »Ätsch, ätsch«, die geheimnisvollen Worte wie das Niesen eines kräftigen Mannes klangen – wie ein junges Kalb um das unschuldige Kindchen herumtanzte. –
»Horch! Da wird er gewiß abgeholt«, sagte John. »Da ist jemand an der Tür. Mach' auf, Tilly!«
Eh' sie jedoch die Tür erreicht hatte, wurde sie von außen geöffnet; denn es war eine jener altmodischen Türen mit Klinke, die jeder öffnen konnte, der Lust hatte – und gar mancher hatte Lust dazu; denn alle möglichen Nachbarn wechselten gern ein paar gemütliche Worte mit dem Fuhrmann, obgleich er gerade nicht sehr redselig war. Es trat ein kleiner dummer Mann mit nachdenklichem braunen welken Gesicht herein, der sich aus Packleinwand, in die wohl mal eine alte Kiste eingenäht worden war, selbst einen Überrock gemacht zu haben schien; denn als er sich umwandte, um die Tür zu schließen, damit das Wetter nicht hereinschlage, zeigte er auf der Rückseite seines Rocks in großen schwarzen Buchstaben die Aufschrift »G. & T.«, sowie in energischen Schriftzügen das Wort »Glas!«
»Guten Abend, John«, sagte der kleine Mann. »Guten Abend, junge Frau. Guten Abend, Tilly. Guten Abend, Unbekannter. Was macht das Kindchen, junge Frau? Und Boxer hoffentlich gesund?«
»Alles bei bestem Wohlsein, Kaleb.« antwortete Dot. »Um Euch davon zu überzeugen, braucht Ihr nur unseren lieben Jungen anzusehen.«
»Und Euch, dann weiß ich's noch mal«, versetzte Kaleb.
Er sah sie jedoch nicht an; denn er hatte ein unruhiges, nachdenkliches Auge, das immer in einer andern Zeit und einem andern Raume schien, wie denn seine Stimme auch niemals bei der Sache zu sein schien.
»Oder John, dann weiß ich's nochmal«, sagte Kaleb.
»Oder Tilly, soweit das möglich; oder auch Boxer.«
»Gerade viel zu tun, Kaleb?« fragte der Fuhrmann.
»O ja, ziemlich viel, John«, erwiderte dieser mit der zerstreuten Miene eines Mannes, der nicht weniger als den Stein der Weisen sucht. »Ja, ziemlich viel. Es ist jetzt starke Nachfrage nach Noahs Archen. Ich möchte die Noahsche Familie gern vollkommener machen, aber ich weiß nicht, wie es bei dem Preise möglich ist. Es würde mir Freude machen, wenn die Sems von den Hams, und die Männer von den Weibern deutlicher unterschieden werden könnten. Die Fliegen haben auch nicht das richtige Maß – wißt Ihr, wenn man sie mit den Elefanten vergleicht! Was ich sagen wollte, John, habt Ihr etwas unter den Paketen für mich?«
Der Fuhrmann steckte seine Hand in eine Tasche des Rockes, den er ausgezogen hatte, und brachte, sorgfältig in Moos und Papier gewickelt, einen kleinen Blumentopf zum Vorschein.
»Da ist's!« sagte er, ihn mit der größten Sorgfalt auspackend. »Es ist nicht ein einziges Blatt beschädigt. Ganz voller Knospen.«
Kalebs trübes Auge erhellte sich, als er ihn entgegennahm und dem Fuhrmann dankte.
»Teuer, Kaleb«, sagte der Fuhrmann; »sehr teuer um diese Jahreszeit.«
»Macht nichts, mir würde er immer billig sein, was er auch kosten mag«, erwiderte der kleine Mann. »Sonst noch was, John?«
»Eine kleine Schachtel«, erwiderte der Fuhrmann. »Da ist sie.«
»An Kaleb Plummer«, sagte der kleine Mann, die Adresse buchstabierend. »Mit Vorschuß, John? Ich glaube nicht, daß das für mich ist.«
»Mit Vorsicht«, entgegnete der Fuhrmann, ihm über die Schulter blickend. »Wie lest Ihr denn Vorschuß heraus?«
»Ach ja, richtig!« sagte Kaleb. »Ja, ja, richtig, mit Vorsicht! Jawohl, es ist für mich. Es hätte übrigens auch ›mit Vorschuß‹ heißen können, John, wenn mein lieber Junge, der nach dem goldenen Südamerika ging, noch lebte. Ihr liebtet ihn wie einen Sohn, nicht wahr? Ihr braucht nicht ja zu sagen. Ich weiß es ohnehin. An Kaleb Plummer, ›mit Vorsicht‹. Ja ja, ist ganz richtig. 's ist eine Schachtel mit Puppenaugen für die Arbeit meiner Tochter. Ich wollte, John, es wären Augen für sie selbst in der Schachtel.«
»Ich auch!« rief der Fuhrmann. »Oder doch, daß es so sein könnte!«
»Danke für den Wunsch«, sagte der kleine Mann. »Was Ihr sagt, kommt von Herzen. Wenn man so denkt, daß sie nie die Puppen sehen kann .... und daß sie sie den ganzen lieben langen Tag so unverwandt anblicken! Das ist das Traurige dabei. Was bin ich Euch schuldig, John?«
»Das werdet Ihr gleich merken«, sagte John, »wenn Ihr sowas noch mal fragt. Dot, sehr nahe daran, he?«
»Ja, das sieht Euch ganz ähnlich«, bemerkte der kleine Mann. »Das ist so Eure freundliche Weise. Ich glaube, das wäre nun alles.«
»Ich glaub's nicht«, sagte der Fuhrmann. »Ratet noch mal.«
»Etwas für unsern Prinzipal, he?« sagte Kaleb nach kurzem Besinnen. »Jawohl, das ist's, warum ich herkam; aber mein Kopf steckt so voll Archen Noahs und dergleichen ... Er ist doch nicht hier gewesen, nicht wahr?«
»Der!« versetzte der Fuhrmann. »Der hat den Kopf voll mit Heiraten.«
»Er muß jedoch herkommen«, sagte Kaleb; »denn er sagte mir, ich sollte auf dem Heimwege an der linken Seite gehen, und es gilt zehn gegen eins, daß er mich einholt. Übrigens, es ist wohl am besten, ich gehe ... Möchtet Ihr wohl die Freundlichkeit haben, junge Frau, mich einen Augenblick Boxer in den Schwanz kneipen zu lassen – ja?«
»Aber Kaleb! Was fällt Euch ein!«
»O, es hat nichts zu bedeuten, junge Frau«, sagte der kleine Mann. »Er könnte es mir ja auch übelnehmen. Seht, ich habe da gerade einen ziemlich großen Auftrag auf bellende Hunde bekommen, und da möcht' ich es so natürlich herstellen, wie es sich für fünf Groschen machen läßt. Nichts für ungut, junge Frau.«
Da traf es sich glücklicherweise, daß Boxer, ohne, wie vorgeschlagen, gekniffen zu werden, mit großem Eifer zu bellen begann. Aber da dieses Bellen die Nähe eines neuen Besuches anzeigte, so lud sich Kaleb, indem er seine Studien nach der Natur auf günstigere Gelegenheit verschob, die runde Schachtel auf die Schulter und nahm hastig Abschied. Er hätte sich die Mühe sparen können, denn auf der Schwelle begegnete er bereits dem neuen Besuch.
»So, Ihr seid noch hier? Hm! Wartet ein Weilchen, ich werde Euch nach Hause bringen. John Peerybingle, Euer Diener; und vor allem der gehorsamste Diener Eures hübschen Weibchens. Alle Tage schöner! Auch besser, wenn möglich! und jünger«, murmelte der Redner leise; »das ist gerade der Teufel!«
»Ich würde mich wundern, daß Ihr so mit Komplimenten um Euch werft, Mr. Tackleton«, sagte Dot gerade nicht sehr gnädig, »wenn Eure neue Lage uns die Sache nicht erklärte.«
»Ihr wißt es also schon?«
»Ich hab's endlich fertiggebracht, es zu glauben«, sagte Dot.
»Vermutlich nach einem sehr heißen Kampf?«
»Nach einem sehr heißen.«
Tackleton, der Spielwarenhändler, ziemlich allgemein bekannt als Gruff und Tackleton – denn so hieß die Firma, obgleich Gruff schon längst ausgetreten war, seinem ehemaligen Kompagnon nur seinen Namen und seinem Geschäft, wie manche behaupteten, die Eigenschaft, die das Wörterbuch mit diesem Worte (Gruff: mürrisch, sauertöpfisch) bezeichnet, lassend – Tackleton, der Spielwarenhändler, war ein Mensch, dessen Beruf von seinen Eltern und Vormündern völlig mißverstanden worden war. Hätten sie einen Pfandleiher, einen Exekutor oder Makler aus ihm gemacht, so hätte er, wenn er seine widerwärtigen Hörner in der Jugend abgestoßen, und nachdem er die Bosheit seines Naturells in menschenfeindlichen Handlungen erschöpft, schließlich noch ein liebenswürdiger Mensch werden können, wäre es auch nur gewesen, weil es etwas ganz Neues für ihn bedeutet hätte. Aber das Schicksal hatte ihn dazu bestimmt, sich die Galle zu erhitzen in der friedlichen Beschäftigung eines Spielwarenhändlers, und so wurde er ein wahrer Hausteufel, der sein ganzes Leben lang von Kindern lebte, ohne darum aufzuhören, ihr unversöhnlicher Feind zu sein. Alle Spielsachen waren ihm ein Greuel, und er würde um alles in der Welt keine gekauft haben. Er fand in seiner Bosheit ein eigentümliches Vergnügen daran, den pappdeckelnen Pächtern, die ihre Schweine zu Markt trieben, den öffentlichen Ausrufern, die denjenigen, die verlorengegangene Advokatengewissen wiederfänden, eine angemessene Belohnung versprachen, den zappeligen alten Damen, die Strümpfe stopften oder Pasteten zerschnitten, und andern Figuren seines Lagers wilde, ingrimmige Gesichter zu geben. Es war ein wahrer Hochgenuß für ihn, schrecklich häßliche Fratzen zu erfinden, sowie häßliche, mit Haaren bedeckte, rotäugige Schachtelmännchen, vampirartige Papierdrachen, dämonische Springer, die nicht liegen bleiben wollten, sondern immer wieder jedem ins Gesicht sprangen und die Kinder bis zum Tode erschreckten. Sie waren sein einziger Trost und sozusagen der Kanal, der seine überströmende Bosheit abführte. Er war groß in solchen Erfindungen. Die Idee irgendeines Kinderälpchens war für ihn die Quelle eines unbeschreiblichen Entzückens. Er hatte sogar Geld dafür ausgegeben – und dies war das einzige Spielzeug, das er zärtlich liebte –, um Schiebegläser für Zauberlaternen zu bekommen, worauf die Mächte der Hölle als eine Art übernatürlicher Seekrebse mit menschlichen Gesichtern abgemalt waren. Auch hatte er ein kleines Kapital fest dafür angelegt, um Riesen von übernatürlicher Größe herzustellen, und obgleich nicht selbst Maler, verstand er doch, zur Belehrung der Fabrikanten, bei denen er seine Waren bestellte, mit einem Stück Kreide gewisse versteckte Züge anzudeuten, dazu angetan, die Gesichter jener Ungeheuer in einer Weise zu verändern, daß ihr Blick dann imstande war, alle jungen Herren zwischen sechs und elf Jahren während der ganzen Dauer der Weihnachts- und Hundstagsferien um ihre Seelenruhe zu bringen.
Wie er in Spielsachen war, so war er auch – wie die meisten Menschen – in allen andern Dingen. – Man kann sich daher leicht vorstellen, daß in dem großen, grünen Überzieher, der ihm bis über die Waden reichte, bis ans Kinn hinan ein möglichst unangenehmer Gesell steckte und daß er ein so auserlesener Patron und angenehmer Gesellschafter war, wie je einer in ein Paar Stiefeln, die wie Bullenbeißer aussahen, mit mahagonifarbigen Stulpen daran.
Und doch war Tackleton, der Spielwarenhändler, im Begriff, sich zu verheiraten. Ja, trotz alledem war er im Begriff, sich zu verheiraten. Und noch dazu mit einem jungen Mädchen, mit einem schönen jungen Mädchen.
Man sah ihm den Bräutigam wirklich nicht an, wie er so dastand in der Küche des Fuhrmanns mit seinem verzerrten, eingetrockneten Gesicht, seinem spiralartigen Körper, den Hut auf die Brücke von Nase herabgedrückt, die Hände bis auf den Grund der Taschen vergraben und seine ganz boshafte, spöttische Natur aus einer kleinen Ecke seines kleinen Auges hervorlauernd, so daß man unwillkürlich an soundsoviel Raben denken mußte. Und dennoch wollte er einen Bräutigam vorstellen.
»Nur noch drei Tage«, sagte Tackleton. »Nächsten Donnerstag. Der letzte Tag des ersten Monats im Jahr. Das ist mein Hochzeitstag.«
Habe ich bereits erwähnt, daß das eine Auge stets weit offen stand und er das andere beinahe geschlossen hielt, und daß das fast geschlossene Auge immer das ausdrucksvollere Auge war? Ich glaube nicht.
»Das ist mein Hochzeitstag!« sagte Tackleton, mit seinem Gelde klimpernd.
»Ei, ei, das ist auch unser Hochzeitstag«, rief der Fuhrmann.
»Ha, ha!« lachte Tackleton. »Merkwürdig! Ihr seid just auch so ein Pärchen. Just so eins!«
Das Entsetzen Dots über diese anmaßende Behauptung ist unbeschreiblich. Es fehlte nur noch, daß seine Einbildung so weit ging, sogar die Möglichkeit eines solchen Wickelkindes, wie das ihre, vorauszusetzen. Der Mann war nicht richtig im Oberstübchen!
»Hört einmal! Auf ein Wörtchen!« flüsterte Tackleton, indem er den Fuhrmann mit dem Ellenbogen anstieß und ihn ein wenig auf die Seite nahm. »Ihr kommt doch zur Hochzeit? Wir befinden uns ja in der gleichen Patsche, wißt Ihr!«
»Wieso in der gleichen Patsche?« fragte der Fuhrmann.
»Was die kleine Ungleichheit der Jahre anbetrifft, wißt Ihr«, sagte Tackleton, indem er ihm wieder einen Rippenstoß versetzte, »so kommt und bringt vorläufig einen Abend bei uns zu.«
»Warum?« fragte John, erstaunt über diese drängende Gastfreundschaft.
»Warum?« versetzte der andere. »Das ist ja eine ganz neue Art, Einladungen anzunehmen. Warum? Ei, des Vergnügens halber – um der Geselligkeit willen und all dergleichen, wißt Ihr?«
»Ich dachte, Ihr wäret niemals gesellig«, sagte John in seiner ehrlichen Weise.
»Nun, nun, ich sehe, bei Euch bleibt einem nichts übrig, als frei von der Leber weg zu reden«, versetzte Tackleton.
»Nun also, die Wahrheit ist, Ihr – Ihr und Eure Frau – habt ein ... was die Teetrinker ein gewisses gemütliches Verhältnis nennen. Wir wissen das besser, versteht Ihr, aber...«
»Nein, wir wissen das nicht besser«, fiel ihm John in die Rede. »Wovon redet Ihr denn?«
»Gut, wir wissen`s nicht besser«, sagte Tackleton. »Wir wollen also sagen, wir wissen`s nicht besser. Wie Ihr wollt; was tut's? Ich wollte also sagen, da Ihr nun einmal einen solchen Eindruck macht, so wird Eure Gesellschaft einen günstigen Einfluß auf die zukünftige Mrs. Tackleton ausüben. Und obgleich ich nicht glaube, daß Eure liebe Frau in dieser Hinsicht sehr freundschaftlich gegen mich gesinnt ist, so kann sie gar nicht anders, als meinen Absichten dienen, denn sie hat in ihrer Erscheinung etwas so Vernünftiges und Behagliches, das immer eine gute Wirkung hervorbringt, selbst in gleichgültigen Dingen. Also Ihr kommt, nicht wahr?«
»Wir haben beschlossen, unsern Hochzeitstag zu Hause zu feiern, soweit bei uns von Feiern überhaupt die Rede sein kann«, sagte John. »Es ist nun schon ein halbes Jahr, daß wir uns dieses vorgenommen haben. Seht Ihr, wir meinen zu Hause ...«
»Bah! Was zu Hause!« rief Tackleton. »Vier Wände und eine Decke – warum schlagt Ihr das Heimchen nicht tot? Ich tät's. Ich tu es immer. Der Lärm ist nur unerträglich ... Auch bei mir gibt's vier Wände und eine Decke. Kommt also!«
»Was, Ihr schlagt Eure Heimchen tot?« sagte John.
»Zertrete sie«, versetzte der andere, mit dem Absatz fest auf die Diele tretend. »Aber nun sagt ja! Es ist ebenso sehr in Eurem als in meinem Interesse, wißt Ihr, daß unsere Weiber einander einreden, sie seien durchaus glücklich und zufrieden und könnten es gar nicht besser haben. Ich kenne die Weiber. Wenn die eine Frau sich rühmt, macht es ihr die andere gleich nach. Es herrscht unter ihnen, mein Lieber, ein solcher Wetteifer, daß, wenn zum Beispiel Eure Frau zu meiner sagt: ›Ich bin die glücklichste Frau von der Welt und habe den besten Mann von der Welt und bete ihn förmlich an‹, so wird meine Frau dasselbe zu der Eurigen sagen oder noch mehr, und sie glaubt es sogar halbwegs.«
»Ihr meint also, daß sie das nicht tut?« fragte der Fuhrmann.
»Nicht tun!« rief Tackleton, mit einem kurzen, scharfen Lachen. »Was nicht tun?«
Der Fuhrmann hatte halb die Absicht gehabt, hinzuzufügen: »daß sie Euch nicht anbetet.« Aber als er zufällig das halbgeschlossene Auge sah, in dem Augenblick, als es sich blinzelnd auf ihn heftete über den aufgeschlagenen Mantelkragen hin, dessen Spitze es ihm beinahe ausstach, da fühlte John, daß in diesem Menschen so wenig Anbetungswürdiges war, daß er statt dessen sagte: »daß sie es nicht selbst glaubt.«
»Ha, ha! Ihr seid ein Schelm! Ihr scherzt!« sagte Tackleton.
Aber der Fuhrmann, obgleich er nur langsam die ganze Tragweite dessen begriff, was er gesagt, sah ihn mit einer so ernsten Miene an, daß Tackleton genötigt war, sich etwas deutlicher zu erklären.
»Ich habe Lust«, sagte er, indem er die Finger seiner linken Hand emporhielt und den Zeigefinger anfaßte, als wollte er sagen: »Das bin ich, Tackleton nämlich« ... »Ich habe Lust, mein Bester, mir ein Weibchen zu nehmen, und zwar ein junges Weibchen, und ein schönes Weibchen« – hier klopfte er auf seinen kleinen Finger, der gleichsam die Braut präsentierte, und zwar recht empfindlich, wie um sich als Herr zu zeigen. »Ich bin ganz der Mann danach, diesen Gedanken zur Ausführung zu bringen, und ich tu' es auch. Das ist nun einmal meine Laune. Aber – seht mal dort!«
Er deutete auf Dot, die nachdenklich am Feuer saß, ihr Kinn mit dem Grübchen auf die Hand stützte und in die helle Glut schaute. Der Fuhrmann sah sie an, und dann ihn, und dann sie, und dann wieder ihn.
»Ohne Zweifel ehrt sie Euch und gehorcht Euch, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist«, sagte Tackleton: »und da ich kein Mann von schönen Phantastereien bin, so genügt mir das auch vollständig. Meint Ihr etwa, daß noch sonst etwas dabei ist?«
»Ich meine«, bemerkte der Fuhrmann, »daß ich jeden zum Fenster hinauswerfen würde, der das Gegenteil behaupten wollte.« »Richtig, richtig!« beeilte sich der andere mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit zuzustimmen, »Gewiß, versteht sich! Ohne Zweifel würdet Ihr das. Ganz selbstredend. Bin vollkommen davon überzeugt! Gute Nacht. Angenehme Träume!«
Der gute Fuhrmann war verlegen und empfand, er mochte wollen oder nicht, ein gewisses Unbehagen und etwas wie Unsicherheit. Er konnte nicht anders, als es in seiner Weise zu zeigen.
»Gute Nacht, lieber Freund!« sagte Tackleton in mitleidigem Ton. »Ich gehe. Wir sind natürlich vollständig der gleichen Meinung, wie ich sehe. Ihr wollt uns also morgen abend nicht die Freude machen? Gut, übermorgen macht Ihr einen Besuch, wie ich weiß. Ich werde Euch dort treffen und meine Braut mitbringen. Sie wird sich freuen. Einverstanden? Danke! ... Was ist das!«
Es war ein lauter Schrei, den des Fuhrmanns Frau ausstieß: ein lauter schriller, plötzlicher Schrei, der durch das Zimmer klang wie eine Glasglocke. Sie war aufgestanden und stand da wie versteinert von Schreck und Überraschung. Der Fremde war näher an das Feuer getreten, um sich zu wärmen, und stand einen Schritt von ihrem Stuhl entfernt, aber ganz still und schweigsam.
»Dot!« schrie der Fuhrmann. »Marie! Mein Liebling! Was ist Dir?« Im Augenblick waren alle um sie. Kaleb, der auf der Kuchenschachtel eingeschlummert war, ergriff im ersten unvollständigen Zusammensuchen seiner zeitweilig aufgehobenen Geistesgegenwart Fräulein Tolpatsch bei ihrem Haar, bat aber sofort um Entschuldigung.
»Marie!« rief der Fuhrmann, indem er sie in seine Arme nahm. »Bist du krank? Was fehlt dir? So rede doch, mein Herz!«
Ihre ganze Antwort bestand darin, daß sie die Hände zusammenschlug und in ein unaufhaltsames Lachen ausbrach. Dann glitt sie aus seinen Armen, bedeckte ihr Gesicht mit der Schürze und fing an, bitterlich zu weinen. Hierauf begann sie wieder zu lachen, dann wieder zu weinen, und sagte, es sei kalt und ließ sich an das Feuer führen, wo sie sich wieder, wie vorhin, niedersetzte.
Der alte Mann stand noch da, ganz gelassen wie zuvor.
»Mir ist besser, John« sagte sie. »Mir ist jetzt wieder ganz wohl ... mir ...«
Aber John stand an der anderen Seite der Stube. Warum sah sie nur den alten Herrn an, als ob sie mit ihm redete! War sie nicht bei Verstand?
»Nichts als Einbildung, lieber John ... eine Art Erschütterung ... etwas wie eine plötzliche Erscheinung ... ich weiß nicht recht, was ... es ist ganz vorüber, ganz vorüber.«
»Es freut mich, daß es ganz vorüber ist«, murmelte Tackleton, indem er das sorgenvolle Auge im ganzen Zimmer umherwandeln ließ. »Ich möchte wissen, wie es verschwunden ist und was es war. Hm! Kaleb, kommt mal her! Wer ist denn der Graukopf da?«
»Ich weiß nicht, Herr«, erwiderte Kaleb flüsternd.
»Ihn früher nie gesehen; in meinem ganzen Leben nicht. Herrliche Figur für einen Nußknacker; ganz neues Modell. Mit einem Hängemaul, das bis auf den Bauch hinunter aufginge, würde er ganz prachtvoll sein.«
»Nicht häßlich genug«, sagte Tackleton.
»Oder auch für eine Streichholzbüchse«, bemerkte Kaleb, der in tiefe Betrachtung versank. »Welch ein Modell! Den Kopf abgeschraubt, um die Streichhölzer hineinzutun; umgewendet, und das Streichholz an den Absätzen angestrichen; welch eine Streichholzbüchse für den Kaminsims in einem Salon, wie er gerade so dasteht!«
»Lange, lange nicht häßlich genug!« versetzte Tackleton. »Aus dem ist gar nichts zu machen. Kommt! nehmt die Kuchenschachtel mit! – Alles in Ordnung jetzt, hoff ich?«
»O, es ist ganz vorüber! Ganz vorüber!« sagte die kleine Frau und winkte ihn hastig fort. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht!« sagte Tackleton. »Gute Nacht, John Peerybingle! Paßt gut auf die Schachtel, Kaleb! Laßt Ihr sie fallen, so schlag' ich Euch tot! Rabenschwarze Nacht, und das Wetter schlechter als je. Gute Nacht!«
Und nachdem er noch einen scharfen Blick im Zimmer umhergeworfen, ging er zur Tür hinaus, gefolgt von Kaleb, der den Hochzeitskuchen auf dem Kopfe trug.
Der Fuhrmann war so entsetzt über das, was seiner kleinen Frau zugestoßen war, und so damit beschäftigt, sie zu beruhigen und ihr zu helfen, daß er die Anwesenheit des Fremden fast vollständig vergessen hatte, und ihn erst jetzt, als die übrigen fort waren, wieder dastehen sah.
»Er gehört nicht zu ihnen, siehst du«, sagte John. »Ich muß ihm einen Wink geben, daß er geht.«
»Ich bitte um Verzeihung, Freund«, sagte der Greis, indem er auf ihn zutrat, »um so mehr, als ich fürchte, daß Eure Frau etwas unwohl geworden ist, aber da die Person nicht kommt, die mein Leiden« – hier zeigte er auf seine Ohren und schüttelte den Kopf – »mir fast unentbehrlich macht, so fürchte ich, daß ein Mißverständnis vorliegt. Das schlechte Wetter, das mir heute abend den Schutz Eures bequemen Wagens – möchte ich nie einen schlechteren finden – so angenehm machte, ist abscheulicher als je. Würdet Ihr wohl so freundlich sein, mir gegen Entgelt ein Bett zu vermieten?«
»Ja, ja!« rief Dot. »Ja gewiß!«
»O!« sagte der Fuhrmann, überrascht von dieser sofortigen Einwilligung. »Nun, ich habe nichts dagegen; indes weiß ich nicht ganz bestimmt, ob – «
»Pst!« unterbrach sie ihn. »Lieber John!«
»I was, er ist ja stocktaub!« wendete John ein.
»Das weiß ich, aber – ja Herr, gewiß. Ja gewiß! Ich will ihm sofort ein Bett zurecht machen, John.«
Als sie davoneilte, um sich sofort an die Arbeit zu machen, hatten ihre Aufregung und die Sonderbarkeit ihres Verhaltens etwas so Eigentümliches, daß der Fuhrmann ihr ganz bestürzt nachblickte.
»Und Mütterchen ihm nunchen Bettchen machelchen?« sang Tilly Tolpatsch dem Wickelkinde vor: »und Härchen ihm wurden braunchen und krauschen, als Mützchen ein bissel er abchen genommen? Und hat's liebe Herzchen in Schreckchen gebracht, als es so stillchen am Feuerchen saß?«
Infolge jenes unerklärlichen Instinkts, der oft die geringfügigsten Belanglosigkeiten auf ein von Verwirrung und Zweifel gequältes Gemüt ausüben, überraschte sich der Fuhrmann dabei, während er langsam hin und her ging, wie er in Gedanken mehrmals jene sinnlosen Worte wiederholte, so oft, daß er sie auswendig wußte, und sie wie eine Lektion immer wieder hersagte, während Tilly, nachdem sie mit der flachen Hand das kleine Kahlköpfchen, wie Wärterinnen zu tun pflegen, so lange gerieben, als sie es für notwendig für seine Gesundheit hielt, dem Kindchen das Mützchen wieder aufsetzte.
»Und hat's liebe Herzchen in Schreckchen gebracht, als es so stillchen am Feuerchen saß?«
»Aber was hat denn nur Dot erschreckt!« murmelte der Fuhrmann, indem er immer wieder im Zimmer auf und ab ging.
Er verbannte mit Entrüstung aus seinem Herzen die Andeutungen des Spielwarenhändlers, und doch erfüllten sie ihn mit einer unbestimmten Unruhe. Denn Tackleton hatte einen raschen, schlauen Kopf, während er selbst das peinliche Gefühl hatte, ein Mann von langsamen Begriffen zu sein, so daß ein halb hingeworfener Wink ihn stets verwirrte. Er wollte durchaus nicht das, was Tackleton gesagt, mit dem merkwürdigen Verhalten seiner Frau in Verbindung bringen; aber diese beiden Gegenstände des Nachdenkens drängten sich seinen Gedanken zugleich auf, und es war ihm unmöglich, sie auseinanderzuhalten.
Das Bett war bald zurechtgemacht; und der Gast, der außer einer Tasse Tee jede Erfrischung ablehnte, zog sich zurück. Dann stellte Dot – wieder ganz wohl, wie sie sagte, wieder ganz wohl – den großen Stuhl in die Kaminecke für ihren Mann, stopfte seine Pfeife, reichte sie ihm und nahm ihren gewöhnlichen kleinen Sessel neben ihm am Herde ein.
Sie setzte sich immer auf diesen kleinen Sessel; ich glaube, sie mußte es wissen, daß dieser kleine Sessel vorzüglich zu ihr paßte und sie lieblich erscheinen ließ.
Übrigens muß ich sagen, daß Dot die beste Pfeifenstopferin war, die man in allen fünf Weltteilen hätte finden können. Es war allerliebst, zu beobachten, wie sie das feste runde Fingerchen in den Pfeifenkopf steckte und dann in das Rohr blies, um es zu reinigen, und wie sie dann, als dies vollbracht war, tat, als sei wirklich etwas in dem Rohr, und wohl ein dutzendmal hineinblies, es wie ein Fernrohr vor das Auge hielt und mit einem höchst reizenden Zwinkern in ihrem hübschen Gesicht hindurchblickte. Was den Tabak betrifft, so war sie in diesem Artikel eine vollkommene Meisterin. Und wie sie mit einem Fidibus die Pfeife anzündete, wenn der Fuhrmann sie in den Mund gesteckt hatte – seiner Nase ganz nahe kam und sie doch nicht versengte – das war Kunst, vollendete Kunst!
Und wie das Heimchen und der Kessel, indem sie ihr Lied wieder anstimmten, dies anerkannten! Auch das helle Feuer, indem es plötzlich wieder aufflammte, erkannte es an! Und der kleine Mäher auf der Uhr, der unbeachtet seine Arbeit fortsetzte, erkannte es ebenfalls an. Und der Fuhrmann mit der wieder geglätteten Stirn und dem hellen Gesicht war der allererste, es anzuerkennen!
Und während er ernst und nachdenklich seine alte Pfeife schmauchte, und die Schwarzwälder Uhr tickte, und das rote Feuer flackerte, und das Heimchen zirpte, da kam jener Genius des Herdes und des Hauses – denn das war das Heimchen – in Feengestalt, und zauberte eine Menge Bilder häuslichen Glückes um ihn her. Dots jeden Alters und jeder Größe erfüllten das Zimmer. Dots, die als fröhliche Kinder die Blumen pflückten, über die Felder dahinrannten; verschämte Dots, die sich der Werbung seines eigenen rauhen Ebenbildes halb entzogen, halb ihr nachgaben; jung verheiratete Dots, die an der Tür abstiegen und verwundert ihre Wirtschaftsschlüssel in Empfang nahmen; kleine mütterliche Dots, gefolgt von traumhaften tolpatschigen Mädchen, die Wickelkinder zur Taufe trugen; matronenhafte Dots, die, immer noch jung und blühend, andere Dots, ihre Töchter, zu ländlichen Tänzen begleiteten; wohlbeleibte Dots, umringt und belagert von Scharen rosiger Enkel; verwelkte Dots, die sich auf Krücken lehnten und unsicheren Schrittes langsam dahinschlichen. Auch alte Fuhrleute erschienen, mit blinden alten Boxern zu ihren Füßen; und neuere Fuhrwerke mit jüngeren Lenkern (»Gebrüder Peerybingle« stand auf der Wagendecke): und kranke alte Fuhrleute, gepflegt von den liebevollsten Händen, und Gräber mit längst heimgegangenen Fuhrleuten, die bedeckt waren mit grünen Friedhofsrasen. Und als das Heimchen ihm alle diese Dinge zeigte – denn er sah sie ganz deutlich, obgleich seine Augen auf das Feuer gerichtet waren –, da wurde dem Fuhrmann das Herz leicht und glücklich, und er dankte seinen Hausgöttern von ganzem Herzen, und kümmerte sich um Gruff und Tackleton nicht mehr, als ihr es tut.
Aber was war das für eine Gestalt von einem jungen Mann, den dasselbe Feenheimchen ihrem Stuhl so nahe stellte, und der dort ganz einsam und allein stehenblieb? Warum weilte er noch immer so nahe bei ihr, den Arm auf den Kaminsims gestützt und wiederholte beständig: »Verheiratet! Verheiratet! Und nicht mit mir!«
O Dot! O schwache Dot! Solltest du deine Pflichten ... Aber nein, für den Gedanken ist kein Raum in allen Träumen deines Mannes. Doch warum ist dieser Schatten auf seinen Herd gefallen?


Zweites Zirpen.


Kaleb Plummer und seine blinde Tochter lebten ganz allein miteinander, wie die Märchenbücher sagen – und meinen Segen und auch hoffentlich den eurigen über die Märchenbücher, daß sie uns noch etwas zu sagen haben in dieser Alltagswelt! – Kaleb Plummer und seine blinde Tochter lebten ganz allein miteinander in einer zerknackten Nußschale von einem Häuschen, das eigentlich nichts Besseres war als ein Pickel auf der hervorragenden Backsteinnase von Gruff und Tackleton. Die Gebäude von Gruff und Tackleton nahmen die große Vorderseite der Straße ein; aber Kaleb Plummers Häuschen hätte man mit ein paar Hammerschlägen niederschlagen und die Stücke in einem Schubkarren fortschaffen können.
Wenn irgend jemand der Wohnung Kaleb Plummers nach einem solchen Gewaltstreich die Ehre angetan hätte, sie zu vermissen, so wäre es ohne Zweifel nur geschehen, um ihre Zerstörung als eine bedeutende Verbesserung zu preisen. Sie klebte an dem Gewese von Gruff und Tackleton wie eine Klette an einem Schiffskiel, oder wie eine Schnecke an einer Tür, oder wie ein kleines Häufchen Pilze an einem Baumstamm. Und doch war es der Keim, aus dem der hohe kräftige Stamm von Gruff und Tackleton aufgewachsen war; und unter seinem zerfallenen Dache hatte der vorletzte Gruff in ganz kleinem Maßstabe Spielzeug für eine Generation von seitdem alt gewordenen Knaben und Mädchen angefertigt, die damit gespielt, sie ausgenutzt, zerbrochen, und dann auf ihnen sich schlafen gelegt hatten.
Ich sagte, daß Kaleb und seine arme blinde Tochter hier lebten. Aber ich hätte sagen sollen, Kaleb lebte hier und seine arme blinde Tochter irgendwo in einem Zauberschlosse von Kalebs Schöpfung, wo man von Armut und Not nichts spürte und die Sorge nie Einlaß hielt. Kaleb war kein Zauberer, aber in der einzigen Zauberkunst, die uns noch übriggeblieben ist, in der Zauberkunst hingebender, unerschöpflicher Liebe, war die Natur seine Lehrerin gewesen, und aus ihren Lehren blühten all diese Wunder auf.
Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß die Decke verblichen, die Wände schwarz und stellenweise vom Mörtel entblößt waren; daß große Risse sich gebildet hatten und mit jedem Tag sich erweiterten; daß die Balken vermoderten und sich senkten. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß auf den Wandborden nur die häßlichen Gestalten von Töpferwaren standen; daß Sorge und Mutlosigkeit im Hause waren; daß Kalebs spärliche Haare vor ihren erloschenen Augen grauer und immer grauer wurden. Das blinde Mädchen erfuhr nie, daß sie einen kalten, anspruchsvollen, gefühllosen Herrn hatte, kurz, daß Tackleton Tackleton war, sondern lebte in dem Glauben an einen gutmütigen Kerl, der gern seinen Spaß mit ihnen trieb, und der, während er der Schutzengel ihres Daseins war, es verschmähte, ein Wort der Dankbarkeit von ihnen zu hören.
Und das alles war Kalebs Werk, das Werk ihres schlichten Vaters! Aber auch er hatte ein Heimchen an seinem Herde; und als er einst, da das mutterlose blinde Kind noch sehr jung war, mit schwerem Herzen auf sein Zirpen lauschte, da hatte ihm dieser Schutzgeist den Gedanken eingeflößt, daß selbst ihr großes Unglück fast in einen Segen verwandelt und das Mädchen mit diesem traurigen Mittel glücklich gemacht werden könne. Denn das ganze Heimchengeschlecht besteht aus mächtigen Geistern, wenn auch die Menschen, die mit ihnen verkehren, es fast nie wissen (und dies ist häufig der Fall); und es gibt in der unsichtbaren Welt keine lieblicheren und wahreren Stimmen, denen man bedingungsloser vertrauen könnte, und die so sicher nur den liebevollsten Rat erteilen, als die Stimmen, deren sich die Schutzengel des häuslichen Herdes in ihrem Verkehr mit dem Menschengeschlecht bedienen.
Kaleb und seine Tochter waren zusammen bei der Arbeit in ihrer gewöhnlichen Arbeitsstube, die ihnen auch als Wohnstube diente. Und ein merkwürdiger Ort war es. Da standen Häuser, fertige und halbfertige, für Puppen jeden Ranges. Vorstadthäuser für Puppen von beschränkten Mitteln; Küchen und einzelne Zimmer für Puppen der niederen Klassen; großstädtische Paläste für Puppen aus vornehmen Kreisen. Einige dieser Wohnungen waren bereits möbliert, je nach den Verhältnissen und dem Geschmack von Puppen von beschränktem Einkommen; andere konnten in kürzester Frist auf das kostspieligste eingerichtet werden; man brauchte nur von den Gestellen Stühle, Tische, Sofas, Bettstellen, und was sonst zu einer fein möblierten Wohnung gehört, herunterzunehmen. Der hohe und niedere Adel und das große Publikum, für die diese Wohnungen bestimmt waren, lagen da und dort, die Augen starr nach der Decke gerichtet, in Körben herum; aber je nachdem die Verfertiger dieser Puppen ihnen die verschiedenen Stufen auf der gesellschaftlichen Leiter anwiesen und jeden auf seinen entsprechenden Platz stellten – was, wie die Erfahrung lehrt, im wirklichen Leben beklagenswert schwierig ist – waren sie weit geschickter gewesen, als die Natur, die oft so launisch und verderbt ist; denn statt sich mit so willkürlichen Unterscheidungen wie Atlas, Kattun und Lumpen zu begnügen, hatten sie auffällig persönliche Unterscheidungen, bei denen ein Irrtum ausgeschlossen war, hinzugefügt. So hatte die Puppendame von vornehmer Herkunft Wachsglieder von vollendetem Ebenmaß – ein Vorzug, wie er nur ihr und ihren Adelsgenossen gebührte. Der nächste Grad auf der gesellschaftlichen Leiter war von Leder, und wieder der nächste von grober Leinwand. Was das gemeine Volk betraf, so war das Material zu ihren Armen und Beinen aus Streichholzbüchsen genommen – und so stand es nun da, von Anbeginn in die ihm zukommende Sphäre gewiesen, ohne die Möglichkeit, je aus derselben herauszukommen.
Außer den Puppen enthielt Kalebs Zimmer noch verschiedene andre Proben seiner Kunstfertigkeit. Da waren Archen Noahs, in denen Vögel und Tiere ungewöhnlich eng untergebracht waren, das kann ich euch versichern; obwohl sie durch ein Loch im Dach hineingestopft waren, so konnten sie doch auf einen beliebig kleinen Raum zusammengeschüttelt und gerüttelt werden. Vermöge einer erfinderischen poetischen Freiheit hatten die meisten dieser Noahsarchen Klopfer an den Türen – wenig passende Anhängsel vielleicht, da sie an Morgenbesuche und Briefträger erinnerten; indes gaben sie in netter Weise dem Äußeren des Gebäudes die Schlußzierde. Da waren ganze Schocke melancholischer kleiner Karren, die, wenn die Räder sich drehten, eine höchst klägliche Musik machten. Viele kleine Geigen, Trommeln und andere Folterwerkzeuge, auch eine unzählige Masse von Kanonen, Schilden, Schwertern, Lanzen und Flinten. Da waren kleine Purzelmännchen in roten Hosen, die unaufhörlich an hohen aufgespannten roten Bändern hinaufkletterten und auf der anderen Seite kopfüber wieder herunterkamen; da waren auch unzählige alte Herren von hochachtbarem, um nicht zu sagen ehrwürdigem Äußeren, die sich wie toll um wagerechte Pflöcke herumschwangen, die einzig zu diesem Zwecke mitten in ihrer Haustüre angebracht waren. Da waren Tiere jeder Gattung, besonders Pferde jeder Rasse, von gefleckten Zylindern auf vier Pflöckchen, mit einem kleinen Streifchen als Mähne, bis zu Vollblutswiegenpferden von feurigstem Temperament. Es wäre schwer gewesen, die Dutzende und Aberdutzende seltsamer Figuren zu zählen, die allezeit bereit waren, bei dem Drehen eines Griffes alle möglichen Albernheiten zu begehen; auch würde es keine leichte Aufgabe gewesen sein, eine menschliche Torheit, Untugend oder Schwäche zu nennen, die in Kaleb Plummers Zimmer nicht ihren mehr oder weniger treuen Typus gefunden hätte. Und alles das durchaus nicht in übertriebener Form; denn es bedarf ja keiner sehr künstlichen Handhabe, um uns alle, Männer wie Frauen, zu nicht weniger seltsamen Streichen zu bewegen, als die, die je von einem Spielzeug ausgeführt wurden.
Inmitten all dieser Gegenstände saßen Kaleb und seine Tochter bei der Arbeit. Das blinde Mädchen, beschäftigt als Puppenschneiderin, Kaleb die vierfenstrige Front eines ansehnlichen Bürgerhauses bemalend und mit Glas versehend.
Die Sorge, deren Spuren Kalebs Gesichtszügen aufgedrückt war, sein zerstreutes und träumerisches Wesen, das einem Alchimisten oder einem Jünger der dunklen Wissenschaft sehr gut gestanden hätte, bildeten auf den ersten Blick einen merkwürdigen Kontrast zu seiner Beschäftigung und den Nichtigkeiten um ihn her. Aber so alltäglich die Dinge auch an sich sein mögen, wenn man sie erfindet und anfertigt, um sich sein tägliches Brot damit zu verdienen, dann werden sie etwas sehr Ernsthaftes; und ganz abgesehen von dieser Betrachtung, kann ich durchaus nicht sagen, ob Kaleb, wenn er Minister oder Parlamentsmitglied oder Advokat oder gar ein großer Spekulant gewesen, sich mit weniger launischen Spielereien beschäftigt hätte, während ich gar sehr bezweifle, ob sie ebenso harmlos gewesen wären.
»Du warst also gestern abend draußen im Regen, Vater, in deinem schönen neuen Überzieher?« fragte Kalebs Tochter.
»Mit meinem schönen neuen Überzieher«, antwortete Kaleb, indem er einen Blick nach der Wäscheleine warf, auf der das vorhin beschriebene Gewand von Packleinewand sorgfältig zum Trocknen aufgehängt war.
»Wie froh bin ich, Vater, daß du ihn dir gekauft hast!«
»Und obendrein von einem so tüchtigen Schneider«, sagte Kaleb. »Ein vollendeter Modenschneider. Er ist zu gut für mich.«
Das blinde Mädchen unterbrach ihre Arbeit und fing an fröhlich zu lachen.
»Zu gut, Vater! Könnte denn etwas zu gut für dich sein?«
»Aber ich schäme mich fast, ihn zu tragen«, sagte Kaleb, die Wirkung seiner Worte auf ihrem freudestrahlenden Gesicht beobachtend. »Auf mein Wort, wenn ich die Jungen und die Leute hinter mir sagen höre: ›Hallo, seht mal den Gecken an!‹, dann weiß ich nicht, wo ich meine Augen lassen soll. Und als gestern abend der Bettler gar nicht fortgehen wollte, und ich ihm sagte, ich sei ein ganz gewöhnlicher Mann, da antwortete er: ›Aber nein, Euer Gnaden! Das glaube ich Euer Gnaden nicht.‹ Mir war, als hätte ich kein Recht, ihn zu tragen.«
Glückliches blindes Mädchen! Wie fröhlich sie war in ihrem Entzücken.
»Ich sehe dich, Vater«, sagte sie, in die Hände klatschend, »so deutlich, als wenn ich die Augen hätte, die ich nie vermisse, wenn du bei mir bist. Ein blauer Rock ...«
»Hellblau«, sagte Kaleb.
»Ja, ja, hellblau!« rief das Mädchen, ihr freudestrahlendes Gesicht emporrichtend: »ganz die Farbe, deren ich mich noch von dem lieben Himmel her erinnere! Du sagtest mir früher, er sei blau! Also ein hellblauer Rock ...«
»Und halb anschließend«, setzte Kaleb hinzu.
»Halb anschließend!« rief das blinde Mädchen mit herzlichem Lachen; »und du in diesem Rock, lieber Vater, mit deinen fröhlichen Augen, deinem lächelnden Gesicht, deinem leichten Schritt und deinem dunklen Haar. – Du siehst so schön und jung aus!«
»Hallo, hallo!« sagte Kaleb. »Ich werde noch ganz eitel.«
»Ich glaube, du bist es schon!« rief das blinde Mädchen, ihm in ihrem Entzücken mit dem Finger drohend. »Ich kenne dich, Vater! Ha, ha, ha! Siehst du, da habe ich dich ertappt!«
Wie ganz verschieden war das Bild in ihrem Geiste von dem Kaleb, wie er dasaß und sie beobachtete! Sie hatte von seinem leichten Schritt gesprochen. Damit hatte sie recht. Seit vielen Jahren hatte er nicht ein einziges Mal die Schwelle dieser Tür mit dem ihm natürlichen langsamen, schwerfälligen Gange überschritten, sondern mit einem erkünstelten Schritt, der das Ohr seines Kindes täuschen sollte, und niemals hatte er, wenn sein Herz auch noch so schwer war, diesen leichten Gang vergessen, der ihr Herz so froh und mutig machte!
Nur Gott weiß es, aber ich glaube, Kalebs verwirrtes Wesen hatte zum Teil seinen Grund darin, daß er sich aus Liebe zu seiner blinden Tochter immer verstellt hatte. Wie hätte der kleine Mann nicht verwirrt sein sollen, nachdem er so viele Jahre daran gearbeitet hatte, seine eigene Identität und all die Gegenstände, die darauf Bezug hatten, zu zerstören!
»So weit wären wir«, sagte Kaleb, ein paar Schritte zurücktretend, um sich besser von der Vortrefflichkeit seiner Arbeit überzeugen zu können: »der Wirklichkeit so ähnlich, wie eine halbe Mark einem Fünfgroschenstück. Wie schade, daß die ganze Front des Hauses auf einmal aufgeht! Wenn nur eine Treppe und ordentliche Türen da wären, um in die Zimmer zu gelangen! Aber das ist das Schlimme an meinem Beruf; ich betrüge und beschwindle mich in einem fort selbst.«
»Du sprichst ja ganz leise, Vater. Bist du müde?«
»Müde!« wiederholte Kaleb mit einem kräftigen Ausdruck von Energie. »Was sollte mich denn müde machen, Bertha? Ich bin noch nie müde gewesen. Was willst du damit sagen?«
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, unterbrach er sich plötzlich, als er unwillkürlich zwei Kniestücke nachahmen wollte, die sich auf dem Kaminsims dehnten und gähnten, vollkommene Darstellungen ewiger Müdigkeit, und begann dann einen Vers eines Liedes zu summen. Es war ein Trinklied und handelte von etwas wie einem schäumenden Becher. Er sang es mit ganz verwegenem Schwung, der sein Gesicht noch tausendmal magerer und sorgenvoller als gewöhnlich erscheinen ließ.
»Wie, was, Ihr singt!« sagte Tackleton, seinen Kopf zur Tür hereinsteckend. »Nur zu! Ich kann nicht singen.«
In der Tat würde das niemand bei ihm vermutet haben. Sein Gesicht sah wirklich nicht nach Singen aus.
»Ich kann mir den Luxus des Singens nicht gönnen«, sagte Tackleton. »Es freut mich, daß Ihr es könnt. Will nur hoffen, daß Euch das nicht am Arbeiten hindert. Beides läßt sich schwer vereinigen, scheint mir.«
»Wenn du ihn nur sehen könntest, Bertha; wie er mir zunickt!« flüsterte Kaleb. »So ein Spaßmacher! Wenn du ihn nicht kenntest, so könntest du glauben, es sei ihm ernst, – nicht wahr?«
Das blinde Mädchen lächelte und nickte.
»Wenn der Vogel singen kann und nicht will, so muß man ihn zwingen, sagt das Sprichwort«, brummte Tackleton. »Wenn nun aber die Eule, die nicht singen kann und nicht singen soll, trotzdem singen will, – was muß man dann mit ihr machen?«
»O, und wie er mir jetzt wieder winkt!« flüsterte Kaleb seiner Tochter ins Ohr. »O du grundgütiger Himmel!«
»Immer fröhlich und gut gelaunt bei uns!« rief Bertha lachend.
»Ah, bist du auch da, wirklich!« versetzte Tackleton. »Arme Blödsinnige!«
Er glaubte in der Tat, sie sei schwachsinnig; und er gründete seinen Glauben – ich weiß nicht, ob bewußt oder unbewußt – darauf, daß sie ihn gern leiden mochte.
»Wohlan ... da du einmal da bist ... wie geht's?« fragte Tackleton in seiner mürrischen Weise.
»O gut, ganz gut! Und so glücklich, wie Sie es mir nur wünschen können. So glücklich, wie Sie die ganze Welt machen möchten, wenn Sie es könnten!«
»Arme blödsinnige!« murmelte Tackleton. »Kein Funken Vernunft. Nicht ein Fünkchen!«
Das blinde Mädchen ergriff seine Hand und küßte sie – sie hielt sie einen Augenblick zwischen ihren Händen und legte zärtlich ihre Wange darauf, bevor sie sie wieder losließ. Es lag in dieser Handlung etwas so unaussprechlich Zärtliches, eine so feurige Dankbarkeit, daß selbst Tackleton sich bewogen fand, in einem weniger rauhen Brummton zu sagen:
»Na, was gibt's denn nun?«
»Ich stellte es dicht neben mein Kopfkissen, als ich gestern abend zu Bett ging und träumte dann davon. Und als der Tag anbrach und die herrliche rote Sonne – die rote Sonne, Vater?«
»Rot am Morgen und am Abend, Bertha«, sagte der arme Kaleb mit einem traurigen Blick auf seinen Brotherrn.
»Als sie aufging und das helle Licht, an das ich mich fast im Gehen zu stoßen fürchtete, in das Zimmer drang, wandte ich ihm den kleinen Rosenstock zu und dankte dem Himmel, daß er so schöne Dinge geschaffen, und segne Sie, daß Sie ihn mir geschenkt, um mich aufzuheitern.«
»Das Tollhaus ist los!« murmelte Tackleton für sich. »Wir werden bald bei der Zwangsjacke und den Fausthandschuhen angekommen sein. Wir machen Fortschritte!«
Kaleb, die Hände lose ineinandergelegt, starrte vor sich hin, während seine Tochter sprach, als ob er wirklich nicht sicher sei – und ich glaube, er war es auch nicht – ob Tackleton etwas getan, was ihren Dank verdiente oder nicht. Hätte er mit vollkommen freiem Willen handeln können, und hätte er in diesem Augenblick bei Todesstrafe sich dafür entscheiden müssen, den Spielwarenhändler mit Fußtritten fortzujagen, wie er es verdient hätte, oder sich ihm zu Füßen zu werfen, um ihm für seine Wohltaten zu danken, ich glaube, die Möglichkeit wäre nach beiden Seiten hin gleich groß gewesen. Und doch wußte Kaleb, daß er mit eigenen Händen so sorgsam den kleinen Rosenstock für sie mitgebracht, und daß er mit seinen eigenen Lippen die unschuldige Täuschung hervorgerufen hatte, die ihm helfen sollte, sie vor dem Gedanken zu bewahren, wie viele, wie so sehr viele Entbehrungen er sich täglich auferlegte, um sie glücklich zu sehen.
Kaleb Plummer und seine blinde Tochter.
»Bertha!« sagte Tackleton, dies eine Mal ein wenig Herzlichkeit in seine Stimme legend. »Komm mal her!«
»O!« antwortete sie, »ich kann gerade auf Sie zukommen! Sie brauchen mich gar nicht zu führen!«
»Soll ich dir ein Geheimnis mitteilen, Bertha?«
»Wenn Sie wollen«, antwortete sie eifrig.
Wie strahlend dieses umnachtete Antlitz wurde! Wie ein Lichtschein lag es über diesem lauschenden Haupt!
»Heute ist der Tag, an dem die kleine, wie ist doch gleich ihr Name? – das verzogene Kind, Peerybingles Frau, euch ihren gewöhnlichen Besuch macht – ihr närrisches Picknick hier veranstaltet, nicht wahr«, sagte Tackleton mit einem starken Ausdruck von Widerwillen gegen die ganze Sache.
»Ja«, sagte Bertha, »heut ist der Tag.«
»Ich dacht' es mir!« versetzte Tackleton. »Nun wohl, ich möchte gern dabei sein.«
»Hörst du, Vater!« rief das blinde Mädchen außer sich vor Freude.
»Ja, ja, ich hör' es«, murmelte Kaleb mit dem starren Blicke eines Nachtwandlers! »aber ich glaub's nicht. Es ist gewiß wieder eine meiner Lügen (?=Selbsttäuschungen).«
»Seht, ich ... ich möchte die Peerybingles gern ein wenig mehr mit May Fielding zusammenbringen«, sagte Tackleton. »Ich habe beschlossen, May zu heiraten.«
»Zu heiraten!« rief das blinde Mädchen, plötzlich von ihm zurückweichend.
»Sie ist ein so entsetzlich blödsinniges Ding«, brummte Tackleton, »daß ich befürchte, sie würde nichts davon begreifen. Ja, Bertha, heiraten! Kirche, Pfarrer, Küster, Kirchenvogt, Staatskutsche, Glocken, Hochzeitsmahl, Hochzeitskuchen, Rosetten und Bänder und Polterabendmusik und all die übrigen Hanswurstereien. Eine Hochzeit, weißt du, was eine Hochzeit ist?«
»Ich weiß es«, versetzte das blinde Mädchen in leisem Tone. »Ich verstehe!«
»Wirklich?« murmelte Tackleton. »Das ist mehr, als ich erwartet hatte. Nun gut, das ist der Grund, weshalb ich dabei sein und May und ihre Mutter mitbringen möchte. Ich werde am Vormittag die eine oder andre Kleinigkeit herschicken. Eine kalte Hammelkeule oder eine ähnliche kleine Erfrischung. Ihr erwartet mich also?«
»Ja«, antwortete sie.
Sie hatte ihren Kopf geneigt und wandte sich ab: und so stand sie nun da mit gefalteten Händen, unbeweglich und träumerisch.
»Es scheint mir nicht, daß sie will«, murmelte Tackleton, indem er sie ansah, »denn es scheint mir, als ob sie es schon gänzlich wieder vergessen hätte ... Kaleb!«
»Ich darf mir wohl erlauben zu sagen, daß ich hier bin«, dachte Kaleb. »Was befehlt Ihr?«
»Sorgt dafür, daß sie nicht vergißt, was ich ihr gesagt habe.«
»O, sie vergißt nichts«, erwiderte Kaleb. »Das ist fast das einzige, was sie nicht versteht.«
»Jeder hält seine Gänse für Schwäne«, bemerkte der Spielwarenhändler mit einem Achselzucken. »Armer Teufel!«
Und nachdem er mit unendlicher Verachtung diese boshafte Bemerkung gemacht hatte, zog der alte Gruff und Tackleton ab.
Bertha blieb an derselben Stelle, wo er sie gelassen hatte, stehen, ganz in trauriges Sinnen verloren. Die Fröhlichkeit war von ihrem gesenkten Antlitz verschwunden; eine tiefe Traurigkeit lag auf demselben. Drei- oder viermal schüttelte sie den Kopf, als traure sie über eine Erinnerung oder einen Verlust; aber ihr schmerzliches Nachdenken fand keine Worte, um sich Luft zu machen.
Kaleb war seit einiger Zeit damit beschäftigt, ein Gespann Pferde vor einem Wagen zu befestigen, indem er durch ein höchst summarisches Verfahren das Geschirr an die edlen Teile ihrer Körper festnagelte; er war gerade fertig, als seine Tochter sich seinem Arbeitsstuhl näherte, sich neben ihn setzte und sagte:
»Vater, ich bin ganz allein in der Finsternis. Ich bedarf meiner Augen, meiner geduldigen, immer willigen Augen.«
»Hier sind sie«, sagte Kaleb. »Immer bereit. Sie gehören mehr dir als mir, in jedem Augenblick während der vierundzwanzig Stunden des Tages. Was sollen deine Augen für dich tun, mein gutes Kind?«
»Blick' im Zimmer umher, Vater.«
»Gern«, sagte Kaleb. »Gesagt, getan, Bertha.«
»Beschreib es mir.«
»Es ist genau so wie immer«, versetzte Kaleb. »Einfach aber sehr behaglich. An den Wänden die lebhaften Farben; auf Schüsseln und Tellern die glänzenden Blumen, das Holz poliert und glänzend überall, wo Balken und Getäfele sind, die allgemeine Heiterkeit und Sauberkeit der Wohnung machen es wirklich sehr hübsch.«
Wirklich war es heiter und sauber überall, wo Berthas Hände geschäftig sein konnten. Aber sonst gab es nirgends Heiterkeit und Sauberkeit in der alten verfallenen Hütte, die Kalebs Phantasie so zu verwandeln wußte.
»Du hast deinen Arbeitsrock an und bist nicht so elegant gekleidet, als wenn du deinen schönen Überzieher trägst?« fragte Bertha, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Nicht ganz so elegant«, antwortete Kaleb. »Aber doch auch ganz hübsch.«
»Vater«, sagte das blinde Mädchen, indem sie sich ihm näherte und unvermerkt einen Arm um seinen Hals legte, »erzähle mir etwas von May. Ist sie sehr schön?«
»Das ist sie in der Tat«, sagte Kaleb.
Und das war wirklich der Fall. Es war nur selten, daß Kaleb nicht zu seiner Phantasie die Zuflucht nehmen mußte.
»Ihr Haar ist dunkel«, sagte Bertha nachdenklich; »dunkler als meines. Ihre Stimme ist süß und melodisch, das weiß ich. Ich habe sie oft und gern gehört. Ihre Gestalt ...«
»Im ganzen Zimmer ist keine Puppe, die mit ihr verglichen werden könnte«, sagte Kaleb. »Und ihre Augen ...!«
Er hielt inne; denn Bertha hatte ihn noch fester umschlungen, und von dem Arm, der ihn umgab, kam ein warnendes Zucken, das er nur allzugut verstand.
Er hüstelte einen Augenblick, hämmerte einen Augenblick und kam dann wieder auf das Lied von dem schäumenden Becher zurück – sein unfehlbares Hilfsmittel in allen Schwierigkeiten dieser Art.
»Unser Freund, Vater, unser Wohltäter. Du weißt, ich werde nie müde von ihm zu hören, – oder ward ich's je?« setzte sie hastig hinzu.
»Nein, gewiß nicht«, antwortete Kaleb; »und mit Recht.«
»O, wie sehr mit Recht!« rief das blinde Mädchen mit solcher Begeisterung, daß Kaleb trotz der Reinheit seiner Absichten es nicht wagte, ihr ins Gesicht zu blicken, sondern die Augen zu Boden senkte, als hätte sie in denselben seine unschuldigen Lügen lesen können.
»Dann erzähl' mir wieder von ihm, lieber Vater«, sagte Bertha. »Noch recht oft! Sein Gesicht ist wohlwollend, freundlich und liebevoll, aufrichtig und wahr, das weiß ich gewiß. Das männliche Herz, das all seine Wohltaten unter einer rauhen und widerwilligen Schale zu verbergen sucht, verrät sich in jedem seiner Züge.«
»Und veredelt sie«, setzte Kaleb in seiner stillen Verzweiflung hinzu.
»Und veredelt sie!« rief das blinde Mädchen. »Er ist älter als May.«
»Ja-a«, sagte Kaleb zögernd. »Er ist ein wenig älter als May. Aber das hat gar nichts zu sagen.«
»O doch, Vater! Seine geduldige Gefährtin in Gebrechlichkeit und Alter, seine sanfte Wärterin in Krankheiten, und seine treue Freundin in Kummer und Sorgen zu sein, keine Ermüdung zu kennen in der Arbeit für ihn, bei ihm zu wachen, ihn zu pflegen, an seinem Bett zu sitzen und mit ihm zu reden, wenn er wach ist, und für ihn zu beten, wenn er schläft welch großes Vorrecht würde das für seine Frau sein! Wie oft kann sie ihm alle ihre Treue und Ergebenheit beweisen! Und glaubst du, lieber Vater, daß sie dies alles tun wird?«
»Ohne Zweifel«, sagte Kaleb.
»Dann liebe ich sie, Vater; ich liebe sie von ganzem Herzen!« rief das blinde Mädchen.
Und mit diesen Worten legte sie ihr armes blindes Antlitz auf Kalebs Schulter und weinte so bitterlich, daß es ihn fast gereute, sie in ein so tränenvolles Glück versetzt zu haben.
Um dieselbe Zeit hatte es bei John Peerybingle viel Trubel gegeben. Denn die kleine Mrs. Peerybingle konnte natürlich nicht daran denken, irgendwohin zugehen ohne das Baby, und das Wickelkind flottmachen erforderte Zeit. Nicht, daß das Baby viel zu schaffen gemacht hätte hinsichtlich des Gewichtes und des Umfanges, aber es gab unendlich viel daran zu tun, und das alles mußte vorsichtig und langsam gemacht werden. Zum Beispiel wenn das kleine Kind endlich mit Ach und Weh so weit mit seiner Toilette fertig war, und man vernünftigerweise hätte voraussetzen können, im Handumdrehen werde es fix und fertig auf und in ein solches Prachtexemplar von einem Wickelkind verwandelt sein, daß es kühn die ganze Welt hätte herausfordern können, ob je eins schöner war, so wurde es ganz plötzlich in ein Flanellmützchen versteckt und zu Bett gebracht, wo es zwischen zwei Decken nahezu eine Stunde lang schmorte, wenn ich mich so ausdrücken darf. Aus diesem Zustande der Untätigkeit wurde es dann, rot wie ein Krebs und indem es laut schrie, wieder herausgerissen, um teilzunehmen an – na, ich möchte sagen, wenn ihr mir erlauben wollt, mich so allgemein auszudrücken – an einer kleinen Mahlzeit. Alsdann ging es wieder schlafen. Mrs. Peerybingle nahm dies Intermezzo wahr, um sich in ihrer Weise so schmuck herauszuputzen, wie ihr es euch nur vorstellen könnt; und während desselben kurzen Waffenstillstandes arbeitete Fräulein Tolpatsch in einem Gewand von so überraschender und sinnreicher Form, daß es weder zu ihr, noch überhaupt zu irgendeinem Menschenkinde in irgendeiner Beziehung stand; es war ein so zusammengeschrumpftes, hundsohrenartig herabhängendes Etwas, das seinen einsamen Gang ohne die mindeste Rücksicht auf seine Trägerin ging. Jetzt wurde das Baby, das bereits wieder wach geworden war, durch die vereinten Bemühungen von Mrs. Peerybingle und Tilly mit einem butterfarbigen Mäntelchen und einer pastetenförmigen Nankingmütze fertig angeputzt; und so kamen sie alle drei im Laufe der Zeit an die Tür, wo das alte Pferd sich bereits mehr als vollständig bezahlt gemacht hatte für sein heutiges Wegegeld an dem Schlagbaum, indem es die Straße mit seinen ungeduldigen Hufen aushöhlte, während Boxer in weiter Ferne kaum zu bemerken war, wie er dastand und nach seinem Gefährten zurücksah, als wolle er ihn verführen, nachzukommen, ohne erst weitere Befehle abzuwarten.
Wenn ihr glaubt, daß es eines Stuhls oder eines andern Gegenstandes dieser Art bedurft hätte, um Mrs. Peerybingle in den Wagen zu helfen, so kennt ihr John wirklich sehr schlecht. Ehe ihr ihn hättet sehen können, sie vom Boden aufheben, saß sie schon da auf ihrem Platz, frisch und rot, und sagte:
»Aber John! Wie kannst du nur! Denk doch an Tilly!«
Wenn ich mir irgendwie erlauben dürfte, von den Beinen einer jungen Dame zu reden, so würde ich bezüglich derjenigen des Fräulein Tolpatsch bemerken, daß sie infolge eines eigentümlich fatalen Umstandes beständig in Gefahr schwebten, gestreift zu werden, und daß sie nie den kleinsten Auf- oder Abstieg ausführen konnte, ohne das Ereignis an den Beinen mit einem Kerbstrich zu notieren, gerade wie Robinson Crusoe die Tage in seinen Holzkalender einkerbte. Aber da dies unpassend erscheinen möchte, so will ich es nur in Gedanken tun.
»John«, sagte Dot, »hast du den Korb mit der Kalbs- und Schinkenpastete und den übrigen Sachen und den Bierflaschen auch nicht vergessen? Dann mußt du augenblicklich wieder umkehren und sie holen.«
»Du bist mir eine nette Person«, versetzte der Fuhrmann, »mir von einer Umkehr zu reden, nachdem du schuld bist, daß wir eine gute Viertelstunde zu spät kommen.«
»Das tut mir leid, John«, sagte Dot sehr verwirrt, »aber ich möchte wirklich nicht daran denken zu Bertha zu gehen ... ich würde es unter keinen Umständen tun, John ... ohne die Kalbs- und Schinkenpastete und die andern Sachen und die Bierflaschen ... Hü!«.
Dies einsilbige Wörtchen galt dem Pferde, das ihm aber nicht die geringste Beachtung schenkte.
»So sag' du doch ›Hü‹, John!« sagte Mrs. Peerybingle. »Ich bitte dich drum, John!«
»Da werden wir noch Zeit genug zu haben«, versetzte John, »wenn ich einmal was vergessen habe. Hier ist der Korb sicher genug.«
»Was für ein hartherziges Ungeheuer bist du doch, John, daß du mir das nicht gleich gesagt und mir einen solchen Schrecken nicht erspart hast! Ich erkläre, daß ich um alles in der Welt ohne die Kalbs- und Schinkenpastete und die andern Sachen und die Bierflaschen nicht zu Bertha gegangen wäre. Regelmäßig alle vierzehn Tage seit unserer Heirat, John, haben wir dort unser kleines Picknick gehalten. Wenn einmal bei diesem kleinen Fest etwas verkehrt wäre, so würde ich fast glauben, wir könnten nie wieder ganz glücklich sein.«
»Es war gleich ein schöner Gedanke«, sagte der Fuhrmann; »ich habe daher allen Respekt vor dir, Frauchen.«
»Mein lieber John«, versetzte Dot, über und über errötend, »rede doch nicht von Respekt vor mir! Du lieber Gott!«
»Beiläufig ...« bemerkte der Fuhrmann. »Jener alte Herr ...«
Neue Verlegenheit Dots, und zwar eine sehr auffällige.
»Er ist ein komischer Kauz«, sagte der Fuhrmann, grade vor sich hin die Straße entlang blickend. »Ich kann nicht klug aus ihm werden. Ich will jedoch hoffen, daß man nichts von ihm zu fürchten hat.«
»O durchaus nicht. Ich ... ich bin überzeugt ... durchaus nicht.«
»Nein«, sagte der Fuhrmann, dessen Augen sich infolge ihres großen Ernstes auf ihr Antlitz geheftet hatten. »Es freut mich, daß du in der Sache so sicher bist, denn das ist eine Bestätigung für mich. Aber es ist doch seltsam, daß es ihm in den Kopf kam, uns um ein Nachtlager zu bitten, nicht wahr? Es geschehen oft wunderliche Dinge in der Welt!«
»Ja, sehr wunderliche«, bestätigte sie mit leiser, kaum vernehmlicher Stimme.
»Bei alledem ist er ein gutmütiger alter Herr«, fuhr John fort, »und er zahlt auch anständig wie ein Herr, und so glaube ich auch, daß man sich auf sein Wort verlassen kann wie auf das eines Ehrenmannes. Ich hatte heute morgen eine ganz lange Unterredung mit ihm: er kann mich bereits besser verstehen, sagt er, da er sich mehr an meine Stimme gewöhnt hat. Er hat mir sehr viel von sich erzählt, und ich habe ihm viel von mir gesprochen, und er fragte mich nach einer Unmenge von Dingen. Ich teilte ihm mit, daß ich in meinem Geschäft zwei Touren zu machen hätte; an dem einen Tage rechts von unserm Hause aus und wieder zurück, an dem andern links von unserm Hause aus und wieder zurück – denn er ist ein Fremder hierzulande und kennt nicht die Namen der Plätze hier herum; – und das schien ihm viel Vergnügen zu machen. ›Na‹ sagte er, ›dann kehre ich ja heut' abend denselben Weg nach Hause zurück, während ich doch glaubte, Ihr würdet in ganz entgegengesetzter Richtung zurückkommen. Das ist ja ganz schön! Ich werde Euch da vielleicht noch einmal um einen Platz in Eurem Wagen bitten, aber ich verspreche Euch, nicht wieder so einzuschlafen.‹ In der Tat, er schlief sehr fest! ... Dot, woran denkst du?«
»Woran ich denke, John? Ich ... hörte dir zu.«
»Ah so! Gut, gut«, sagte der ehrliche Fuhrmann. »Nach deinen zerstreuten Blicken zu urteilen, fürchtete ich schon, ich hätte so lange geschwatzt, daß du schließlich an ganz andere Dinge gedacht hättest. Ganz gewiß, ich war sehr nahe daran.«
Da Dot nicht antwortete, trotteten sie eine Zeitlang schweigend dahin. Aber es war nicht leicht, in John Peerybingles Wagen lange still zu sein; denn alle, denen man begegnete, hatten ihm etwas zu sagen, und war es auch weiter nichts als ein »Wie geht's?« Und wirklich, sehr oft war es weiter nichts. Indes, um ihnen in dem richtigen Geiste der Herzlichkeit ihren Gruß zurückzugeben, war nicht nur ein Kopfnicken und Lächeln nötig, sondern es war auch eine ebenso heilsame Lungenübung, wie es eine langatmige Parlamentsrede ist. Bisweilen gingen Reisende zu Fuß oder zu Pferde eine kleine Strecke neben dem Wagen her, einzig zu dem Zweck, ein wenig zu plaudern; und dann gab es von beiden Seiten gar mancherlei zu sagen.
Sodann gab Boxer Gelegenheit zu mehr freundschaftlichen Erkennungsszenen, als ein halb Dutzend Christenmenschen es gekonnt hätten. Alle Welt kannte ihn längs des Weges – besonders die Hühner und Schweine, die, wenn sie ihn herankommen sahen mit seinem windschiefen Körper und die Ohren zum Horchen gespitzt und indem er sich sehr wichtig machte mit dem aufgerichteten Schwanzrest, sich sofort in die entferntesten Ecken ihres Quartiers zurückzogen, ohne die Ehre einer näheren Bekanntschaft abzuwarten. Boxer hatte überall etwas zu tun; er ging in alle Querstraßen, blickte in alle Brunnen, stürzte in alle Hütten, trabte in alle Mädchenschulen hinein, scheuchte alle Tauben auf, bewirkte, daß sich sämtliche Katzenschwänze steil aufrichteten, und lief wie ein Stammgast in alle Schenken hinein. Wo immer er erschien, hörte man jemand rufen: »Holla, da ist Boxer!« Und heraus kam sofort dieser Jemand, begleitet von mindestens zwei oder drei andern Jemands, um John Peerybingle und seinem hübschen Weibchen guten Tag zu sagen.
Die großen Ballen und die kleinen Pakete für den Botenwagen waren sehr zahlreich, und dies nötigte sie, häufig haltzumachen, um sie in Empfang zu nehmen oder sie abzuliefern; und diese Unterbrechungen bildeten keineswegs den am wenigsten angenehmen Teil der Reise. Manche Leute erwarteten ihre Pakete mit solcher Ungeduld, und andere waren sehr erstaunt, überhaupt welche zu bekommen, und wieder andere waren unerschöpflich, Anweisungen für die ihrigen zu geben, und John nahm ein so lebhaftes Interesse an den Paketen, daß es fast wie in der Komödie war. Und dann waren da Gegenstände, die John nicht mit gutem Gewissen annehmen konnte, ohne vorher alles genau zu überlegen und mit den Absendern alles zu besprechen, und da fanden denn zwischen diesen und dem Fuhrmann lange Beratungen statt. – Beratungen, denen Boxer in der Regel beiwohnte, und zwar durch kurze Anfälle sehr ernster Aufmerksamkeit und besonders durch lange Anfälle von Narrheit, während denen er wie toll um die versammelten Weisen herumsprang und bis zum Heiserwerden bellte. Dot, die unbeweglich auf ihrem Platz im Wagen saß, amüsierte sich über all diese kleinen Zwischenfälle, deren aufmerksame Zuschauerin sie war; und wie sie so dasaß und um sich schaute – ein reizendes kleines Bild, wundervoll eingerahmt von den Rahmen der Wagendecke –, da fehlte es nicht an Rippenstößen und Blicken und neidischem Flüstern unter dem jüngeren Volk, das versichere ich euch. Und den glücklichen Fuhrmann John entzückte das alles außerordentlich; denn er war stolz darauf, sein kleines Weibchen bewundert zu sehen, da er ja wußte, daß sie sich nichts daraus machte – wenn sie auch vielleicht gerade keinen Widerwillen davor hatte.
Die kleine Reise ging in dem Januarwetter allerdings nicht ohne ein wenig Nebel vonstatten; denn es war rauh und kalt. Aber wer kehrte sich an solche Kleinigkeiten? Dot sicherlich nicht. Auch Tilly nicht; denn für sie war das Fahren, gleichviel unter welchen Umständen, der Gipfel menschlichen Glücks, die Krone irdischer Hoffnungen. Auch das Wickelkind nicht, auf mein Wort, denn es liegt nicht in der Natur eines Wickelkindes, wärmer und fester zu schlafen, obgleich seine Befähigung in beiden Beziehungen sehr groß ist, als es bei diesem glücklichen jungen Peerybingle während des ganzen Weges der Fall war.
Man konnte freilich in dem Nebel nicht weit vor sich sehen, aber doch immerhin viel, sehr viel! Es ist erstaunlich, wieviel man selbst in einem dickeren Nebel als diesem sehen kann, wenn man sich nur die Mühe nehmen will, um sich zu blicken. Ja, selbst wenn man von seinem Platze aus nur die Elfenringe auf den Feldern und die bereiften Stellen, die noch im Schatten neben Hecken und Bäumen geblieben sind, beobachtete, so war das schon eine angenehme Beschäftigung – nicht zu reden von den überraschenden Gestalten, als welche die Bäume sich plötzlich darstellten, indem sie sich aus dem Nebel loslösten und bevor sie wieder in denselben hineinglitten. Die Hecken waren kahl und nackt und ließen viele verwelkte Kränze im Winde flattern; aber es lag nichts Trübseliges in diesem Anblick. Es war im Gegenteil ein angenehmes Schauspiel; denn es machte den Herd, den man daheim hatte, wärmer und den Sommer, den man erwartete, grüner. Der Fluß sah eisig aus, aber er war in Bewegung, und zwar in kräftiger Bewegung – und das will schon etwas heißen. Der Kanal war ein wenig langsam und müde, das läßt sich nicht leugnen. Aber was tut's, er mußte um so rascher zufrieren, wenn ordentliche Kälte eintrat, und dann konnte man Schlitten fahren und Schlittschuh laufen, und die schwerfälligen, alten Kähne, die irgendwo in der Nähe der Werft eingefroren waren, rauchten dann den ganzen Tag ihre verrosteten, eisernen Schornsteinpfeifen und machten sich einen guten Tag.
An einer Stelle da drüben brannte ein großer Haufen Unkraut oder Stoppeln. Und sie sahen dem Feuer zu, wie es am Tage so weiß durch den Nebel schimmerte und nur hin und wieder einen roten Strahl aufzucken ließ, bis Tilly Tolpatsch infolge der Wahrnehmung, daß der Rauch ihr in die Nase steige, zu ersticken anfing – was sie freilich bei der geringsten Veranlassung konnte – und das Kind weckte, das nun nicht wieder einschlafen wollte. Aber Boxer, der wohl fünf Minuten voraus war, hatte schon die ersten Häuser der Stadt hinter sich und die Ecke der Straße erreicht, wo Kaleb mit seiner Tochter wohnte; und lange bevor sie das Haus erreichten, standen er und das blinde Mädchen auf dem Trottoir, um sie zu empfangen.
Boxer machte, nebenbei gesagt, gewisse zarte Unterscheidungen in seinem Verkehr mit Bertha, und ich bin daher vollständig überzeugt, daß er wußte, daß sie blind war. Er suchte nie ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er sie anblickte, wie er es oft andern Leuten gegenüber tat, sondern stieß sie dann jedesmal leise an. Welche Erfahrungen er bei blinden Menschen oder blinden Hunden gesammelt haben konnte, weiß ich nicht. Er hatte nie einen blinden Herrn gehabt, auch waren, soviel mir bekannt geworden, weder Herr Boxer Vater noch Frau Boxer noch irgendein anderes Mitglied seiner ehrenwerten Familie, sei es von väterlicher, sei es von mütterlicher Seite, jemals von Blindheit heimgesucht worden. Vielleicht hatte er's selbst herausgefunden; jedenfalls verstand er sich auf den Verkehr mit Blinden, und darum hielt er auch Bertha am Rock fest, und zwar so lange, bis Mrs. Peerybingle und das Wickelkind und Tilly und der Korb samt und sonders im Hause in Sicherheit waren.
May Fielding war bereits da; ebenso ihre Mutter – eine kleine, zänkische Person, eine alte Dame mit mürrischem Gesicht – die, weil sie sich eine Taille wie ein Bettpfosten bewahrt hatte, für eine Frau von höchst vornehmen Manieren galt, und die, weil sie früher in besseren Verhältnissen gewesen oder doch an der Vorstellung litt, sie hätte in besseren Verhältnissen gewesen sein können, wenn ein gewisses Etwas sich ereignet hätte, das sich aber nie ereignete und niemals besondere Aussicht gehabt zu haben schien, sich jemals zu ereignen – was übrigens ganz dasselbe ist –, sehr vornehm und herablassend tat. Gruff und Tackleton waren ebenfalls da und spielten den Schwerenöter mit der Miene eines Menschen, der sich so vollständig zu Hause und so unbestreitbar in seinem Element fühlt, wie ein frischer, junger Lachs oben auf der großen Pyramide.
»May! Meine liebe, teure Freundin!« rief Dot, ihr entgegeneilend. »Welch ein Glück, dich wiederzusehen!«
Ihre liebe, teure Freundin war ganz ebenso entzückt und erfreut wie sie, und es war, ihr könnt mir's glauben, ein ganz reizender Anblick, wie sie sich umarmten.
Tackleton war ein Mann von Geschmack, daran ist gar nicht zu zweifeln: May war sehr schön.
Ihr wißt, wenn ihr an ein schönes Gesicht gewöhnt seid und es sich zufällig neben einem andern schönen Gesicht befindet, so scheint es bisweilen bei dem ersten Vergleich gewöhnlich und alltäglich und die hohe Meinung kaum zu verdienen, die ihr von ihm gehabt habt. Nun, das war hier gar nicht der Fall, weder bei Dot noch May; denn Mays Gesicht ließ dasjenige Dots schöner erscheinen und Dots Gesicht hob dasjenige Mays hervor, und zwar in so natürlicher und angenehmer Weise, daß, wie John Peerybingle sehr nahe daran war zu sagen, als er ins Zimmer trat, sie geborene Schwestern hätten sein können. – Und das wäre die einzige Verbesserung gewesen, die hätte ersonnen werden können.
Tackleton hatte seine Hammelkeule gebracht und außerdem noch, fast unglaublich zu sagen, eine Torte – aber wir gestatten uns schon eine kleine Verschwendung, wenn unsere Bräute mit dabei im Spiel sind: wir heiraten ja nicht alle Tage! –, und zu diesen Leckerbissen kamen die Kalbs- und Schinkenpasteten und die andern »Dingerchen«, wie Mrs. Peerybingle sie nannte, das heißt Nüsse, Orangen und Kuchen und derlei Kleinigkeiten. Als das Mahl aufgetragen war, gemeinsam mit Kalebs Beiträgen, die in einer großen Holzschüssel voll dampfender Kartoffeln bestanden – es war ihm kraft eines feierlichen Vertrags verboten, andere Lebensmittel zu liefern –, führte Tackleton seine zukünftige Schwiegermutter auf den Ehrenplatz. Um sich bei dem hohen Feste dieses Platzes würdiger zu zeigen, hatte sich die majestätische alte Seele mit einer Haube geschmückt, die darauf berechnet war, selbst die Gleichgültigsten mit Gefühlen der Ehrfurcht zu erfüllen. Auch hatte sie Handschuhe an. Sie muß vornehm sein – sonst lieber sterben!
Kaleb saß neben seiner Tochter, Dot neben ihrer alten Schulgenossin, der gute Fuhrmann nahm von dem untern Ende des Tisches Besitz. Fräulein Tolpatsch wurde zunächst von jedem Stück Möbel entfernt, ausgenommen der Stuhl, auf dem sie saß, damit sie keinen andern Gegenstand in der Nähe hätte, an den sie den Kopf des Kindes stoßen könnte.
Wie Tilly die Puppen und Spielsachen um sich her anstarrte, so starrten diese ihrerseits sie und die Gesellschaft wieder an. Die ehrwürdigen alten Herren vor den Haustüren – alle in voller Tätigkeit – zeigten ein ganz besonderes Interesse an diesem kleinen Fest; bisweilen warteten sie ein wenig, bevor sie sprangen, als wenn sie der Unterhaltung lauschten, und sprangen dann wieder, ich weiß nicht wie oft, wild darauf los, ohne sich nur Zeit zum Atemholen zu lassen – als wenn diese unaufhörlichen Bocksprünge ihnen ein unendliches Vergnügen machten.
Wirklich, wenn diese alten Herren es darauf abgesehen hatten, bei der Betrachtung von Tackletons Unbehagen eine boshafte Freude zu empfinden, so hatten sie allen Grund, zufrieden zu sein.
Tackleton konnte gar nicht in Stimmung kommen; und je heiterer seine Verlobte in Dots Gesellschaft wurde, um so weniger Freude empfand er darüber, obgleich er sie zu diesem Zweck zusammengebracht hatte. Denn er war ein neidischer, mißgünstiger Mensch, dieser Tackleton; und wenn sie lachten, ohne daß er wußte warum, so setzte er sich's sofort in den Kopf, sie lachten über ihn.
»Ach May!« sagte Dot. »Du lieber Gott, wie sich alles geändert hat! Es macht einen ordentlich wieder jung, wenn man so von den glücklichen Schultagen plaudern kann.«
»Na, so besonders alt seid ihr denn doch noch nicht, scheint mir«, sagte Tackleton.
»Seht nur, wie gesetzt und würdevoll mein Ehemann da ist«, versetzte Dot. »Er hat meinem Alter wenigstens zwanzig Jahre zugelegt. Nicht wahr, John?«
»Vierzig«, erwiderte John.
»Und wieviel Ihr Mays Alter zulegen werdet, daß weiß ich wahrhaftig nicht«, sagte Dot lachend. »Aber sie wird an ihrem nächsten Geburtstage nicht viel weniger als hundert Jahre alt sein.«
»Ha ha!« lachte Tackleton. Aber es klang hohl wie aus einer Trommel. Und dabei warf er einen Blick auf Dot, als hätte er ihr mit der größten Behaglichkeit den Hals umdrehen können.
»Du lieber Gott«, sagte Dot, »wenn ich noch daran denke, wie wir in der Schule von den Männern redeten, die wir uns wählen wollten. Ich weiß nicht mehr, wie jung und wie hübsch und wie vergnügt und wie liebenswürdig der meine sein sollte! Und was Mays Zukünftigen betraf ...! Gott, ich weiß nicht, soll ich lachen oder weinen, wenn ich daran denke, wie albern wir als Mädchen waren.«
May schien zu wissen, was sie tun sollte; denn ihre Wangen färbten sich mit einem lebhaften Rot, und die Tränen standen ihr in den Augen.
»Und sogar auf Personen – auf wirkliche junge Männer von Fleisch und Blut – richteten wir zuweilen unsere Gedanken«, fuhr Dot fort. »Wie wenig dachten wir daran, wie sehr sich alles ändern würde. Ich hatte nicht im entferntesten an John gedacht, das ist gewiß; auch nicht im entferntesten hatte ich an ihn gedacht. Und wenn ich dir damals gesagt hätte, du würdest noch einmal Herrn Tackleton heiraten, so hättest du mir vielleicht eine Backpfeife verabreicht! Nicht wahr, May?«
Obgleich May nicht ja sagte, so sagte sie sicherlich auch nicht nein, noch deutete sie es irgendwie an.
Tackleton lachte – ja er schrie förmlich, so laut lachte er. John Peerybingle lachte ebenfalls, aber in seiner gewöhnlichen gutmütigen und zufriedenen Weise, sein Lachen war ein Flüstern im Vergleich zu dem von Tackleton.
»Und trotzdem«, sagte dieser, »habt ihr nicht anders können. Ihr konntet uns nicht widerstehen, seht ihr! Da habt ihr uns nun! Wo sind nun eure vergnügten, liebenswerten, jungen Bräutigame?«
»Einige von ihnen sind tot«, entgegnete Dot, »und andere vergessen. Wenn jetzt einer von ihnen in diesem Augenblick in unserer Mitte erschiene, er würde gar nicht glauben, daß wir dieselben Geschöpfe sind; nicht glauben, daß das, was er sähe und hörte, Wirklichkeit sei und daß wir sie so hätten vergessen können. Nein, nichts würden sie davon glauben!«
»Aber Dot!« rief der Fuhrmann. »Kleine Frau!«
Sie hatte mit solcher Lebhaftigkeit und solchem Feuer gesprochen, daß sie ohne Zweifel zu sich selbst zurückgerufen werden mußte. Die Unterbrechung ihres Mannes geschah sehr sanft, denn er mischte sich nur ein, wie er glaubte, um den alten Tackleton zu schützen; aber er erreichte seinen Zweck, denn sie schwieg und sagte kein Wort weiter. Doch lag selbst in ihrem Schweigen eine ungewöhnliche Aufregung, wie der schlaue Tackleton, der sein halb geschlossenes Auge auf sie gerichtet hielt, sehr wohl merkte, um sich bei guter Gelegenheit daran zu erinnern.
May sagte kein Wort, weder ein gutes noch ein böses, sie saß da ganz still, die Augen niedergeschlagen, und legte durch kein Zeichen irgendwelches Interesse an dem, was gesprochen worden war, an den Tag. Aber die gute Dame, ihre Mutter, mischte sich jetzt hinein, indem sie erstlich bemerkte, Mädchen seien Mädchen, und was geschehen sei, sei geschehen, und solange junge Leute jung und leichtsinnig seien, würden sie sich wahrscheinlich auch wie junge, leichtsinnige Leute betragen. Nachdem sie zweitens und drittens noch einige andere Behauptungen von nicht weniger tiefer und unumstößlicher Weisheit aufgestellt hatte, machte sie dann mit frommer Miene die Bemerkung, sie danke dem Himmel, daß sie allzeit in ihrer Tochter May ein pflichtgetreues und gehorsames Kind gefunden habe, was sie sich nicht als Verdienst anrechne, obgleich sie allen Grund habe zu glauben, daß sie es nur ganz sich selbst zu verdanken habe. Was Herrn Tackleton betreffe, so sagte sie, vom moralischen Gesichtspunkte sei er ein unleugbares Individuum und vom Gesichtspunkt einer Heirat aus ein durchaus wünschenswerter Schwiegersohn, das könne kein vernünftiger Mensch bezweifeln. (Hier wurde sie sehr emphatisch.) Was die Familie angehe, in die er nach einigem Werben aufgenommen worden sei, so glaube sie, es sei Herrn Tackleton nicht unbekannt, daß dieselbe, obgleich den Reichtum betreffend ein wenig zurückgekommen, immerhin Ansprüche auf vornehmen Stand habe: und wenn gewisse Umstände, die dem Indigohandel nicht ganz fern lägen – denn sie wolle den Ursprung des Übels nur andeuten, ohne sich jedoch in die Einzelheiten der Frage einzulassen –, ganz anders gekommen wären, so hätte die Familie vielleicht ein ansehnliches Vermögen besessen.
Dann bemerkte sie, von der Vergangenheit wolle sie nicht sprechen und nicht daran erinnern, daß ihre Tochter eine Zeitlang die Anträge des Herrn Tackleton zurückgewiesen und daß sie noch eine große Anzahl anderer Dinge unberührt lassen wolle, was sie aber dennoch in aller Ausführlichkeit tat. Endlich behauptete sie als das Ergebnis ihrer Beobachtung und Erfahrung, daß diejenigen Ehen, in denen es sich am wenigsten um das handle, was man romantischer- und törichterweise Liebe nenne, stets die glücklichsten seien; und daß sie darum bei demjenigen Paar, dessen Hochzeit bevorstehe, die größtmögliche Summe von Glück voraussehe – nicht jenes verzückte Glück, sondern den soliden, gangbaren Artikel. Sie schloß damit, daß sie der Gesellschaft mitteilte, morgen sei der Tag, für den sie ausschließlich gelebt habe, und daß, wenn er vorüber, sie nichts weiter wünsche, als eingepackt und an irgendeinem netten Kirchhofsplätzchen untergebracht zu werden.
Da auf diese Bemerkungen gar nichts zu antworten war – das glückliche Vorrecht aller Bemerkungen, die sich möglichst weit von der Sache halten –, so änderte man den Lauf der Unterhaltung und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Kalbs- und Schinkenpastete, die Hammelkeule, die Kartoffeln und die Torte. Damit die Bierflaschen nicht vernachlässigt wurden, brachte John Peerybingle auf den morgigen Tag, den Hochzeitstag, einen Toast aus und forderte alle auf, ein volles Glas darauf zu leeren, bevor er seine Fahrt fortsetze.
Denn ihr müßt wissen, daß er hier nur haltgemacht hatte, um sein altes Pferd zu füttern. Er hatte noch etwa eine Stunde weit zu fahren, und wenn er abends zurückkam, so holte er Dot ab und machte noch einmal halt, bevor er heimkehrte. Dies war die Tagesordnung bei allen Picknicks, und sie war seit Einrichtung derselben immer getreulich beobachtet worden.
Es waren außer Braut und Bräutigam noch zwei Personen zugegen, die dem Trinkspruch kaum Ehre erwiesen. Die eine war Dot, die zu sehr erregt und beunruhigt war, um an den kleinen Zwischenfällen des Festes teilzunehmen, die andere Bertha, die hastig vor den andern aufstand und den Tisch verließ.
»Auf Wiedersehen!« sagte der robuste John Peerybingle, seinen allem trotzenden Flausrock anziehend. »Zur gewöhnlichen Zeit werde ich wieder hier sein. Laßt es euch allen inzwischen gut gehen!«
»Auf Wiedersehen, John!« antwortete Kaleb.
Er sagte das mechanisch, und auch mit der Hand winkte er nur gleichsam unbewußt; denn er beobachtete Bertha mit einem ängstlich staunenden Gesicht, das seinen Ausdruck kaum änderte.
»Adieu, kleines Bürschchen!« sagte der lustige Fuhrmann, indem er sich herabneigte, um das Kind zu küssen, das Tilly, jetzt ausschließlich mit Messer und Gabel beschäftigt, schlafend – und ausnahmsweise ohne Schaden! – in ein kleines, von Bertha möbliertes Häuschen gelegt hatte. »Adieu! Hoffentlich kommt einmal die Zeit, wo du, mein kleiner Freund, hinausziehst in Wind und Wetter, um deinen alten Vater hinter dem Ofen seine Pfeife rauchen und seinen Rheumatismus pflegen zu lassen, he? Wo ist Dot?«
»Hier bin ich, John!« sagte sie, indem sie erschrak.
»Weiter, weiter!« erwiderte der Fuhrmann, indem er kräftig in die Hände schlug. »Wo ist die Pfeife?«
»Die Pfeife habe ich ganz vergessen, John.«
»Die Pfeife vergessen! Hat man je so etwas erlebt! Sieh! Dot! die Pfeife vergessen!«
»Ich ... ich will sie gleich stopfen. Es ist bald geschehen.«
Es war jedoch nicht so bald geschehen. Sie war an ihrem gewöhnlichen Platze – in des Fuhrmanns Flausrocktasche – neben dem kleinen Tabaksbeutel, einem Werk ihrer Hände, aus dem sie die Pfeife zu stopfen pflegte; aber ihre Hand zitterte so sehr, daß sie nicht hineinkommen konnte (und doch war diese Hand wahrhaftig klein genug, um ohne Mühe herauszukommen), und so stümperte sie bei ihrer Arbeit. Das Stopfen und Anzünden, kurz all die kleinen Dienste, die sie meiner Meinung nach, wie ihr euch erinnern werdet, so vorzüglich verstand, wurden miserabel ausgeführt von Anfang bis zu Ende. Während des ganzen Verfahrens sah Tackleton sie mit dem halbgeschlossenen Auge boshaft an, und dies, wenn es den ihren begegnete – oder es auffing; denn man kann schwerlich sagen, daß es je einem andern Auge begegnete, war es doch vielmehr eine Art Falle, worin andere sich fingen – so vermehrte das ihre Verwirrung in durchaus merkwürdiger Weise.
»Na, was für eine ungeschickte Dot du heute nachmittag bist!« sagte John. »Ich glaube wahrhaftig, ich selber hätt' es besser gemacht!«
Mit diesen gutmütigen Worten schritt er von dannen, und man hörte ihn bald in Gemeinschaft mit Boxer und dem alten Pferd und dem Wagen eine fröhliche Musik die Straße hinunter machen.
Und inzwischen beobachtete Kaleb noch immer seine blinde Tochter mit demselben gedankenvollen Ausdruck in seinem Gesicht. »Bertha«, sagte er sanft. »Was ist geschehen? Wie hast du dich, mein gutes Kind, in ein paar Stunden – seit heute früh – verändert! Den ganzen Tag bist du traurig und still gewesen! Was fehlt dir? Sage es mir!«
»O Vater, Vater!« rief das blinde Mädchen, in Tränen ausbrechend. »O mein hartes, grausames Schicksal!«
Kaleb fuhr sich mit der Hand über die Augen, bevor er antwortete.
»Aber denke doch daran, Bertha, wie fröhlich und glücklich du immer gewesen bist! Wie gut und wie geliebt von so vielen Menschen!«
»Das eben kränkt mich bis in das Herz, lieber Vater! Immer so aufmerksam, immer so freundlich gegen mich!«
Kaleb war viel zu verwirrt, um sie zu verstehen.
»Blind ... blind zu sein, Bertha, mein armes, liebes Kind«, stotterte er, »ist gewiß ein großer Schmerz; indes ...«
»Ich habe das nie empfunden!« rief das blinde Mädchen. »Ich habe das nie empfunden, wenigstens nicht in seiner ganzen Schwere. Nie! Bisweilen habe ich gewünscht, ich könnte dich sehen, oder ihn – nur ein einziges Mal, Vater, nur einen einzigen kleinen Augenblick – damit ich wüßte, was es sei, was ich hier«, – sie legte die Hand auf die Brust – »was ich hier als mein köstlichstes Gut bewahre, damit ich wüßte, ob ich mich auch nicht geirrt habe! Und manchmal (aber da war ich noch ein Kind) hab' ich abends bei meinen Gebeten geweint, wenn ich dachte, daß eure Bilder, wie sie aus meinem Herzen zum Himmel stiegen, keine genaue Ähnlichkeit mit euch haben möchten. Aber ich habe diese Gefühle nicht lange gehabt. Sie sind verschwunden, und ich war wieder ruhig und zufrieden.«
»Und sie werden auch jetzt wieder verschwinden«, sagte Kaleb.
»Aber Vater! O guter, liebster Vater, habe Geduld mit mir, wenn ich schlecht bin!« sagte das blinde Mädchen. »Das ist der Kummer nicht, der mich so niederdrückt!«
Ihr Vater konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihm in die Augen gestiegen waren, in so bewegtem und traurigem Tone sprach sie. Indes verstand er sie noch nicht.
»Bringe sie zu mir«, sagte Bertha. »Ich kann es nicht in meiner Brust verschließen. Hole sie mir, Vater.«
Sie merkte, daß er zauderte, und setzte hinzu:
»May. Hole mir May!«
May hörte ihren Namen nennen, trat still an sie heran und berührte ihren Arm. Das blinde Mädchen wandte sich sofort um und ergriff ihre beiden Hände.
»Schau mir ins Gesicht, liebste, beste Freundin!« sagte Bertha; »lies darin mit deinen schönen Augen und sage mir, ob die Wahrheit darin geschrieben steht.«
»Liebe Bertha, ja!«
Das blinde Mädchen, ihr lichtloses Antlitz emporhebend, über das die Tränen flossen, sagte folgendes zu ihr:
»Kein Wunsch oder Gedanke ist in meiner Seele, der nicht auch deinem Glück gälte, schöne May! Keine dankbare Erinnerung ist tiefer in meine Seele eingegraben als die zahlreichen Beweise von Freundlichkeit, die du, die du stolz sein konntest auf deine hellblickenden Augen und auf deine Schönheit, der armen, blinden Bertha geschenkt hast, selbst damals, als wir beide noch Kinder waren – wenn es für ein blindes Kind überhaupt eine Kindheit geben kann! Alles Glück auf dein Haupt! Möge dein Lebensweg hell und glücklich sein! Und darum nicht weniger, liebe Freundin« – und sie schmiegte sich noch enger an sie und drückte noch fester ihre Hände – »und darum nicht weniger, liebe May, weil die heutige Nachricht, du solltest seine Frau werden, mir fast das Herz gebrochen hat! Vater, May, liebe May, o verzeiht mir, daß es so ist, um alles dessen willen, was er getan hat, um mir das Los meines finstern Lebens zu erleichtern, und um des Vertrauens willen, das er zu mir hat, wenn ich den Himmel zum Zeugen anrufe, daß ich ihm kein Weib wünschen könnte, das seiner Herzensgüte würdiger wäre!«
Während sie sprach, hatte sie May Fieldings Hände losgelassen, um ihre Kleider zu umfassen, in einer halb bittenden, halb zärtlichen Stellung, bis sie, immer tiefer herabgleitend, je weiter sie kam in ihrer seltsamen Beichte, sich endlich zu den Füßen ihrer Freundin niederließ und ihr blindes Antlitz in den Falten ihres Kleides verbarg.
»Großer Gott!« rief ihr Vater, dem plötzlich wie ein Blitz die Wahrheit aufleuchtete, »habe ich sie darum von der Wiege an getäuscht, um ihr schließlich das Herz zu brechen!«
Es war ein Glück für alle, daß Dot, diese strahlende, nützliche, geschäftige, kleine Dot – denn das alles war sie, trotz all' ihrer Fehler, von denen ihr bald genug lernen werdet, sie zu verachten – es war ein Glück für alle, sag' ich, daß sie da war, sonst wäre schwer zu sagen, wie das geendet hätte. Aber Dot, die ihre Geistesgegenwart wiedergewonnen hatte, fiel hier ein, ehe May antworten oder Kaleb noch sonst etwas sagen konnte.
»Komm, komm, liebe Bertha! Komm mit mir! Reich ihr den Arm, May. So! Seht, wie sie sich schon wieder beruhigt hat und wie brav es von ihr ist, zu tun, was wir sagen«, sagte die fröhliche, kleine Frau und küßte sie auf die Stirn. »Komm mit, komm, liebe Bertha! Und ihr guter Vater hier kommt auch mit, nicht wahr, Kaleb? Natürlich!«
Ja, ja, sie war eine herrliche, kleine Dot bei solchen Gelegenheiten, diese Dot, und es hätte schon eine sehr verstockte Natur dazu gehört, ihrem Einfluß zu widerstehen. Als sie den armen Kaleb und seine Bertha hinausgebracht, damit sie einander trösten und ermutigen könnten – sie wußte ja, daß sie dazu nur allein imstande waren! –, eilte sie sofort mit einem Sprunge zurück, frisch wie eine Maiblume, pflegt man zu sagen, ich aber sage: noch weit frischer, um bei dieser vornehmen Person in Mütze und Handschuhen Wache zu halten und zu verhüten, daß das liebe, alte Geschöpf unangenehme Entdeckungen mache.
»Nun bring' mir den köstlichen Jungen, Tilly«, sagte sie, indem sie einen Stuhl ans Feuer zog, »und während ich ihn auf dem Schoß habe, wird Mrs. Fielding hier mir sagen, wie man solche Wickelkinder behandeln muß und mir in zwanzig Dingen, worin ich so ungeschickt wie möglich bin, Rat erteilen. Nicht wahr, Mrs. Fielding?«
Nicht einmal der Walliser Riese, der der volkstümlichen Sage zufolge so schwer von Begriffen war, eine verhängnisvolle chirurgische Operation an seinem eigenen Körper vorzunehmen, um den Streich, den sein Erzfeind beim Frühstück ihm vorgeschwindelt, nachzuahmen, – nicht einmal der fiel halb so schnell in die ihm gelegte Falle, wie die alte Dame in diese kunstvolle Grube. Die Tatsache, daß Tackleton fortgegangen und daß ferner zwei oder drei Personen in einiger Entfernung von ihr miteinander geflüstert und sie sich selbst überlassen hatten, hätte vollständig genügt, sie an ihre verletzte Würde zu erinnern und sie vierundzwanzig Stunden lang den Ausdruck ihres Bedauerns über jene geheimnisvolle Wendung in dem Indigohandel erneuern zu lassen. Aber ein so tiefer Respekt vor ihrer Erfahrung seitens der jungen Mutter war so unwiderstehlich, daß sie, nachdem sie einiges, bescheidene Sträuben vorgetäuscht hatte, anfing, sie mit der gnädigsten Miene von der Welt zu belehren, und, sich aufrecht vor die boshafte kleine Dot setzend, gab sie in einer halben Stunde mehr unfehlbare Hausrezepte und Ratschläge, als nötig gewesen wären, um den jungen Peerybingle in eine andere Welt zu befördern, und wäre er auch ein Simson in der Wiege gewesen.
Um ein wenig abzulenken, nahm Dot ihr Nähzeug zur Hand – wie sie es anfing, weiß ich nicht, aber sie trug immer den Inhalt eines ganzen Arbeitsbeutels in ihrer Tasche –; dann stillte sie ein wenig das Kind; darauf nahm sie wieder ein Weilchen ihre Arbeit zur Hand, worauf sie, während die alte Dame schlummerte, ein kleines Flüsterduett mit May begann. Und so brachte sie, stets in geschäftiger Rührigkeit, wie das so ihre Art war, sehr rasch den Nachmittag hin. Und als es dann dunkel wurde, schürte sie – da es eine der feierlichen Vereinbarungen dieser Picknickeinrichtung war, daß sie an diesem Tage Berthas Haushalt besorge – das Feuer, fegte den Herd, deckte den Teetisch, zog die Vorhänge zusammen und steckte Licht an. Dann spielte sie ein paar Lieder auf einer Art Harfe, die Kaleb für seine Tochter fabriziert hatte; und sie spielte sehr hübsch; denn die Natur hatte ihr zartes, kleines Ohr ebenso vollkommen für Musik ausgebildet, wie für Juwelen, wenn sie welche zu tragen gehabt hätte. Da jetzt die für den Tee angesetzte Zeit gekommen war, erschien auch Tackleton wieder, um an dem Mal teilzunehmen und sich des Abends zu erfreuen.
Kaleb und Bertha waren seit einiger Zeit zurückgekehrt, und Kaleb hatte die unterbrochene Nachmittagsarbeit wieder aufgenommen. Aber er konnte nichts zuwege bringen, der arme Teufel, so voll Angst war er und solche Gewissensbisse empfand er wegen seiner Tochter. Es war rührend, ihn müßig auf seinem Arbeitsschemel sitzen zu sehen, indem er traurig die Blicke auf sie gerichtet hatte und in einem fort für sich hinsagte:
»Habe ich sie denn nur darum von der Wiege an getäuscht, um ihr schließlich das Herz zu brechen?«
Als es ganz dunkel wurde und der Tee eingenommen war und Dot nichts mehr an den Tassen zu waschen hatte, mit einem Wort – denn ich muß es geradeheraus sagen, und es hat keinen Sinn, es hinauszuschieben –, als die Zeit nahte, wo jedes ferne Wagengerassel ihnen ankündete, daß sie die nahe Ankunft des Fuhrmanns zu erwarten hätten, veränderte sich abermals Dots ganzes Wesen. Sie wurde bald rot, bald blaß und war vollständig rastlos. Nicht so, wie gute Frauen sind, wenn sie ihre Männer erwarten. Nein, nein, nein! Es war eine ganz andere Art von Unruhe.
Wagengerassel. Hufklappern. Hundegebell. Allmähliches Näherkommen all dieser Töne. Boxers scharrende Pfote an der Tür!
»Wessen Tritt ist das!« rief Bertha auffahrend.
»Wessen Tritt?« versetzte der Fuhrmann, auf der Schwelle erscheinend, das braune Gesicht von der scharfen Nachtluft gerötet wie eine Winterbeere. »Na, meiner!«
»Der andere Tritt?« sagte Bertha. »Der Männertritt hinter Euch?«
»Sie ist gar nicht zu täuschen«, bemerkte der Fuhrmann lachend. »Spaziert nur herein, Herr. Ihr werdet willkommen sein; seid ohne Sorgen!«
Er sprach das in lautem Ton, und während er sprach, trat der alte, taube Herr ins Zimmer.
»Er ist Euch nicht ganz fremd, Kaleb; Ihr habt ihn schon mal gesehen«, sagte der Fuhrmann. »Wollt Ihr ihm Obdach geben, bis wir gehen?«
»O gewiß, John, ich rechne mir's zur Ehre.«
»Er ist übrigens der beste Gesellschafter, den man sich nur wünschen kann, wenn man sich Geheimnisse zu erzählen hat«, sagte John. »Ich habe anständig gute Lungen, aber er stellt sie auf die Probe, das kann ich Euch versichern. Setzt Euch, Herr. Lauter gute Freunde hier, die sich freuen, Euch zu sehen.«
Nachdem er dem Fremden diese Versicherung mit einer Stimme gegeben, die vollkommen bestätigte, was er von seinen Lungen gesagt, setzte er in seinem natürlichen Tone hinzu:
»Ein Stuhl in der Kaminecke und die Erlaubnis, ganz still dazusitzen und sich vergnügt umzusehen, das ist alles, was er verlangt. Es ist leicht, ihn zufriedenzustellen.«
Bertha hatte aufmerksam zugehört. Sie rief Kaleb zu sich, als er den Stuhl hingestellt hatte, und bat ihn leise, ihr den Fremden zu beschreiben. Als er das getan – und diesmal ganz wahrheitsgemäß, mit gewissenhafter Treue – machte sie eine Bewegung, das erstemal, seit er eingetreten war, seufzte und schien ferner kein Interesse mehr für ihn zu haben.
Der Fuhrmann war in sehr fideler Stimmung, der gute Gesell, und verliebter in seine kleine Frau als je.
»War das aber eine ungeschickte Dot heute nachmittag!« sagte er, indem er seinen starken Arm um sie legte, während sie von den anderen Gästen etwas abseits stand, »und doch hab ich sie gern. Schau mal dorthin, Dot!«
Er zeigte auf den alten Mann. Sie senkte die Augen. Ich glaube sogar, sie zitterte.
»Er ist ... hahaha! ... ist voller Bewunderung für dich!« sagte der Fuhrmann. »Plauderte von nichts anderem, den ganzen Weg entlang. Na, er ist ein braver alter Bursche. Das gefällt mir an ihm!«
»Ich wollte, er hätte sich einen bessern Gegenstand gewählt, John«, sagte sie, einen beunruhigten Blick im Zimmer umherwerfend; er war besonders nach Tackletons Seite gerichtet.
»Einen bessern Gegenstand!« rief John vergnügt. »Den gibt's gar nicht. Nun, weg mit dem Überzieher, fort mit dem Tuche, fort mit den schweren Gamaschen und dann ein gemütliches halbes Stündchen am Feuer! Gehorsamer Diener, Madam. Wollen wir beide eine Partie Piquet machen? Ich stehe zu Diensten. Dot, die Karten und das Brett. Und auch ein Glas Bier, wenn noch was da ist, kleine Frau!«
Seine Aufforderung war an die alte Dame gerichtet, und da sie mit gnädiger Bereitwilligkeit annahm, waren sie bald in das Spiel vertieft. Anfangs blickte der Fuhrmann bisweilen mit einem Lächeln um sich, oder rief von Zeit zu Zeit Dot herbei, daß sie ihm in schwierigen Fällen rate. Da jedoch seine Gegnerin sehr streng auf Disziplin hielt und zudem der Schwäche unterworfen war, gelegentlich mehr zu markieren als sie berechtigt war, so mußte er seinerseits so scharf aufpassen, daß ihm für etwas anderes weder Auge noch Ohr blieb. Allmählich nahmen die Karten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und er dachte an nichts weiter, bis eine Hand auf seiner Schulter ihn daran erinnerte, daß ein Tackleton auf der Welt war.
»Bedaure Euch stören zu müssen – nur auf ein Wort, aber gleich.«
»Ich bin gerade am Geben«, versetzte der Fuhrmann. »Der Augenblick ist kritisch.«
»Das ist er«, sagte Tackleton. »Kommt mal her, mein Lieber!« Es lag ein Ausdruck in seinem bleichen Gesicht, der den andern veranlaßte, sofort aufzustehen und ihn hastig zu fragen, was los wäre.
»Pst! John Peerybingle!« sagte Tackleton. »Es tut mir leid.
Wahrhaftig. Ich hab's befürchtet. Ich hab' ihn gleich vom ersten Augenblick an im Verdacht gehabt.«
»Was ist denn los?« fragte der Fuhrmann mit erschrecktem Gesicht.
»Pst! Das will ich Euch zeigen, wenn Ihr mit mir kommen wollt.«
Der Fuhrmann begleitete ihn, ohne noch ein Wort zu sagen. Sie gingen über einen Hof, wo die Sterne schienen, und traten durch eine kleine Hintertür in Tackletons Bureau, von wo man durch eine Glastür, die des Nachts geschlossen war, in den Laden sehen konnte. Im Bureau war kein Licht, aber es brannten Lampen in dem langen schmalen Warenlager, so daß das Fenster erleuchtet war.
»Einen Augenblick!« sagte Tackleton. »Könnt Ihr durch das Fenster blicken? Glaubt Ihr, Ihr könntet's?«
»Warum nicht?« versetzte der Fuhrmann.
»Noch einen Augenblick«, sagte Tackleton. »Begeht keine Gewalttat. Würde nichts nützen. Ist zudem gefährlich. Ihr seid ein kräftiger Mann und könntet einen Mord begehen, bevor Ihr es selbst wißt.«
Der Fuhrmann sah ihn ins Gesicht und wich einen Schritt zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Mit einem Sprung war er an der Glastür und sah ... O welch ein Schatten auf dem Herde! O treues Heimchen! O treuloses Weib!
Er sah sie mit dem alten Mann – was sag' ich: alt! Keineswegs! Jung und gerade und schön war er, in der Hand die falschen weißen Haare haltend, die ihm Zugang verschafft zu ihrem fortan einsamen und traurigen Herd. Er sah, wie sie ihm lauschte, während er sich zu ihr herabneigte, um ihr ins Ohr zu flüstern; wie sie ihn seine Hand um ihre Taille legen ließ, während sie langsam die dunkle Holzgalerie auf die Tür zugingen, durch die sie eingetreten waren. Er sah sie stehenbleiben, er sah seine Frau sich umwenden – oh, dieses Gesicht sich so gegenüber zu sehen, dieses Gesicht, das er so sehr liebte! ... Und er sah sie mit ihren eigenen Händen ihm die täuschende Perücke auf dem Kopfe zurechtrücken ... und sie lachte, während sie dies tat, lachte ohne Zweifel über die vertrauensvolle, leichtgläubige Natur ihres Mannes!
Anfangs ballte er seine starke Rechte, als wolle er einen Löwen niederschlagen. Aber er öffnete sie sofort wieder und hielt sie vor Tackletons Augen – denn er liebte sie noch, liebte sie selbst noch in diesem Augenblick; und dann, als sie verschwunden waren, sank er auf ein Pult nieder und weinte wie ein kleines Kind ...
Er war schon bis ans Kinn eingehüllt und mit dem Pferde und den Paketen beschäftigt, als Dot wieder in das Zimmer trat, um sich zur Heimfahrt zu rüsten.
»Nun vorwärts, lieber John! ... Gute Nacht, May! Gute Nacht, Bertha!«
Hatte sie noch das Herz, sie zu küssen? Konnte sie beim Abschied noch vergnügt und guter Laune sein? Hatte sie noch die Stirn, ihnen ohne Erröten ins Gesicht zu sehen? Ja, Tackleton beobachtete sie genau – und zu alledem hatte sie den Mut.
Tilly summte das Kindchen in Schlaf, und sie ging immer wieder am Tackleton vorüber, wohl ein dutzendmal, und wiederholte schläfrig:
»Hat denn, daß sie sein Weibchen soll werden, fast ihr gebrochen das Herzchen entzwei? Und hat Väterchen vom Wiegelchen an sie getäuscht, um endlich ihr Herzchen zu brechen?«
»Nun, Tilly, gib mir das Kind. Gute Nacht, Mr. Tackleton. Wo ist John? Gott, wo ist er denn?«
»Er will zu Fuß gehen, vorn neben dem Pferde her«, sagte Tackleton, der ihr auf den Wagen half.
»Aber lieber John, zu Fuß gehen? Bei Nacht!«
Die vermummte Gestalt ihres Mannes machte ein hastiges Zeichen der Bejahung; und als auch der verräterische Fremde und die kleine Wärterin ihre Plätze eingenommen hatten, setzte sich das alte Pferd in Trab, der nichtsahnende Boxer lief voraus, lief wieder zurück, lief immer von neuem um den Wagen und bellte dabei so triumphierend und lustig wie immer.
Als auch Tackleton sich entfernt hatte, um May und ihre Mutter nach Hause zu begleiten, setzte sich der arme Kaleb neben seine Tochter ans Feuer, das Herz zerrissen von Angst und Gewissensbissen, und in einem fort, während er sie traurig ansah flüsterte er vor sich hin:
»Hab' ich sie denn nur darum von der Wiege an getäuscht, um ihr am Ende das Herz zu brechen!«
Die Spielsachen, die man, um das Kindchen zu amüsieren, in Bewegung gesetzt hatte, waren alle längst stehengeblieben und abgelaufen. In dem Dämmerlicht und der Stille machten die Puppen mit ihrer unerschütterlichen Ruhe, die vorhin so wilden Schaukelpferde mit den weit geöffneten Augen und Nüstern; die alten Herren, die, auf ihren Knien und Schenkeln halb zusammengeklappt, an den Straßentüren standen; die Nußknacker mit ihren Grimassen, ja sogar die Tiere, die paarweise in die Arche spazierten, wie wenn eine Pension spazieren geführt wird – sie alle machten ein Gesicht, als wären sie mit phantastischer Unbeweglichkeit geschlagen worden, als sie das doppelte Wunder einer treulosen Dot und eines geliebten Tackleton, unter welchem Zusammentreffen von Umständen auch immer, sahen.


Drittes Zirpen.


Die Schwarzwälder Uhr in der Ecke schlug zehn, als der Fuhrmann sich wieder an seinem Herde niederließ. So verstört und kummervoll, daß er sogar den Kuckuck zu erschrecken schien, der, nachdem er seine zehn melodischen Ankündigungen so kurz wie möglich geschlagen, rasch in den maurischen Palast zurückstürzte und seine kleine Tür hinter sich zuschloß, als könne er es nicht ertragen, dies ungewohnte Schauspiel länger mit anzusehen.
Wäre der kleine Heumäher mit der schärfsten aller Sensen bewaffnet gewesen und hätte er sie bei jedem Schlage dem Fuhrmann ins Herz gestoßen, er hätte es nimmer so grausam zerreißen und verwunden können, wie Dot getan hatte.
Es war ein Herz so voll Liebe zu ihr, so eng und fest vereinigt mit dem ihren durch unzählige Fäden liebevoller Erinnerungen – gesponnen aus ihren Vorzügen, die ebenso zahlreich wie fesselnd, die darauf zielten, es mit jedem Tage fester zu machen –; es war ein Herz, so einfach und so wahr, so stark im Guten, so schwach im Bösen, daß es anfangs weder Zorn noch Rache hegen konnte und nur noch existierte, um darin das zerbrochene Bild seines Abgottes zu bewahren.
Aber allmählich, wie der Fuhrmann nachdenklich an seinem jetzt kalten und finstern Herde saß, begann ein anderer wilderer Gedanke sich seiner Gedanken zu bemächtigen, wie ein böser Sturmwind sich mitten in der Nacht erhebt. Der Fremde befand sich unter seinem entehrten Dache. Drei Schritte führten ihn an seine Tür. Ein einziger Schlag genügte, sie einzustoßen. »Ihr könntet einen Mord begehen, bevor Ihr daran denkt«, hatte Tackleton gesagt. Wie konnte es ein Mord sein, wenn er dem Elenden Gelegenheit gab, mit ihm Brust an Brust zu ringen! War er nicht jünger?
Es war ein schlimmer Gedanke, doppelt schlimm bei der finstern Stimmung seines Gemüts. Es war ein böser Gedanke, der ihn zu einer Rachetat verleiten wollte, die seine fröhliche Behausung in eine jener berüchtigten Höhlen verwandeln würde, vor der einsame Wanderer in der Nacht vorüberzugehen sich fürchten und wo der Furchtsame durch die zerschlagenen Fenster Schatten sehen will, wenn der Mond sich hinter Wolken versteckt und wo man bei stürmischem Wetter wilde Stimmen hören kann.
Er war jünger! Ja, ja, ein Geliebter, der das Herz gewonnen hatte, das nie für »ihn« geschlagen hatte. Irgendein Geliebter aus früherer Zeit, an den sie gedacht und von dem sie geträumt, nach dem sie geschmachtet und geseufzt hatte, während er sich eingebildet hatte, daß sie an seiner Seite glücklich sei! O welche Herzensangst, nur daran zu denken!
Sie war mit dem Kinde hinaufgegangen, um es zu Bett zu bringen. Während er da brütend am Herde saß, kam sie dicht an seine Seite, ohne daß er sie auch nur bemerkte – in den Folterqualen seines großen Elends hatte er den Sinn für alle anderen Töne verloren – und stellte ihren kleinen Stuhl neben seine Füße. Er bemerkte es erst, als er ihre Hand auf der seinen fühlte und ihre Augen nach seinem Gesicht emporblicken sah.
Mit Erstaunen? Nein. Das war sein erster Eindruck, und er mußte sie noch einmal ansehen, um sich zu überzeugen, daß es wirklich so war. Nein, nicht mit Erstaunen. Mit einem neugierig fragenden Blick; aber nicht mit Erstaunen. Anfangs war dieser Blick unruhig und ernst; dann machte er einem seltsamen, wilden, schrecklichen Lächeln Platz, als ob sie seine Gedanken erraten hätte; dann nichts anderes als ihre über der Stirn gekreuzten Hände und ihr geneigtes Haupt und die herabfallenden Haare.
Wenn John in diesem Augenblick selbst über die Allmacht Gottes hätte verfügen können: er hatte in seiner Brust zu viel von ihrer noch göttlicheren Eigenschaft, der Barmherzigkeit, um auch nur auf Dot das Gewicht einer Feder fallen zu lassen. Aber er konnte es nicht ertragen, sie auf dem kleinen Sitz kauern zu sehen, auf dem er sie so oft mit Stolz und Liebe betrachtet hatte, wie sie so unschuldig und so froh dasaß; und als sie aufstand und sich schluchzend von ihm entfernte, da fühlte er sich erleichtert: der leere Platz an seiner Seite war ihm lieber, als ihre sonst so teure Gegenwart. Dies war sein größter Schmerz, denn es erinnerte ihn daran, wie unglücklich er geworden und wie das große Band, das ihm das Leben wert gemacht hatte, zerrissen war.
Je mehr er hieran dachte, desto mehr fühlte er, daß er sie lieber frühzeitig tot, mit ihrem Kinde in den Armen vor sich liegen gesehen hätte, und desto heftiger wurde die Wut gegen seinen Feind. Er sah sich nach einer Waffe um.
Da hing eine Flinte an der Wand. Er nahm sie herab und tat einige Schritte auf die Tür des Zimmers zu, in dem sich der verräterische Fremde befand. Er wußte, daß das Gewehr geladen war. Eine unbestimmte Vorstellung, daß er ein Recht habe, diesen Menschen wie ein wildes Tier niederzuschießen, bemächtigte sich seines Geistes und ergriff ihn ganz und gar wie ein furchtbarer Dämon, der keine mildern Regungen aufkommen ließ und seine unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen begann.
Nein, das wollte ich nicht sagen. Diese Vorstellung verbannte nicht alle milderen Gedanken aus seinem Herzen: sie verwandelte sie mit teuflischer Kunst, verwandelte sie in Nadeln, um ihn aufzuhetzen; wandelte Wasser in Blut, Liebe in Haß, Milde in blinde Raserei. Ihr Bild, trauernd, gedemütigt, aber immer noch mit unwiderstehlicher Macht an seine Zärtlichkeit und Barmherzigkeit appellierend, kam ihm nie aus der Seele; aber die Erinnerung schon an dieses Bild genügte, um ihn an die Tür zu treiben, die Waffe an seine Schulter zu heben, seine Finger an den Hahn zu legen und ihm zuzurufen: Töte ihn! In seinem Bette!
Er kehrte das Gewehr um, die Tür mit dem Kolben einzuschlagen; schon schwang er es hoch in der Luft; er fühlte, wie es ihm auf den Lippen lag, dem da drinnen zuzurufen: Fliehe, um Gottes willen, fliehe, durch das Fenster!
Da plötzlich glimmte das erlöschende Feuer auf, erhellte den ganzen Kamin mit einem Lichtschein, und das Heimchen am Herde begann zu zirpen!
Kein Ton, den er hätte hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die ihre, würde ihn so bewegt, erschüttert und beruhigt haben. Die kunstlosen Worte, mit denen sie ihm von ihrer Liebe zu diesem Heimchen gesprochen hatte, hört er noch ganz frisch in den Ohren; er sah sie wieder vor sich mit ihrem ernsten Wesen, ihrer lieblichen Stimme – o welch eine Stimme es war, so ganz dazu angetan, mit ihrer traulichen Musik einen ehrlichen Mann am häuslichen Herde zu erfreuen! – Das alles durchbebte bis ins Innerste seine bessere Natur und wurde zu Leben und Bewegung.
Er wich von der Tür zurück wie ein Schlafwandler, der aus einem schrecklichen Traum aufwacht. Er stellte das Gewehr weg; dann bedeckte er das Gesicht mit den Händen, setzte sich wieder ans Feuer und erleichterte sein Gemüt in Tränen.
Das Heimchen am Herde kam hinein ins Zimmer und stand in Feengestalt vor ihm.
»Ich liebe es!« sang die Feenstimme, die Worte wiederholend, deren es sich so wohl erinnerte; »ich liebe es, weil ich es so oft gehört, und wegen der vielen guten Gedanken, die seine unschuldige Musik in mir angeregt hat.«
»So sagte sie!« rief der Fuhrmann. »Und es ist wahr!«
»Es ist ein glückliches Daheim für mich gewesen, John; und darum liebe ich das Heimchen!«
»Ja, das ist es gewesen, Gott weiß es«, versetzte der Fuhrmann. »Sie hat dieses Haus glücklich gemacht, immer .... bis heute.«
»So lieblich, so sanft, so häuslich, vergnügt, geschäftig und leichtherzig!« sang die Stimme.
»Sonst hätte ich sie nie so lieben können, wie ich sie liebte!« erwiderte der Fuhrmann.
»Sage doch vielmehr: wie ich sie liebe!« verbesserte die Stimme.
»Wie ich sie liebte!« wiederholte der Fuhrmann. Aber nicht in festem Tone. Seine etwas unsichere Zunge widerstand seinem Willen und redete in ihrer eigenen Weise, für sich selbst und für ihn.
Die Erscheinung erhob feierlich die Hand und sagte:
»An deinem Herde ...«
»Den sie geschändet hat«, unterbrach der Fuhrmann.
»Den sie – und wie oft! – gesegnet und erhellt hat«, sagte das Heimchen, »an dem Herde, der sonst nur Kalk und Ziegelsteine und rostige Eisenstangen war, der aber durch sie dein Hausaltar geworden, – der Altar, auf den du jeden Abend irgendeine kleine Leidenschaft, irgendeine Selbstsucht oder Sorge gelegt hast, um darauf das Opfer eines ruhigen Herzens, einer vertrauenden Seele und eines überströmenden Gemüts darzubringen, so daß der Rauch mit einem lieblicheren Duft als der kostbarste Weihrauch, vor dem kostbarsten Schrein in den herrlichsten Tempeln der Welt verbrannt, von deinem armseligen Kamin emporstieg!... Bei deinem Herde, bei deinem friedlichen Heiligtum, umgeben von allen schönen Einflüssen und Erinnerungen: Höre sie! Höre mich! Höre alles, was die Sprache deines häuslichen Herdes redet!«
»Und zu ihren Gunsten spricht?« fragte der Fuhrmann.
»Alles, was die Sprache deines häuslichen Herdes redet, kann garnicht anders als zu ihren Gunsten sprechen!« versetzte das Heimchen. »Denn diese Sprache kann nicht lügen.«
Und während der Fuhrmann, der den Kopf auf die Hände sinken ließ, auf seinem Stuhl zu träumen fortfuhr, stand ihr Bild neben ihm, gab ihm seine Gedanken durch seine übernatürliche Macht ein und stellte sie wieder in einem Spiegel oder in einem Gemälde vor ihn hin.
Die Erscheinung blieb nicht allein. Aus der Herdplatte, dem Kamin, der Uhr, der Pfeife, dem Kessel, der Wiege; aus dem Fußboden, den Wänden, der Decke und der Treppe; aus dem Wagen draußen und dem Schrank drinnen, aus den Haushaltsgegenständen, aus jedem Ding und jeder Stelle, mit dem Dot zu tun gehabt hatte und woran sich eine Erinnerung an sie in dem Geiste ihres unglücklichen Mannes knüpfte, kamen in ganzen Scharen Feen hervor. Nicht, um wie das Heimchen unbeweglich neben ihm zu bleiben, sondern um sich zu rühren und sich zu beschäftigen; um ihrem Bilde alle Ehre zu erweisen, ihn an den Rockschößen zu zerren und ihm zu zeigen, wie sie erschienen; um sich um sie herumzustellen, sie in ihre Arme zu nehmen und Blumen auf ihren Weg zu streuen. Um zu versuchen, ihr schönes Haupt mit ihren zarten Händen zu bekränzen. Um ihr zu zeigen, wie innig sie sie liebten, und daß es kein einziges, häßliches, boshaftes oder anklagendes Wesen gab, das sich rühmen konnte, sie zu kennen. – Niemand als sie, ihre getreuen Gefährtinnen, kannten sie und ihren Wert!
Seine Gedanken folgten unablässig ihrem Bilde. Es war immer zur Stelle.
Vor dem Feuer sitzend arbeitete sie mit der Nadel und sang vor sich hin. Welch ein heiteres, tätiges und ausdauerndes Geschöpf war diese kleine Dot! Die Feengestalten wandten sich alle zugleich ihr zu, richteten mit einer einzigen Bewegung, einen einzigen Blick auf sie und schienen voller Stolz zu sagen:
»Ist das die leichtsinnige Frau, um die du trauerst?«
Da hörte man von draußen die fröhlichen Töne von Musikinstrumenten, lärmenden Stimmen und hellem Lachen. Ein Schwarm junger, lustiger Leute kam plötzlich ins Haus; unter ihnen Mary Fielding mit einigen zwanzig ebenso hübschen jungen Mädchen. Dot war die schönste von allen, und auch so jung wie irgendeine von ihnen. Sie kamen, um sie einzuladen, an ihrem Feste teilzunehmen. Es handelte sich um einen Tanz. Waren je kleine Füße zum Tanzen geschaffen, so sicherlich die ihren. Aber sie lachte, schüttelte den Kopf und zeigte auf das Essen am Feuer und den bereits gedeckten Tisch; mit einer so herausfordernden Miene, daß sie nur noch reizender aussah. Und so verabschiedete sie sie denn ganz vergnügt, ihren Möchte-gern-Tänzern einem nach dem andern zunickend, während sie fortgingen, aber mit einer so komischen Gleichgültigkeit, die sie hätte veranlassen können, sofort hinzugehen und sich vor Verzweiflung ins Wasser zu stürzen, wenn sie zu ihren Bewunderern gehörten – und das waren wohl mehr oder weniger alle, aber das war eben nicht anders möglich. Und doch war von Gleichgültigkeit nichts in ihrem Wesen. O nein, denn in diesem Augenblick kam ein gewisser Fuhrmann und Gott weiß, welch ein Willkomm sie ihm gab!
Wiederum wandten sich die Feengestalten ihm gleichzeitig zu und schienen zu sagen:
»Ist das die Frau, die dich verlassen hat?«
Ein Schatten fiel auf den Spiegel oder das Bild – nennt es, wie ihr wollt. Ein großer Schatten, der Schatten des Fremden, wie er zuerst unter ihrem Dache erschien, bedeckte seine ganze Oberfläche, und löschte alle anderen Gegenstände aus. Aber die gewandten Feen arbeiteten wie Bienen, um ihn wieder wegzuwischen, und da war Dot wieder schön und glänzend wie vorher.
Sie wiegte ihr Kind, sang ihm leise ein Liedchen vor, lehnte das Haupt auf seine Schulter, die ihre Gegenstütze in der sinnenden Gestalt hatte, neben der das Feenheimchen stand.
Die Nacht – ich meine die wirkliche Nacht: nicht diejenige, die sich nach den Uhren der Elfen richtet – die Nacht rückte allmählich vor; und in diesem Stadium der Gedanken des Fuhrmanns kam hell und klar der Mond hinter den Wolken hervor. Vielleicht war in seiner Seele ebenfalls ein stilles ruhiges Licht aufgegangen, und er konnte mit mehr Ruhe nachdenken über das, was geschehen war.
Wenn auch der Schatten des Fremden von Zeit zu Zeit über den Spiegel glitt – immer deutlich, greifbar und genau ausgeprägt – so zeigte er sich doch nicht wieder so finster wie das erstemal. Sooft er erschien, stießen die Feen alle miteinander einen Schrei des Schreckens aus und setzten mit unbegreiflicher Behendigkeit ihre Ärmchen und Beinchen in Bewegung, um ihn auszuwischen. Und wenn sie sich dann wieder zu Dot wandten und sie ihm wieder zeigten, strahlend und schön, so legten sie in der begeisterndsten Weise ihre Freude an den Tag.
Sie zeigten sie nie anders als glänzend und schön, denn sie waren Hausgeister, für die die Lüge ein Nichts ist, und Dot war für sie nichts anderes als das tätige, fröhliche, liebliche, kleine Wesen, das immer das Licht und die Sonne in des Fuhrmanns Hause gewesen war!
Die Feen waren wunderbar eifrig, wenn sie sie mit dem Kinde zeigten, wie sie in einer Versammlung weiser alter Matronen plauderte und tat, als sei sie selbst so wunderbar weise und matronenhaft, und sich mit gesetzter, ernster und einer alten Dame würdigen Miene auf ihres Mannes Arm stützte, indem sie versuchte – sie, eine kleine Knospe von einer kleinen Frau! – versuchte, ihnen die Meinung beizubringen, sie hätte die Eitelkeiten der Welt alle miteinander abgeschworen und sie gehöre zu jener Klasse von reiferen Personen, denen es gar nichts Neues ist, Mutter zu sein, doch in demselben Augenblick zeigten sie sie wieder, wie sie über die Ungeschicklichkeit des Fuhrmanns lachte und ihm den Hemdkragen ordnete, um etwas wie einen Stutzer aus ihm zu machen, und ihn fröhlich mit sich durch das Zimmer zog, um ihn tanzen zu lehren!
Sie wandten sich mehr denn je ihm zu und sahen ihn mit ungewöhnlich weit geöffneten Augen an, als sie sie ihm neben dem blinden Mädchen zeigten; denn wenn sie auch überall Leben und Heiterkeit mit sich brachte, wohin sie ging, so war ihr Einfluß doch ganz besonders groß in Kaleb Plummers Heim. Des blinden Mädchens Liebe zu ihr, die zarte Weise, in der sie Berthas Dank zurückzuweisen verstand; wie sie zu mancher kleinen List ihre Zuflucht nahm, um jeden Augenblick ihres Besuches so auszufüllen, daß er Kalebs Hause zugute kam und unter dem Vorwand, sich einen Tag köstlich zu amüsieren, wirklich schwer arbeitete; ihre großmütige Sorge für jene verabredeten Leckereien, die Kalbs- und Schinkenpastete und die Bierflaschen; ihr heiteres Gesicht, wenn sie an der Tür erschien und wenn sie Abschied nahm; dieser wundervolle Ausdruck in ihrem ganzen Wesen, von ihrem allerliebsten Fuß an bis zu ihrem Köpfchen, daß sie die Bedeutung ihrer Rolle bei diesem von ihr gegründeten Feste fühle – daß sie dort notwendig, unentbehrlich sei; das alles erhöhte die Freude der Feen und verdoppelte ihre Liebe zu ihr. Und noch einmal sahen sie den Fuhrmann alle zugleich an, gleichsam flehend und als schienen sie ihm zu sagen, während einige von ihnen sich in die Falten ihres Kleides nestelten, um sie besser liebkosen zu können:
»Ist das die Frau, die dein Vertrauen getäuscht hat?«
Mehr als ein- oder zwei- oder dreimal während der langen gedankenvollen Nacht zeigten sie sie ihm auch, wie sie auf ihrem Lieblingsstuhl saß, vorgeneigt den Kopf, mit über der Stirn gefalteten Händen und aufgelöstem Haar, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Wenn sie sie so fanden, dann kümmerten sie sich gar nicht um ihn, sondern drängten sich um sie und trösteten und küßten sie und beeilten sich um die Wette, ihre Teilnahme und ihr Wohlwollen zu zeigen, wahrend sie ihn vollständig vergaßen.
So verging die Nacht. Der Mond ging unter, die Sterne verblaßten; der kalte Tag brach an; die Sonne ging auf. Noch immer saß der Fuhrmann gedankenvoll in der Kaminecke. Er hatte dort, den Kopf auf die Hände gestützt, die ganze Nacht gesessen. Die ganze Nacht hatte das treue Heimchen auf dem Herde sein Zirp-zirp-zirp gesungen. Die ganze Nacht waren die Hausfeen mit ihm beschäftigt gewesen. Die ganze Nacht war sie liebenswert und makellos gewesen, ausgenommen in den Augenblicken, wo jener Schatten darauf fiel.
Als es heller Tag war, stand er auf, wusch sich und kleidete sich an. Er konnte seinem gewöhnlichen ihm so lieb gewordenen Beruf nicht nachgehen – dazu fehlte es ihm an Mut –, aber es hatte das nichts zu bedeuten; da Teckletons Hochzeit war, hatte er sich darauf eingerichtet, seine Touren durch jemand anders machen zu lassen. Es war seine Absicht gewesen, heiter mit Dot zur Kirche zu gehen. Aber an so etwas war jetzt nicht mehr zu denken. Es war auch ihr Hochzeitstag. O wie wenig hatte er erwartet, daß dieses Jahr so enden könnte!
Der Fuhrmann hatte von Tackleton einen Morgenbesuch erwartet; und er irrte sich nicht. Kaum hatte er vor seiner Tür angefangen, auf und ab zu gehen, als er den Spielwarenhändler in seinem Wagen daherkommen sah. Als die Chaise näher kam, bemerkte er, daß Tackleton bereits hochzeitlich geschmückt war und daß er den Kopf des Pferdes mit Blumen und Bändern geschmückt hatte.
Das Pferd sah einem Bräutigam viel mehr ähnlich als Tackleton, dessen halbgeschlossenes Auge einen unangenehmeren Ausdruck hatte als je. Aber der Fuhrmann achtete wenig darauf. Seine Gedanken gingen in ganz anderer Richtung.
»John Peerybingle!« sagte Tackleton mit einer Trauermiene. »Armer Freund, wie geht es Euch heute morgen?«
»Ich habe eine schlechte Nacht gehabt, Mr. Tackleton«, erwiderte der Fuhrmann und schüttelte den Kopf; »denn mir ist allerhand durch den Sinn gegangen. Aber es ist jetzt vorüber. Habt Ihr etwa ein halbes Stündchen für mich übrig? Zu einer privaten Unterredung ... ?«
»Dazu bin ich gerade gekommen«, erwiderte Tackleton, indem er vom Wagen stieg. »Kümmert Euch nur nicht um das Pferd. Es wird schon still stehen, wenn man die Zügel hier befestigt und Ihr ihm eine Handvoll Heu geben wollt.«
Nachdem der Fuhrmann dies aus dem Stalle geholt und es dem Pferde gegeben hatte, traten sie in das Haus.
»Die Trauung findet wohl nicht vor Mittag statt?« sagte John.
»Nein«, erwiderte Tackleton. »Zeit genug. Zeit genug.«
Als sie in die Küche traten, klopfte Tilly gerade an die Tür des Fremden; sie war nur einen halben Schritt davon entfernt. Das eine ihrer roten Augen – denn Tilly hatte die ganze Nacht geweint und natürlich nur, weil ihre Herrin weinte – hatte sie an das Schlüsselloch gelegt; sie klopfte sehr laut und schien gar sehr erschreckt.
»Wenn's erlauben«, rief sie hinein, »ich kann niemand hören. Wenn's erlauben. Sie sind doch am Ende nicht gestorben?«
Diese philantropischen Worte begleitete Fräulein Tolpatsch nachdrücklich durch mehrmaliges Klopfen und durch Fußtritte gegen die Tür, ohne jedoch irgendein Resultat zu erzielen.
»Soll ich nachsehen?« fragte Tackleton. »Der Fall ist wichtig.«
Der Fuhrmann, der sein Gesicht von der Tür abgewendet hatte, gab ihm ein Zeichen, er solle nur nachsehen, wenn er wolle.
Tackleton löste also Tilly ab; er trat und klopfte ebenfalls gegen die Tür, aber es gelang ihm ebensowenig, irgendwelche Antwort zu erhalten. Aber da kam er auf den Einfall, den Drehknopf der Tür zu probieren; und da sie leicht aufging, schaute er hinein und steckte den Kopf in die Stube, prallte aber rasch wieder zurück.
»John Peerybingle«, sagte er ihm ins Ohr. »Da ist doch heute nacht nichts – nichts Gewaltsames geschehen?«
Der Fuhrmann wandte sich rasch zu ihm um.
»Er ist nämlich fort!« sagte Tackleton: »und das Fenster ist offen. Ich sehe gar keine Spur.... Allerdings liegt das Zimmer fast in gleicher Höhe mit dem Garten.... Aber ich befürchte ... es könnte irgendein ... kleiner Streit, he?«
Er schloß das ausdrucksvolle Auge fast ganz und sah John durchdringend an. Sein Auge, sein Gesicht, ja seine ganze Gestalt bekam ein heftiges Zucken – als hätte er die Wahrheit aus ihm herausschneiden wollen.
»Beruhigt Euch«, sagte der Fuhrmann. »Er trat gestern abend in dies Zimmer, ohne daß ich ihm mit Worten oder Werken etwas zuleide getan habe; und niemand ist seitdem darin gewesen. Er ist aus freiem Willen fortgegangen. Auch ich möchte mit Freuden dies Haus verlassen, um von Tür zu Tür mein Brot zu erbetteln, wenn ich um diesen Preis fertigbringen könnte, daß er nie hier eingetreten wäre. Aber er ist gekommen und gegangen. Und nun habe ich nichts nicht mit ihm zu schaffen!«
»Ah!... Na, mir scheint, er ist ziemlich leicht davongekommen«, sagte Tackleton und nahm sich einen Stuhl.
Sein höhnisches Lachen ging dem Fuhrmann verloren, der sich ebenfalls setzte und, bevor er fortfuhr, einen Augenblick sein Gesicht mit seiner Hand beschattete.
»Ihr zeigtet mir gestern abend«, sagte er endlich, »Meine Frau, die ich liebe ... wie sie heimlich ...«
»Und zärtlich ...« ergänzte Tackleton.
»Jenem Manne half, sich zu verkleiden, und ihm Gelegenheit gab, sie allein zu sprechen. Es gibt nichts, das ich nicht lieber gesehen hätte, als gerade das. Und es gibt wohl keinen Menschen in der Welt, von dem ich's mir nicht lieber hätte zeigen lassen.«
»Ich gestehe, daß ich stets meinen Verdacht gehabt habe«, sagte Tackleton; »und ich weiß, das ist's auch, was mich hier mißliebig gemacht hat.«
»Aber da Ihr es mir nun einmal gezeigt habt«, sagte der Fuhrmann, ohne auf seine Worte zu achten, »und da Ihr sie gesehen habt, meine Frau, meine Frau, die ich liebe« – seine Stimme, sein Blick, seine Hand wurden fester und gleichsam sicherer, als er diese Worte sprach: ein offenbarer Beweis, daß er einen festen Entschluß gefaßt – »da Ihr sie in dieser ungünstigen Stellung gesehen, so ist es nur in Ordnung, daß Ihr sie auch mit meinen Augen seht und in meine Brust schaut, um zu erfahren, wie ich hierüber denke, denn mein Entschluß ist gefaßt«, sagte der Fuhrmann, ihn aufmerksam anblickend. »Und nichts kann ihn jetzt mehr erschüttern.«
Tackleton murmelte einige allgemeine Worte der Zustimmung hinsichtlich der Notwendigkeit, an irgend jemand Rache zu üben; aber das Benehmen des Fuhrmanns flößte ihm beinahe Ehrfurcht ein.
Wie einfach und schlicht es auch war, es lag etwas Würdevolles und Stolzes darin, das nur der edleren und großmütigeren Seele dieses Mannes entspringen konnte.
»Ich bin ein einfacher, ungebildeter Mensch«, fuhr der Fuhrmann fort: »ich habe wenig Vorzüge. Ich bin nicht gerade ein liebenswürdiger Mann, wie Ihr sehr wohl wißt. Ich bin auch kein junger Mann. Ich liebte meine kleine Dot, weil ich sie von Kindheit an im Hause ihres Vaters hatte aufwachsen sehen; weil ich wußte, wie vortrefflich sie war; weil sie seit vielen Jahren mein Leben und mein Alles gewesen. Es gibt gewiß viele Menschen, mit denen ich mich nicht vergleichen kann, die aber sicherlich meine kleine Dot nicht so hätten lieben können wie ich.«
Er hielt inne und stieß einige Augenblicke sanft auf den Fußboden, bevor er fortfuhr.
»Ich habe oft gedacht, daß ich, wenn ich auch nicht gut genug für sie sei, doch ein freundlicher Ehemann gegen sie sein möchte und ihren Wert vielleicht besser zu schätzen wisse, als irgendein anderer, und so fand ich mich damit ab und dachte so in meinem Sinn, daß unsere Heirat doch wohl nicht ganz unvernünftig sein könnte. Und so geschah es, und wir heirateten uns.«
»Freilich«, sagte Tackleton mit einem bedeutsamen Kopfschütteln.
»Ich hatte mich kennenzulernen gesucht; ich hatte mir alle möglichen Fragen vorgelegt, ich wußte, wie sehr ich sie liebte und wie glücklich ich sein würde«, setzte der Fuhrmann hinzu. »Aber ich hatte – das fühle ich jetzt – sie selbst nicht genug in Erwägung gezogen.«
»Natürlich nicht!« sagte Tackleton. »Eitelkeit, Leichtsinn, Unbeständigkeit, Koketterie. Nicht genug bedacht! Alles aus den Augen gelassen! Ja, ja!«
»Ihr tätet besser, mich nicht zu unterbrechen«, sagte der Fuhrmann mit gerunzelter Stirn, »bis Ihr mich verstanden habt, und davon seid Ihr noch weit entfernt. Wenn ich gestern jeden mit einem Schlage getötet hätte, der sich herausgenommen hätte, auch nur ein Wort gegen sie zu sagen, heute würde ich ihm den Kopf mit meinem Fuß zertreten, und wenn es mein Bruder wäre!«
Der Spielwarenhändler sah ihn bestürzt an. John fuhr in sanfterem Tone fort:
»Hatte ich bedacht, daß ich sie – in ihrem Alter und mit ihrer Schönheit! – aus der Mitte ihrer jungen Freundinnen und aus den Kreisen wegnahm, deren Schmuck, deren hellster Stern sie war, um sie für immer in mein langweiliges Haus zu verschließen und sie an meine trübselige Gesellschaft zu fesseln? Hatte ich bedacht, wie wenig ich zu ihrer Lebhaftigkeit paßte und wie unerträglich ein Mann von so langsamen Begriffen wie ich für eine Frau von so schnellem Verstande wie sie sein mußte? Hatte ich bedacht, daß ich gar keine Vorzüge oder Ansprüche hatte, daß ich sie liebte, da alle, die sie kannten, sie lieben mußten? Nein, nie! Ich nutzte ihre arglose Natur und ihr liebevolles Temperament zu meinen Gunsten aus und heiratete sie. Ich wollte, ich hätte es nie getan! Um ihretwillen; nicht um meinetwillen!«
Der Spielwarenhändler sah ihn an, jedoch ohne mit der Augenwimper zu zucken. Sogar das halbgeschlossene Auge war jetzt weit offen.
»Der Himmel segne sie«, sagte der Fuhrmann, »für die liebevolle Festigkeit, mit der sie diese Entdeckung von mir fernzuhalten suchte! Und der Himmel stehe mir bei, daß ich mit meinem trägen Kopfe das nicht früher herausgefunden habe! Armes Kind! Arme Dot! Ich ahnte es nicht, ich, der ich ihre Augen sich mit Tränen füllen sah, wenn von einer Heirat wie der unsern gesprochen wurde! Ich, der ich das Geheimnis wohl hundertmal auf ihren Lippen zittern sah und doch bis gestern abend nie eine Ahnung davon hatte! Armes Kind! Daß ich je hoffen konnte, sie könne mich lieben! Daß ich je glauben konnte, sie liebe mich wirklich!«
»Sie tat nur so«, sagte Tackleton. »So sehr gab sie sich den Anschein, daß, um Euch die Wahrheit zu sagen, dies meinen Argwohn erregte.«
Und nun hob er die Überlegenheit von May Fieldings Tugenden hervor, die man sicherlich nicht beschuldigen könne, sie täte so, als sei sie in ihn verliebt.
»Sie hat's versucht«, sagte der arme Fuhrmann mit größerer Erregung, als man bis dahin an ihm bemerken konnte; »jetzt erst fange ich an zu begreifen, wie schwer sie gekämpft hat, mein treues und ergebenes Weib zu sein. Wie gut ist sie gewesen; wie viel hat sie für mich getan; welch ein tapferes und starkes Herz! Das Glück, das ich unter diesem Dache genossen, möge Zeuge dafür sein! Das wird immer ein Trost und eine Erleichterung für mich sein, wenn ich hier allein bin.«
»Hier allein?« sagte Tackleton. »Aha! Ihr habt also doch die Absicht, die Sache doch nicht als ungeschehen zu betrachten?«
»Ich habe die Absicht«, versetzte der Fuhrmann, »ihr das größte Zeichen von Liebe und die beste Genugtuung zu geben, die in meiner Macht sind. Ich kann sie von der täglichen Qual einer ungleichen Ehe und dem Kampfe, dies zu verbergen, befreien. Sie soll so frei sein, wie ich es machen kann.«
»Ihr Genugtuung geben, ihr!« rief Tackleton, indem er an seinen großen Ohren mit den Händen herumzerrte. »Hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich muß nicht richtig verstanden haben.«
Der Fuhrmann packte den Spielwarenhändler beim Kragen und schüttelte ihn wie ein Schilfrohr.
»Hört einmal!« sagte er, »und sorgt dafür, daß Ihr mich richtig versteht. Hört mal. Rede ich deutlich?«
»In der Tat, sehr deutlich!« antwortete Tackleton.
»Als ein Mann, der es ernst meint?«
»Gewiß, gewiß, als ein Mann, der es ernst meint.«
»Ich habe die letzte Nacht, die ganze Nacht, da am Herde gesessen«, rief der Fuhrmann aus. »An der Stelle, wo sie so oft, mich mit ihrem süßen Gesicht anblickend, neben mir gesessen hat. Ich habe ihr ganzes Leben, Tag für Tag, an mir vorübergehen lassen. Ich habe ihr teures Bild in allen Lagen des Lebens vor mich hintreten lassen. Bei meiner Seele, sie ist unschuldig, so wahr es Einen im Himmel gibt, der über die Schuldigen und die Unschuldigen richtet.«
O tapferes Heimchen am Herde! O treue Hausfeen!
»Zorn und Mißtrauen haben mich verlassen«, sprach der Fuhrmann weiter. »Es bleibt mir nichts übrig als mein Schmerz. In einem unglücklichen Augenblick ist ein früherer Geliebter, der ihr besser gefallen konnte und zu ihren Jahren besser paßt – vielleicht meinetwegen, wider ihren Willen verlassen – zurückgekehrt. In einem unglücklichen Augenblick hat sie, überrascht und ohne Zeit zu haben, zu bedenken, was sie tat, sich an seiner Verräterei mitschuldig gemacht, indem sie es verheimlichte. Gestern abend hat sie ihn gesehen bei der Zusammenkunft, von der wir Zeuge waren. Das war unrecht von ihr. Aber dies ausgenommen, ist sie unschuldig, wenn es noch Wahrheit auf Erden gibt.«
»Wenn Ihr das glaubt«, begann Tackleton.
»So kann sie gehen!« sagte der Fuhrmann weiter. »Gehen mit meinem Segen für die vielen glücklichen Stunden, die sie mir geschenkt hat, und ich vergebe ihr den Schmerz, den sie mir verursacht hat. Mag sie gehen mit dem Frieden des Herzens, den ich ihr wünsche! Sie wird mich niemals hassen. Sie wird mich vielmehr besser lieben lernen, wenn sie nicht mehr an mich gefesselt ist. Sie wird dann die Kette, die ich für sie geschmiedet habe, leichter tragen können. Heut ist der Tag an dem ich sie von ihrem väterlichen Herde wegführte, ohne irgendwie nach ihrem eigenen Glücke zu fragen. Heute soll sie dahin zurückkehren und nichts mehr zu leiden haben. Ihre Eltern werden sogleich hier sein – wir hatten einen kleinen Plan gemacht, wie wir den heutigen Tag miteinander feiern wollten – und sie mögen sie wieder mit nach Hause nehmen. Ich kann mich auf sie verlassen, dort und überall. Sie verläßt mich ohne Schuld, und sie wird auch so leben, das weiß ich ein für allemal. Und wenn ich sterbe – ich kann vielleicht sterben, während sie noch jung ist; ich habe in wenigen Stunden viel von meinem Lebensmut verloren – dann wird sie wissen, daß ich mich ihrer erinnerte und sie bis zur letzten Stunde liebte. Und damit ist es vorbei.«
»O nein, John, noch nicht vorbei! Noch nicht ganz. Ich habe deine hochherzigen Worte gehört. Ich konnte nicht fortgehen, ohne dir zu sagen, wie unendlich dankbar ich dir bin. Sage nicht, es sei aus, ehe die Uhr noch einmal geschlagen hat!«
Sie war kurz nach Tackleton eingetreten und dageblieben. Für Tackleton hatte sie keinen einzigen Blick übrig, ihre Augen waren unablässig auf ihren Mann gerichtet. Aber sie hielt sich fern von ihm, soweit wie irgend möglich; und wenngleich sie mit leidenschaftlichem Nachdruck sprach, so trat sie ihm doch noch immer nicht näher. Wie verschieden war sie von ihrem früheren Selbst.
»Keine Hand kann die Uhr verfertigen, die mir noch einmal die Stunden schlagen wird, die dahin sind«, entgegnete der Fuhrmann mit einem leeren Lächeln. »Aber es sei, wenn du willst, mein Kind. Die Uhr wird bald schlagen. Es hat wenig zu bedeuten, was wir sagen. Ich würde gern versuchen, dir in einer viel schwereren Sache zu Gefallen sein.«
»Nun!« brummte Tackleton. »Ich muß gehen, denn wenn die Uhr noch einmal schlägt, muß ich auf dem Wege zur Kirche sein. Guten Morgen, John Peerybingle. Es tut mir leid, das Vergnügen Eurer Gesellschaft entbehren zu müssen. Tut mir leid um den Verlust und die Veranlassung dazu!«
»Habe ich deutlich gesprochen?« fragte der Fuhrmann, indem er ihn bis zur Tür begleitete.
»O sehr deutlich!«
»Und werdet Ihr Euch merken, was ich gesagt habe?«
»Gewiß, gewiß, und – da Ihr mich absolut zwingt, die Bemerkung zu machen –« sagte Tackleton, nicht ohne zuvor die Vorsicht zu gebrauchen, in seinen Wagen zu steigen, »so muß ich sagen, die Sache kam mir so unerwartet, daß ich sie wohl schwerlich je vergessen werde.«
»Um so besser für uns beide,« versetzte der Fuhrmann. »Gehabt Euch wohl. Viel Glück.«
»Ich wollte, ich könnte Euch denselben Wunsch zurufen«, sagte Tackleton. »Da das aber nicht möglich ist, so danke ich Euch. Unter uns – ich habs Euch schon einmal gesagt, wie? oder nicht? – unter uns, ich glaube nicht, daß ich in meinem Ehestande darum nicht weniger glücklich sein werde, weil May nicht allzuviel Liebe und Glück gezeigt hat. Laßt es Euch gut gehen und nehmt Euch die Sache nicht allzu sehr zu Herzen!«
Der Fuhrmann sah ihm nach, bis er in der Ferne kleiner erschien als seines Pferdes Blumen und Bänder in der Nähe. Und dann irrte er seufzend und sich grämend wie ein ruheloser gebrochener Mann zwischen einigen Bäumen in der Nachbarschaft umher; er mochte nicht zurückkehren, bis die Uhr bald schlagen würde.
Seine kleine Frau, allein geblieben, schluchzte zum Erbarmen; aber sie trocknete sich immer wieder die Augen und drängte die Tränen zurück, um zu sagen, wie gut, wie brav ihr Mann sei, und ein paarmal lachte sie auf, so herzlich, so siegesgewiß, so unbegreiflich – denn sie weinte gleichzeitig – daß Tilly aus dem Schrecken gar nicht herauskam.
»O bitte, nicht so!« sagte Tilly. »Es könnte ja das Kindchen rein unter die Erde bringen, wenn's erlauben.«
»Willst du es bisweilen seinem Vater bringen, Tilly, wenn ich hier nicht mehr wohnen kann und in mein väterliches Haus zurückgekehrt bin?« fragte die Herrin, sich die Augen trocknend.
»O, o, bitte nicht so!« rief Tilly, den Kopf zurückwerfend und in ein Geheul ausbrechend – sie sah in diesem Augenblick Boxer ungewöhnlich ähnlich. »O, o, bitte nicht so! O, o, was hat denn alle Welt nur aller Welt getan, um alle Welt so unglücklich zu machen! O, o, o, o!«
Und die gefühlvolle Tilly brach in ein anhaltendes Klagegeheul aus, das um so furchtbarer wurde, je länger sie es zurückzuhalten versucht, so daß sie das Wickelkind unfehlbar geweckt und in einen mit sehr ernsten Folgen – wahrscheinlich mit Krämpfen – verbundenen Schrecken versetzt hätte, wenn ihre Augen nicht Kaleb Plummer begegnet wären, der grade mit seiner Tochter ins Zimmer trat. Da dieser Anblick das Gefühl des Anstandes in ihr wieder zurückrief, blieb sie einige Augenblicke mit geöffnetem Munde schweigend dastehen, und dann nach dem Bett davonstürzend, auf welchem das Kind schlief, begann sie in unheimlicher Weise, als hätte sie den Veitstanz, auf dem Boden umherzuspringen, während sie sich zugleich mit Gesicht und Kopf in die Bettücher hineinwühlte, offenbar viel Erleichterung für ihren Schmerz aus diesen außerordentlichen Operationen schöpfend.
»Marie!« rief Bertha. »Nicht auf der Hochzeit!«
»Ich habe ihr gesagt, junge Frau, Ihr würdet nicht mit dabei sein«, flüsterte Kaleb. »Ich habe gestern abend so was gehört. Aber mein Gott«, sagte der kleine Mann, zärtlich ihre beiden Hände drückend, »ich achte nicht darauf, was sie sagen. Ich glaub' nichts davon. Es ist nicht viel an mir, aber dieses Wenige würde ich erst in Stücke reißen lassen, ehe ich auch nur ein Wort gegen Euch glaubte.«
Er legte die Arme um sie und herzte sie, wie ein Kind seine Puppe herzt.
»Bertha konnte es heute morgen zu Hause nicht aushalten«, fuhr Kaleb fort. »Ich weiß, sie fürchtete die Glocken läuten zu hören und hatte nicht das Herz, ihnen an ihrem Hochzeitstage so nahe zu sein. So machten wir uns denn frühzeitig auf den Weg und kamen hierher. Ich habe mir dies alles überlegt«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Ich habe mich ausgescholten, bis ich kaum mehr wußte, was ich tun oder wohin ich mich wenden sollte; denn all ihren Kummer habe ich verschuldet; und da bin ich zu dem Entschlusse gekommen, es sei besser – das heißt – wenn Ihr mir beistehen wollt, junge Frau – ihr die Wahrheit zu sagen. Wollt Ihr mir beistehen?« fragte er, von Kopf bis zu den Füßen zitternd. »Ich weiß nicht, was sie von mir denken wird, ich weiß nicht, ob sie dann noch ihren Vater lieben wird. Aber es ist das beste für sie, daß sie erfährt, daß alles Täuschung war, und ich muß die Folgen tragen, wie ich's verdient habe.«
»Marie«, sagte Bertha, »wo ist deine Hand? Ah, hier ist sie, hier ist sie!«
Sie drückte sie mit einem Lächeln an die Lippen und zog sie unter ihren Arm.
»Ich hörte sie miteinander flüstern gestern abend und dich wegen irgend etwas tadeln. Sie hatten unrecht.«
Des Fuhrmanns Frau schwieg. Kaleb nahm das Wort für sie.
»Sie hatten unrecht«, sagte er.
»Ich weiß es« rief Bertha stolz. »Und ich hab´s ihnen auch gesagt. Es wäre verächtlich erschienen, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Ein Recht haben, Dot zu tadeln!« Und sie drückte die Hand in die ihrige und näherte ihre weiche Wange ihrem Gesicht. »Nein, so blind bin ich nicht.«
Ihr Vater stellte sich ihr zur Linken, während Dot, noch immer ihre Hand haltend, auf ihrer rechten Seite blieb.
»Ich kenne euch alle«, sagte Bertha, »besser als ihr glaubt. Aber niemand so gut wie sie. Nicht einmal dich, Vater. In meiner ganzen Umgebung gibt es nichts so Reines und Wahres wie sie. Wenn ich in diesem Augenblick mein Gesicht wieder erlangen könnte, ich würde sie in einer zahlreichen Menge heraus erkennen, ohne daß nur ein Wort gesagt würde! Meine Schwester!«
»Bertha, mein liebes Kind«, sagte Kaleb, »ich habe etwas auf dem Gewissen, das ich dir sagen muß, solange wir drei allein sind. Höre mich freundlich an! Ich habe dir ein Bekenntnis zu machen, mein gutes Kind.«
»Ein Bekenntnis, Vater?«
»Ich habe mich von der Wahrheit entfernt und mich geirrt, liebes Kind«, sagte Kaleb mit einem herzzerreißenden Ausdruck in seinen aufgeregten Zügen. »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt, aus Liebe zu dir; und diese Liebe hat mich grausam gemacht.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, das den Ausdruck des höchsten Erstaunens zeigte, und wiederholte: »Grausam!«
»Er klagt sich zu streng an, Bertha«, sagte Dot. »Das wirst du ihm gleich selbst sagen, wie ich es jetzt tue.«
»Er grausam gegen mich!« rief Bertha mit einem ungläubigen Lächeln.
»Ohne es zu wollen, mein Kind!« sagte Kaleb. »Aber ich bin's gewesen, wenn es mir auch erst gestern zum Bewußtsein gekommen ist. Meine teure blinde Tochter, höre mich an und vergib mir! Die Welt, in der du lebst, Kind meines Herzens, ist nicht so, wie ich sie dir dargestellt habe. Die Augen, denen du vertrautest, haben dich belogen.«
Noch immer war ihr überraschtes und erstauntes Antlitz ihm zugewandt, aber jetzt wich sie zurück und klammerte sich fester an ihre Freundin.
»Dein Lebensweg war rauh, mein teures liebes Kind,« fuhr Kaleb fort, »und ich wollte ihn dir glatt und eben machen. Ich habe die Gegenstände verändert, den Charakter der Menschen umgeschaffen, viele Dinge erfunden, die nie existiert haben, um dich glücklicher zu machen. Ich habe dir vieles verheimlicht, dich in Täuschungen versetzt, Gott verzeihe mir, und dich mit erträumten Wesen umgeben.«
»Aber lebende Menschen sind doch keine erträumten Wesen!« rief sie rasch, während sie erbleichte und sich noch mehr von ihm zurückzog. »Die kannst du doch nicht verändern!«
»Und doch hab' ich's getan, Bertha!« bekannte Kaleb. »Es gibt eine Person, die du kennst, mein Liebstes ...«
»O Vater!« versetzte sie in einem Tone bittern Vorwurfs, »warum sagst du, ich kenne sie? Wen und was soll ich kennen! Ich, die ich keinen Führer habe! Ich bin so elendiglich blind.«
In Herzensangst streckte sie die Hände aus, als suche sie sich tastend einen Weg; dann legte sie sie trostlos, ja fast verzweiflungsvoll vor das Gesicht.
»Der Mann, der heute Hochzeit feiert«, sagte Kaleb, »ist ein finsterer, filziger Geizhals; dir und mir ein harter Herr, mein Kind, und das schon seit vielen Jahren, häßlich in seinem Äußern und in seiner Seele. Immer kalt, immer hart. Ganz und gar anders als das Bild, das ich dir von ihm geschildert habe. In jeder Beziehung.«
»O, warum«, rief das blinde Mädchen in überwältigendem Schmerz, »warum tatst du das! Warum hast du stets mein Herz so reich gemacht, um nun zu kommen wie der Tod, um herauszureißen, was ich liebe! O mein Gott, wie blind bin ich! Wie hilflos und verlassen!«
Ihr Vater ließ trostlos den Kopf sinken und antwortete nur mit seiner Reue und seiner Qual.
Sie hatte sich noch nicht lange diesem leidenschaftlichen Ausbruch des Jammers hingegeben, als das Heimchen am Herde, nur von ihr allein gehört, zu zirpen begann. Aber nicht fröhlich, sondern leise, schwach und traurig; so traurig und schwermütig klang sein Lied, daß sie in Tränen ausbrach. Als jedoch das Bild, das die ganze Nacht den Fuhrmann umschwebt hatte, hinter ihr erschien und auf ihren Vater deutete, da flossen ihre Tränen in Strömen.
Bald vernahm sie die Stimme des Heimchens deutlicher und fühlte trotz ihrer Blindheit, daß die Erscheinung ihren Vater umschwebte. »Marie«, sagte das blinde Mädchen, »sage mir, wie unsere Wohnung ist. Wie sie in Wirklichkeit aussieht.«
»Es ist eine ärmliche Behausung, Bertha, sehr arm wahrlich, sehr arm und kahl. Das Häuschen wird kaum noch einen Winter dem Wind und Wetter widerstehen können. Es ist gegen das Unwetter so schlecht geschützt, Bertha«, fuhr Dot mit leiser, aber deutlicher Stimme fort, »wie dein armer Vater in seinem Überzieher aus Sackleinewand.«
Das blinde Mädchen stand in großer Erregung auf und zog die kleine Frau des Fuhrmanns auf die Seite.
»Jene Geschenke, die ich so sorgfältig hütete«, sagte sie mit bebender Stimme, »die fast allen meinen Wünschen zuvorkamen, und die mir alle eine solche Freude machten – woher sie? Hast du sie geschickt?«
»Nein.«
»Wer denn?«
Dot sah, daß sie das Geheimnis bereits erraten hatte, und schwieg. Das blinde Mädchen bedeckte wieder das Gesicht mit beiden Händen. Aber diesmal in ganz andrer Weise.
»Liebe Marie, nur einen Augenblick! Nur einen einzigen Augenblick! Komm noch etwas näher – hierher! Sprich leise. Du bist aufrichtig, ich weiß es. Du wirst mich jetzt nicht täuschen, nicht wahr?«
»Nein, Bertha, sicherlich nicht!«
»Nein, das wirst du gewiß nicht! Du hast zuviel Mitleid mit mir, Marie, blicke durch das Zimmer, nach der Stelle, wo wir soeben standen ... wo mein Vater ist ... mein Vater, der so mitleidig, so liebevoll gegen mich ist ... und sage mir, was du siehst.«
»Ich sehe«, antwortete Dot, die sie vollkommen verstand, »einen alten Mann auf einem Stuhl sitzen und schmerzlich zurückgelehnt, das Gesicht auf die Hand gestützt, als bedürfe er des Trostes seines Kindes, Bertha.«
»Ja, ja, es wird ihn trösten. Weiter.«
»Es ist ein alter Mann, von Arbeit und Sorgen aufgerieben: ein magerer, gramerfüllter alter Mann mit grauem Haar. Ich sehe ihn jetzt verzweifelt, zerschmettert und gebrochen. Aber, Bertha, ich habe ihn oft früher gesehen, wie er tapfer und standhaft für einen großen, heiligen Zweck kämpfte. Und ich ehre sein graues Haupt und segne ihn.«
Das blinde Mädchen machte sich plötzlich von ihr los, warf sich vor ihrem Vater auf die Knie und drückte sein Haupt an ihre Brust.
»Jetzt habe ich mein Augenlicht wieder!« rief sie aus. »Ich war blind, jetzt sind mir die Augen geöffnet. Ich kannte ihn garnicht! Zu denken, daß ich hätte sterben können, ohne je richtig den Vater erkannt zu haben, der mich mit so vieler Liebe umgeben hat.«
Kaleb fand keine Worte, um seine Rührung auszudrücken.
»Es gibt auf der ganzen Erde kein so schönes und edles Haupt«, rief die Blinde, ihn mit ihren Armen umfangend, »das ich so zärtlich, so hingebend liebe wie dieses! Je grauer und gebeugter, um so teurer ist es mir, Vater! Nie sollen sie wieder sagen, ich sei blind. Da ist keine Falte in diesem Gesicht, kein Haar auf diesem Haupt, das in meinen Gebeten und in meinem Dank zum Himmel vergessen werden soll!«
Kaleb vermochte nur die Worte: »Meine Bertha!« vor sich hinzustammeln. .
»Und in meiner Blindheit glaubte ich ihm«, sagte das Mädchen, ihn unter Tränen in der zärtlichsten Weise liebkosend. »Ich hielt ihn für so ganz anders! Daß ich ihn Tag für Tag an meiner Seite hatte, immer so sehr mit mir beschäftigt, und nie an so etwas gedacht hatte!«
»Der jugendliche, schmucke Vater in dem blauen Rock – er ist verschwunden, Bertha!« sagte der arme Kaleb.
»Nichts ist verschwunden«, antwortete sie. »Nein, nichts, bester Vater! Alles ist da – in dir. Der Vater, den ich so sehr liebte und nie kannte: der Wohltäter, den ich zuerst zu verehren und zu lieben anfing, weil er eine solche Liebe für mich zeigte – das alles findet sich hier in dir wieder. Nichts ist tot für mich. Der Inbegriff alles dessen, was meinem Herzen am teuersten war, ist hier – hier in seinem verrunzelten Gesicht und seinem grauen Haupt, Und ich bin nicht mehr blind, Vater!«
Dots ganze Aufmerksamkeit war während dieses Gesprächs auf Vater und Tochter gerichtet gewesen. Aber als Dot jetzt nach dem kleinen Mäher auf der maurischen Wiese blickte, sah sie, daß die Uhr in ein paar Minuten schlagen werde, und verfiel sofort in einen Zustand nervöser Aufregung.
»Vater«, sagte Bertha zögernd. »Marie ....«
»Ja, mein liebes Kind,« erwiderte Kaleb, »hier ist sie.«
»Sie hat sich doch in nichts verändert. Von ihr hast du mir nie etwas gesagt, was nicht wahr gewesen wäre?«
»Ich würde es wohl auch getan haben, Kind, befürchte ich«, antwortete Kaleb, »wenn ich sie hätte besser machen können, als sie war. Aber ich hätte sie schlechter machen müssen, wenn ich überhaupt an ihr etwas geändert hätte. An ihr kann man nichts verschönern, Bertha.«
Wie vertrauensvoll die Blinde auch gewesen war, als sie dies angefragt hatte, ihre Freude und ihr Stolz über Kalebs Antwort und die neuen Zärtlichkeiten, womit sie Dot überhäufte, waren überaus rührend anzusehen.
»Es können allerdings noch mehr Veränderungen kommen, als du glaubst, Liebe«, sagte Dot. »Veränderungen zum Bessern; ich meine Veränderungen, die einigen von uns große Freude verursachen werden. Du mußt dich aber nicht zu sehr aufregen, wenn eine solche eintritt, die dich näher angehen sollte! ... Ist das nicht Wagengerassel? Du hast ein feines Ohr, Bertha – rührt das nicht von Rädern her?«
»Ja, und sie nähern sich mit großer Schnelligkeit.«
»Ich ... ich ... ich weiß, du hast ein feines Ohr«, sagte Dot, indem sie die Hand aufs Herz legte und augenscheinlich nur so schnell wie möglich redete, um das Pochen desselben nicht hören zu lassen; »ich weiß es, weil ich es oft bemerkt habe und weil du gestern abend so schnell den Schritt des Fremden erkanntest: obgleich ich nicht recht weiß, warum du sagtest, Bertha – denn ich weiß es noch ganz genau – wessen Tritt das sei und warum er dir mehr auffiel als irgendein anderer. Ja, wie ich soeben sagte, Bertha, es kommen große Veränderungen in der Welt vor, große Veränderungen, und wir können nichts Besseres tun, als uns darauf vorzubereiten, um von nichts mehr überrascht zu werden.«
Kaleb fragte sich, was das alles zu bedeuten habe, da er bemerkte, daß sie sich ebensosehr an ihn wie an seine Tochter wandte. Zu seinem Erstaunen sah er sie so aufgeregt und traurig, daß sie kaum noch zu atmen vermochte und mußte sich an einem Stuhl festhalten, um nicht umzufallen.
»Ja, es sind wirklich Wagenräder!« rief sie außer Atem. »Da kommen sie heran! Und nun hört ihr sie am Hoftor halten ... und was ist das für ein Tritt vor der Haustür – derselbe Tritt von gestern abend, Bertha, nicht wahr? ... Und jetzt ...«
Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, und als sie sich dann auf Kaleb stürzte, legte sie ihm die Hände auf die Augen, genau in dem Augenblick, als ein junger Mann ins Zimmer stürzte und, seinen Hut hoch in die Luft werfend, auf sie zueilte.
»Ist es geschehen?« rief Dot.
»Und glücklich?«
»Erinnert Ihr Euch noch dieser Stimme, lieber Kaleb?« rief Dot. »Habt Ihr früher jemals eine ähnliche gehört?«
»Wenn mein Junge in dem goldenen Südamerika noch lebte...«, begann Kaleb zitternd.
»Er ist noch am Leben!« rief Dot aus, indem sie ihre Hände Kaleb vom Gesicht nahm und entzückt zu klatschen anfing. »Da seht ihn! Seht, da steht er vor Euch, gesund und frisch! Euer lieber guter Sohn! Dein teurer Bruder, Bertha, der lebt und dich liebt!«
Alle Achtung vor dem Entzücken dieses kleinen Geschöpfchens, alle Achtung vor ihrem Weinen und Lachen, während die drei einander umschlungen hielten! Alle Achtung vor der Herzlichkeit, mit welcher sie dem sonnenverbrannten Matrosen mit den fast bis zu den Schultern herabfallenden Haaren entgegentrat, ohne ihr rosiges Mäulchen abzuwenden, ihm vielmehr gestattete, sie frank und frei zu küssen und sie an seine wogende Brust zu drücken.
Aber alle Achtung auch vor dem Kuckuck – und warum nicht! –, daß er aus seiner Luke in dem maurischen Palast grade jetzt wie ein Hausfriedensstörer herausstürzte und zwölfmal einen Anfall von Schlucken hin und über die versammelte Gesellschaft hustete, als wäre auch er vor Freude trunken!
Der Fuhrmann, der jetzt eintrat, wich zurück. Und dazu hatte er schon Grund, denn sich in einer so glücklichen Gesellschaft zu finden, das hatte er nicht erwartet.
»Seht ihn Euch an, John!« rief Kaleb außer sich. »Schaut her! Mein lieber Junge aus dem goldenen Südamerika. Mein leibhaftiger Sohn! Derselbe, den Ihr selbst ausgerüstet und fortgeschickt hattet! Derselbe, dem Ihr allzeit so viel Freundschaft erwieset!«
Der Fuhrmann näherte sich, um ihm die Hand zu reichen. Aber plötzlich wich er zurück; denn einige Züge seines Gesichtes erinnerten ihn an den tauben Mann auf dem Wagen.
»Eduard«, rief er, »warst du es?«
»Jetzt erzähle ihm nur alles«, sagte Dot. »Erzähle ihm alles, Eduard; und schone mich nicht, denn ich bin entschlossen, mich selbst nicht zu schonen.«
»Ja, ich war es«, begann Eduard.
»Und du konntest dich verkleidet in das Haus deines alten Freundes schleichen«, versetzte der Fuhrmann. »Ich kannte einst einen treuherzigen offenen Jungen – wieviel Jahre sind es her, Kaleb, daß wir hörten, er sei tot, und die Beweise dafür zu haben glaubten? – der so etwas nie getan haben würde.«
»Und ich habe einst einen großmütigen Freund gekannt – er war mir mehr Vater als Freund –« sagte Eduard, »der weder mich noch irgendeinen andern Menschen ungehört verurteilt haben würde. Das wart Ihr. Und so bin ich überzeugt. Ihr werdet mich jetzt anhören.«
Der Fuhrmann wurde ganz verwirrt, sah Dot an, die sich noch immer fern von ihm hielt, und sagte:
»Wohlan, es sei ... es ist nur billig und recht ... erzähle!«
»So wißt denn, daß ich, als ich noch ganz junger Mann von hier fortging«, fuhr Eduard fort, »verliebt war und daß meine Liebe erwidert wurde. Sie war noch ein sehr junges Mädchen, das vielleicht – wie Ihr sagen dürftet – ihr Herz noch nicht kannte. Aber ich kannte jedenfalls das meine und hegte eine sehr starke Liebe zu ihr.«
»Du!« rief der Fuhrmann. »Du!«
»Ja freilich, ich!« versetzte der andre. »Und ich fand Gegenliebe. Ich habe es immer geglaubt, und jetzt weiß ich es ganz gewiß!«
»Gott steh' bei mir!« rief der Fuhrmann. »Das ist ja noch schlimmer als alles andere!«
»Treu, wie ich ihr geblieben«, begann Eduard von neuem, »kam ich nach vielen Gefahren und Leiden hoffnungsvoll zurück, um meinen Teil unseres gegenseitigen Schwures zu erfüllen ... da hörte ich einige Meilen von hier, daß sie mir untreu geworden war, daß sie mich vergessen und sich einem andern, reichen Manne geschenkt habe. Ich hatte nicht die Absicht, ihr Vorwürfe zu machen, aber ich wollte sie sehen und mich mit eigenen Augen überzeugen, daß es wahr sei. Ich hoffte, sie möchte dazu gegen ihren Wunsch und Willen gezwungen worden sein. Es wird das nur ein ganz kleiner Trost sein, dachte ich, aber doch immerhin ein Trost, und so kam ich. Um die Wahrheit zu erfahren, die wirkliche Wahrheit und selbst frei beobachten und urteilen zu können, ohne Hindernisse von ihrer Seite und ohne von meinem Einflusse auf sie – wenn ich noch welchen hätte – meinerseits Gebrauch zu machen, verkleidete ich mich – Ihr wißt wie, und wartete an der Landstraße – Ihr wißt wo. Ihr hegtet keinen Verdacht gegen mich; auch sie nicht« – hier deutete er auf Dot – »bis ich ihr da am Kamin ein Wörtchen ins Ohr flüsterte und sie mich fast verraten hätte.«
»Aber als sie erfuhr, daß Eduard noch lebte und zurückgekommen war«, schluchzte Dot, die jetzt selbst das Wort ergriff, worauf sie während der ganzen Erzählung des Matrosen ungeduldig gewartet hatte; »und als sie seine Absicht merkte, riet sie ihm dringend, die Sache geheimzuhalten, denn sein alter Freund Peerybingle wäre von Natur viel zu offenherzig und auch zu linkisch in allen Kunststücken, um das Geheimnis bewahren zu können, – wie er überhaupt ein linkischer Mann ist«, setzte Dot halb lachend, halb weinend hinzu. »Und als sie – das heißt ich, John – ihm alles erzählt hatte, wie sein geliebtes Mädchen ihn für tot gehalten, und wie sie sich schließlich von ihrer Mutter zu einer Heirat habe überreden lassen, die die gute alte Dame in ihrer Einfalt vorteilhaft nannte, und als sie – das heißt wieder ich, John – ihm erzählte, daß sie noch nicht verheiratet (wenn auch kurz davor) seien und daß, wenn diese Heirat zustande käme, es nur eine Aufopferung für die Mutter wäre, da auf ihrer Seite gar keine Liebe vorhanden sei, und als er bei dieser Nachricht vor Freude fast toll wurde, da sagte sie – das heißt nochmals ich, John – daß sie ihm helfen wolle, wie sie das früher schon oft getan, daß sie John und sein Liebchen ausforschen werde und daß sie überzeugt sei, daß das, was sie – wieder ich, John – dachte und tun würde, das Richtige sei. Und es war das Richtige, John! Und da wurden sie zusammengebracht, John! Und dann wurden sie getraut, John – vor einer Stunde! Und hier steht die junge Frau! Und Gruff und Tackleton kann sich als Junggeselle begraben lassen! Und ich bin eine glückliche kleine Frau, May und der Himmel schenke Euch seinen Segen!«
Nebenbei bemerkt – und das muß festgestellt werden –: sie war ein unwiderstehliches kleines Geschöpf; aber nie war sie so absolut unwiderstehlich gewesen, wie in ihrer augenblicklichen Freude. Niemals hat es so zärtliche Glückwünsche gegeben wie die, die sie jetzt an sich selbst und an die junge Frau verschwendete.
Inmitten des Tumults der Gefühle, der sich in seiner Brust erhob, hatte der ehrliche Fuhrmann ganz verdutzt dagestanden. Jetzt eilte er auf sie zu; aber Dot streckte ihm abwehrend die Hand entgegen und wich vor ihm zurück.
»Nein, John, nein! Höre alles! Liebe mich nicht eher wieder, als bis du alles gehört hast, was ich dir zu sagen habe. Es war unrecht von mir, etwas vor dir zu verbergen, John, und ich bereue es bitter. Ich hielt es nicht für so schlimm, bis ich mich gestern abend neben dich auf den kleinen Sessel setzte. Aber als ich auf deinem Gesicht las, daß du mich mit Eduard in der Galerie auf und ab hattest gehen sehen; als ich merkte, was du von mir dachtest, da fühlte ich erst, wie leichtsinnig und ungerecht ich gehandelt.
Aber du mein Gott, lieber John, wie konntest du, wie konntest du nur so etwas von mir denken!«
Diese kleine Frau, wie sie wieder schluchzte. John Peerybingle wollte sie wieder in seine Arme schließen. Aber nein, das konnte sie nicht zugeben!
»Bitte, John, noch darfst du mich nicht wieder liebhaben! Noch lange nicht! Daß mich diese beabsichtigte Heirat so traurig machte. Lieber, das geschah, weil ich an May und Eduard dachte, die sich schon als junge Leute so sehr liebten, und weil ich wußte, daß ihr Herz gar nicht an Tackleton dachte. Das glaubst du doch jetzt auch – nicht wahr, John?«
Bei diesem Appell wollte John einen neuen Angriff auf sie machen. Aber sie wehrte ihn noch einmal ab.
»Nein, bleib noch zurück, John, ich bitte dich! Wenn ich dich, wie ich das ja bisweilen tue, auslache und dich linkisch und einen lieben alten Einfaltspinsel und so weiter nenne, so geschieht das nur, weil ich dich so sehr liebe, John, und deine Art und Weise mir so sehr gefällt, daß ich sie um nichts in der Welt anders haben möchte, und solltest du noch morgen am Tage König werden!«
»Hurra hoch!« rief Kaleb begeistert aus. »Ganz meine Meinung!«
»Und wenn ich von Leuten von reifem und gesetztem Alter rede, John, und behaupte, wir gäben ein komisches Paar ab und liefen nur so dahin wie ein hinkendes Gespann, – das geschieht nur, weil ich ein so albernes kleines Geschöpf bin, John, und bisweilen sogar mit dem Wickelkindchen ein wenig Posse spiele.«
Sie sah, daß er sich wieder näherte, hielt ihn aber zum dritten Mal zurück. Doch beinahe wäre es zu spät gewesen.
»Nein, liebe mich ein paar Minuten lang noch nicht, wenn ich bitten darf, John! ... Was mir ganz besonders am Herzen liegt, habe ich bis zuletzt aufgespart. Mein lieber, guter, rechtschaffener John, als wir neulich abend von dem Heimchen redeten, da hatte ich ein Geheimnis auf den Lippen, nämlich, daß ich dich anfangs nicht ganz so sehr liebte wie jetzt; daß, als ich zum erstenmal hierher in dein Haus kam, ich fast fürchtete, ich könnte dich nicht ganz und gar so lieben lernen, wie ich hoffte und wünschte – ich war ja noch so jung, John! Aber, lieber John, mit jedem Tage, mit jeder Stunde liebte ich dich mehr. Und wäre es mir möglich, dich noch mehr zu lieben, als es der Fall ist, so geschähe es wegen der edlen Worte, die ich heute morgen von dir hörte. Aber das ist unmöglich. All die Zärtlichkeit, die ich besaß, – und das ist eine große Menge, John – habe ich dir geschenkt, wie du es auch verdientest; und zwar schon lange, schon sehr lange, und so habe ich dir nun nichts mehr zu geben. Und jetzt, mein lieber Mann, drücke mich an dein Herz! Hier ist mein Heim, John, und denke nie, nie wieder daran, mich nach einem andern zu schicken!«
Niemals könnt ihr eine solche Freude darüber empfinden, wenn ihr eine wundervolle kleine Frau in den Armen eines andern seht, wie ihr sie empfunden haben würdet, hättet ihr gesehen, wie Dot dem Fuhrmann entgegeneilte. Es war der vollkommenste, ungetrübteste, herzinnigste Ausbruch von Zärtlichkeit, den ihr Zeit eures Lebens gesehen habt.
Das dürft ihr mir glauben, daß der Fuhrmann sich in einem Zustande vollkommener Glückseligkeit befand, und daß es mit Dot ebenfalls so war, ja daß es bei allen der Fall war – einschließlich Tilly Tolpatschs, die vor lauter Freude reichlich Tränen vergoß, und da sie den Wunsch hegte, daß ihr junger Zögling an der allgemeinen Freude sich ebenfalls beteiligte, reichte sie ihn sämtlichen Anwesenden der Reihe nach hin, als wäre er irgendeine Erfrischung gewesen.
Aber jetzt konnte man draußen wieder den Ton von Rädern hören, und jemand sagte, daß Gruff und Tackleton zurückkehre. Wirklich tauchte bald darauf dieser würdige Herr auf, und zwar mit aufgeregtem und hochrotem Gesicht.
»Na, was zum Teufel ist denn das, John Peerybingle?« rief er. »Da muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich hatte mit Frau Tackleton eine Zusammenkunft an der Kirche verabredet, aber ich möchte darauf schwören, daß ich ihr begegnet bin, als ich hierher fuhr ... Ah, da ist sie ja! Verzeihung, mein Herr: habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen – aber wollten Sie mir wohl die Gunst gewähren, mir diese junge Dame abzutreten? – sie hat heute eine ganz besondere Verabredung.«
»Tut mir leid, aber ich kann sie nicht einen Augenblick entbehren«, versetzte Eduard. »Gar kein Gedanke daran!«
»Was wollen Sie damit sagen, Sie Vagabund?« fragte Tackleton.
»Ich will damit sagen«, entgegnete der andere lächelnd, »daß ich, da ich auf Ihren Zorn Rücksicht nehmen muß, allen Ihren Reden gegenüber heute ebenso taub bin, wie ich es gestern gegen alle Reden war.«
Welch einen Blick ihm Tackleton zuwarf! Und wie er plötzlich erschrak!
»Ich bedaure, mein Herr«, fuhr Eduard fort, indem er Mays Hand und besonders den Goldfinger emporhielt, »ich bedaure, daß diese junge Dame Sie nicht in der Kirche treffen kann; aber da sie heute morgen bereits einmal dort gewesen ist, so haben Sie vielleicht die Güte, sie zu entschuldigen.«
Tackleton starrte nach dem vorgezeigten Goldfinger, und dann zog er aus seiner Westentasche ein Stückchen Seidenpapier, das, wie es schien, einen Ring enthielt.
»Fräulein Tilly«, sagte Tackleton, »wollten Sie wohl so freundlich sein, das ins Feuer zu werfen? ... So, danke.«
»Sehen Sie«, begann Eduard wieder, »sie hatte sich mit mir schon früher verlobt – und so ist es meiner jungen Frau nicht möglich, zu Ihrem Stelldichein zu kommen.«
»Herr Tackleton wird mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß ich ihm alles ehrlich berichtete«, sagte May errötend, »und daß ich ihm oft erklärt habe, es sei mir unmöglich, es jemals zu vergessen.«
»O gewiß!« versetzte Tackleton. »O gewiß! Natürlich. Vollkommen richtig. O, ganz in der Ordnung, Mrs. Eduard Plummer – vermutlich?«
»Das ist ihr jetziger Name«, erwiderte der junge Ehemann,
»Ah! Ich hätte Sie nicht wiedererkannt, mein Herr«, sagte Tackleton, indem er aufmerksam sein Gesicht musterte und ihm eine tiefe Verbeugung machte. »Wünsche Ihnen viel Vergnügen, mein Herr!«
»Gleichfalls.«
»Mrs. Peerybingle«, fuhr Tackleton fort, indem er sich plötzlich nach der Seite wandte, wo Dot mit ihrem Mann stand, »ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie haben mir zwar nie ein besonderes Wohlwollen bewiesen, aber, bei meinem Leben, ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie sind besser, als ich glaubte .... John Peerybingle, empfangt ebenfalls den Ausdruck meines Bedauerns. Ihr versteht mich; das genügt. Alles in Richtigkeit, meine Herren und Damen, und zwar zu allseitiger Zufriedenheit. Guten Morgen!«
Mit diesen Worten ging er über die Sache hinweg und ging dann selber von dannen – nur einen Augenblick an der Haustür blieb er stehen, um seinem Pferde den hochzeitlichen Blumen- und Bänderschmuck vom Kopfe zu reißen und diesem armen Tier einen Tritt in die Rippen zu versetzen; vermutlich wollte er ihm auf diese Weise kundtun, daß gerade nicht alles in Richtigkeit sei.
Natürlich wurde es jetzt eine ernste Pflicht, diesen Tag so zu feiern, daß er sein Andenken für immer in dem Festkalender des Hauses Peerybingle zurückließ.
Demgemäß machte sich Dot an die Arbeit, um ein Mahl zu bereiten, das ihr Haus und alle, die ihm verwandt und zugetan sind, mit unsterblicher Ehre bedecken sollte; und in kürzester Frist hatte sie ihre mit Grübchen geschmückten Ellenbogen in Mehl getaucht, wobei sie sich das Vergnügen machte, Johns Rock weiß anzustreichen, sooft er ihr nahe kam, indem sie ihn anhielt, um ihn abzuküssen. Dieser gute Bursche wusch das Gemüse, zerschnitt die Rüben, zerbrach die Teller, stieß die mit Wasser gefüllten Töpfe am Feuer um und machte sich überhaupt in jeder Weise nützlich, während ein paar Köchinnen von Beruf, die in der Eile – just wie bei einem Sterbefall oder einer Geburt – irgendwoher aus der Nachbarschaft zusammengerufen waren, in allen Türen und an allen Ecken gegeneinander rannten und immerfort über Tilly Tolpatsch und das Wickelkindchen stolperten. Noch nie hatte Tilly sich durch ihre Leistungen so ausgezeichnet. Ihre Allgegenwart erregte allgemeine Bewunderung. Sie war ein Stein des Anstoßes im Flur um zwei Uhr fünfundzwanzig Minuten; eine Fallgrube in der Küche um genau halb drei und eine Art Fallstrick in der Dachkammer fünfundzwanzig Minuten vor drei. Des Kindes Kopf war sozusagen ein Prüfstein für jede Art von Gegenstand – mochte er ins Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich gehören. Nichts war an diesem Tage im Gebrauch, das nicht früher oder später nähere Bekanntschaft mit ihm machte.
Dann wurde eine große Expedition ausgerüstet, um Mrs. Fielding aufzusuchen und vor dieser vornehmen Dame reuig und bußfertig zu sein und sie, wenn nötig, mit Gewalt herzubringen, um glücklich zu sein und Absolution zu erteilen. Und als die Expedition sie entdeckte, wollte sie von nichts hören, sondern wiederholte unaufhörlich, sie habe einzig gelebt, um einen solchen Tag erleben zu müssen, und man konnte sie nicht dazu bringen, etwas anderes zu sagen als: »Nun legt mich nur ins Grab hinein« – eine recht unvernünftige Redensart, weil sie weder tot war, noch die Absicht zu sterben hatte. Nach einiger Zeit verfiel sie in einen Zustand beunruhigendster Ruhe und bemerkte, sie habe damals, zur Zeit jener verhängnisvollen Wendung im Indigohandel, deutlich vorausgewußt, daß sie ihr ganzes Leben lang jeder Art von Beleidigung und Beschimpfung ausgesetzt sein würde, und sie sei gar nicht erstaunt, daß es wirklich so gekommen sei, und sie bitte nur, man möge sich ihretwegen nicht bemühen – denn was sei sie? Du lieber Gott, ein Nichts! Man würde ja bald vergessen haben, daß so ein armes Geschöpf wie sie überhaupt gelebt habe, und die Welt würde sich schon ohne sie behelfen. Aus diesem beißenden bittern Ton ging sie zu einem zornigen über und verstieg sich zu der großartigen Äußerung, der Wurm krümme sich, wenn er getreten werde. Hierauf trat eine Stimmung milder Wehmut ein: wenn man sie nur ins Vertrauen gezogen hätte – was für nützliche Ratschläge hätte sie nicht geben können! Diese Krisis in ihren Gefühlen benutzte die Deputation, umarmte sie, und nicht lange nachher hatte sie ihre Handschuhe angezogen und befand sich in tadelloser Vornehmheit auf dem Wege nach John Peerybingles Hause, ein Papierpaket an der Seite mit einer Staatshaube, die fast ebenso groß und jedenfalls ganz ebenso steif war wie eine Bischofsmütze.
Dann mußten in einem zweiten Wagen Dots Eltern geholt werden, und da diese auf sich warten ließen, geriet man in große Unruhe und blickte beständig die Straße hinunter, ob sie noch nicht kämen, und Mrs. Fielding schaute jedesmal nach der verkehrten, ja, vollständig unmöglichen Richtung, und als man sie hierauf aufmerksam machte, sprach sie die Hoffnung aus, sie werde doch wohl die Freiheit haben, hinzublicken, wohin es ihr beliebe. Endlich kamen sie: ein kleines rundliches Paar, in jener zierlichen gemächlichen Weise einherschreitend, die ganz zu der Dot'schen Familie gehörte, und Dot und ihre Mutter hatten eine wunderbare Ähnlichkeit, wie sie so nebeneinander saßen.
Und nun mußte Dots Mutter ihre Bekanntschaft mit Mays Mutter erneuern, und Mays Mutter hob immer wieder ihre Vornehmheit hervor, wogegen Dots Mutter weiter nichts als ihre rührigen kleinen Füße rühmte. Und der alte Dot – ich meine Dots Vater: ich vergaß, daß es nicht sein eigentlicher Name war: aber das ist ganz gleich – der alte Dot erlaubte sich allerlei Freiheiten; schüttelte Leuten, die er bisher nie gesehen, die Hände und schien an einer Haube nichts zu finden, als eine gewisse Menge von Stärke und Musselin, hatte auch dem Indigohandel gegenüber nicht den geringsten Respekt, sondern sagte, daran sei nun einmal nichts zu ändern – kurz er war, nach Mrs. Fieldings summarischem Urteil, ein guter Mann – aber du grundgütiger Himmel, wie ungebildet!
Um nichts hätte ich Dot missen mögen, wie sie in ihrem Hochzeitsstaate die Honneurs machte – und meinen Segen über ihr strahlendes Gesicht! Ja, auch den guten Fuhrmann nicht, der so innerlich froh und mit so hochrotem Gesicht unten am Tisch saß. Noch den gebräunten frischen Matrosen und seine hübsche junge Frau. Noch sonst jemand von den Gästen. Das Essen missen, hieße ein so vergnügtes solides Festmahl missen, wie man sich nur eins wünschen kann: ebenso gut hätte man die überfließenden Becher missen können, aus welchen man auf den Hochzeitstag trank, und das wäre sicherlich der allergrößte Verlust gewesen.
Nach dem Festmahl sang Kaleb sein Lied von der schäumenden Bowle. Und so wahr ich am Leben bin und es noch einige Jahre zu bleiben hoffe, – er sang alle Strophen bis zu Ende.
Und nebenbei bemerkt, gerade in dem Augenblick, als Kaleb mit dem letzten Vers fertig war, geschah etwas ganz und gar Unerwartetes.
Es wurde leise an die Tür geklopft, und ein Mann mit etwas Schwerem auf dem Kopfe kam, ohne zu sagen: »Darf ich?« oder »Mit Eurer Erlaubnis« ins Zimmer gestolpert. Er stellte eine Last mitten auf den Tisch, genau in die Mitte von Nüssen und Äpfeln, und sagte:
»Kompliment von Mr. Tackleton, und da er von dem Hochzeitskuchen selbst keinen Gebrauch mehr machen könne, so möchtet Ihr ihm die Ehre antun, ihn zu verspeisen.«
Mit diesen Worten ging er wieder von dannen.
Wie man sich leicht vorstellen kann, war die Gesellschaft sehr überrascht. Mrs. Fielding, eine Dame von unendlichem Scharfsinn, äußerte sich dahin, der Kuchen sei vergiftet, und erzählte sofort die Geschichte eines Kuchens, von dem ein ganzes Mädchenpensionat blau angelaufen sei. Aber sie ward durch Akklamation überstimmt, und der Kuchen wurde mit großer Feierlichkeit und unter allgemeinem Jubel von May selbst zerschnitten.
Noch niemand, glaube ich, hatte davon gekostet, als zum zweitenmal an die Tür geklopft wurde, und es erschien derselbe Mann mit einem großen braunen Paket unter dem Arm.
»Kompliment von Mr. Tackleton, und hier schicke er einige Spielsachen fürs Wickelkindchen. Und sie seien nicht häßlich.«
Nachdem er hiermit seinen Auftrag ausgerichtet, eilte er wieder davon.
So groß war das Erstaunen der ganzen Gesellschaft, daß sie sehr verlegen um Worte gewesen wäre, selbst wenn sie Zeit genug gehabt hätte, danach zu suchen. Aber es blieb ihr keine Zeit übrig; denn kaum hatte der Bote die Tür hinter sich geschlossen, als zum drittenmal geklopft wurde und Tackleton selbst ins Zimmer trat.
»Mrs. Peerybingle«, begann der Spielwarenhändler mit dem Hut in der Hand, »es tut mir sehr leid. Jetzt noch mehr als heute morgen. Ich habe Zeit gehabt, darüber nachzudenken ... John Peerybingle, ich bin von Haus aus ein alter Griesgram; aber ich kann nicht anders mehr oder weniger weichmütig werden in Gesellschaft eines Mannes, wie Ihr seid ... Kaleb, dieses ahnungslose Kindermädchen, gab mir gestern abend einen rätselhaften Wink, zu dem ich nun die Lösung gefunden habe. Ich erröte, wenn ich daran denke, wie leicht ich Euch und Eure Tochter an mich hätte fesseln können und welch ein erbärmlicher Tropf ich war, als ich sie für einen solchen hielt! Ihr Freunde – erlaubt mir, Euch alle miteinander so zu nennen! – mein Haus ist heute abend ganz verlassen. Nicht einmal ein Heimchen hab ich an meinem Herd. Ich habe sie alle verscheucht. Habt Mitleid mit mir; laßt mich in Eurer glücklichen Gesellschaft auch froh sein!«




Hochzeitsttanz.


In fünf Minuten fühlte er sich vollständig heimisch. Nie habt ihr einen so fidelen Gesellschafter gesehen. Was hatte er denn sein Leben lang getrieben, daß er bis jetzt nie erkannt, welch ein Talent zur Lustigkeit er hatte! Oder wie hatten die Elfen es angefangen, eine solche Verwandlung hervorzubringen?
»John«, flüsterte Dot, »nicht wahr, du schickst mich heute abend doch nicht mehr nach Hause, wie?«
Aber er war doch sehr nahe daran gewesen!
Es fehlte nur noch ein lebendes Wesen, um die Gesellschaft vollzählig zu machen. Und in einem Augenblick war es da, sehr durstig vom schnellen Laufen und indem es sich anstrengte und hoffnungslose Anstrengungen machte, seinen Kopf in einen engen Wasserkrug zu zwängen. Er hatte den Wagen bis ans Ziel seiner Reise begleitet, höchst aufgebracht über die Abwesenheit seines Herrn und schrecklich rebellisch gegen die Expedition. Nachdem er dann einige Zeit um den Stall herumgestrichen und vergebens versucht hatte, das alte Pferd zu einer aufrührerischen Tat zu verführen, war er auf eigene Faust umgekehrt, war in das Schankzimmer gegangen und hatte sich vor das Feuer gelegt. Da er sich jedoch davon überzeugt hatte, daß der Stellvertreter ein Schwindler sei und nicht verdiene, daß man bei ihm bleibe, hatte er sich wieder auf die Beine gemacht und war spornstreichs nach Hause zurückgelaufen.
Am Abend gab's ein Tänzchen. Mit der allgemeinen Erwähnung dieser Lustbarkeit könnte ich die Sache auf sich beruhen lassen, hätte ich nicht einigen Grund anzunehmen, daß es ein ganz origineller und ungewöhnlicher Tanz war. Er wurde in ganz eigentümlicher Weise arrangiert, und zwar folgendermaßen:
Eduard, der Matrose – ein echter, braver, flotter Bursch war er – hatte ihnen allerhand Wunderdinge von Papageien, Goldminen, Mexikanern, Goldstaub usw. erzählt, als es ihm plötzlich in den Kopf kam, aufzuspringen und einen Tanz vorzuschlagen: denn Berthas Harfe war zur Hand, und sie spielte sie, wie ihr's selten zu hören bekommt.
Dot – das heuchlerische kleine Ding, konnte sich manchmal so aufspielen! – Dot behauptete, ihre Tanztage wären vorüber. Aber ich glaube, das sagte sie darum, weil der Fuhrmann gerade seine Pfeife rauchte und sie lieber neben ihm sitzen wollte. Mrs. Fielding blieb nun natürlich nichts andres übrig, als ebenfalls zu behaupten, ihre Tanzzeit sei dahin; und das behaupteten alle; May ausgenommen; May war bereit.
Und so traten Eduard und May unter allgemeinem Beifall vor, um allein zu tanzen, und Bertha spielte ihre fröhlichste Melodie.
Aber ihr mögt mir's glauben oder nicht – noch keine fünf Minuten haben sie getanzt, da wirft plötzlich der Fuhrmann seine Pfeife fort, faßt Dot um die Taille, stürzt mit ihr mitten ins Zimmer und wirbelt auf Hack' und Spitze mit ihr herum, ganz wundervoll. Kaum sieht dies Tackleton, so gleitet er hinüber zu Mrs. Fielding, faßt sie um die Hüfte und tut ebenfalls mit. Kaum sieht dies der alte Dot, sofort ist er ganz Feuer und Flamme, schiebt mit Mrs. Dot mitten in die Tanzenden hinein und ist bald an der Spitze. Als Kaleb dies kaum gesehen hat, packt er Tilly Tolpatsch bei den Händen, und feste geht es darauf los. Fräulein Tolpatsch glaubt natürlich, daß das ganze Geheimnis der Tanzkunst darin liegt, daß man immer in die anderen Paare hineinfällt und möglichst mit ihnen zusammenstößt.
Horcht! Wie das Heimchen mit seinem Zirp–zirp–zirp in die Musik einfällt und wie der Kessel summt!
Aber was ist das! Eben da ich ihnen fröhlich lausche und mich nach Dot umwende, um noch einen Blick auf diese kleine, mir so liebgewordene Gestalt zu werfen, ist sie mit allen andern in Luft zerflossen, und ich bin allein. Ein Heimchen singt am Herde: ein zerbrochenes Kinderspielzeug liegt am Boden, und sonst bleibt mir nichts.
Ende.