Charles Dickens - Die Silvesterglocken


Charles Dickens - 2. Weihnachtsgeschichte
Die Silvesterglocken
Ein Geisterreigen


Sie läuten aus das alte Jahr, die Glocken, und läuten ein – ein neues –




Erstes Viertel


Es gibt der Leute nicht viele, die da gern in einer Kirche schliefen. Es ist wünschenswert, daß ein Geschichtenerzähler und seine Zuhörer so rasch wie möglich sich verständigen, und daher bitte ich, zu bemerken, daß ich diese Behauptung nicht auf einige wenige beschränke, auf junges Volk oder kleines Volk, sondern auf Leute jeder Beschaffenheit ausdehne, auf groß und klein, alt und jung, auf solche, die noch wachsen, oder solche, die schon wieder kleiner werden! Kurz und gut, es gibt nicht viele Leute, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine nicht zur Predigtzeit bei warmem Wetter (das soll schon vorgekommen sein), sondern in der Nacht und allein. Alles würde sich riesig wundern, wenn ich sagen würde: am hellichten Tage. Ich meine aber: bei Nacht. Und ich kann meine Behauptung aufrechterhalten, in der ersten besten stürmischen Winternacht, beim ersten besten, der allein mit mir auf einen alten Kirchhof gehen will zu einer alten Kirchentür und mir erlauben, ihn bis zum frühen Morgen einzuschließen.
Der Nachtwind hat eine böse Art, um ein Gebäude solcher Gattung herumzustreichen, dabei zu seufzen und zu klagen und mit unsichtbarer Hand an Fenster und Türen zu rütteln, um ein Luftloch zu finden, durch das er hineinkommen kann. Und wenn er sich eingeschlichen hat, wimmert und heult er, als ob er etwas suche und nicht finden könne, will wieder hinaus und gibt sich nicht zufrieden damit, durch die Gänge zu fahren und um die Pfeiler zu sausen und auf die brummende Orgel zu schlagen – – nein, er möchte auch noch hinauf und das Sparrenwerk zertrümmern. Dann wirft er sich wieder verzweifelt auf den steinernen Fußboden hin und steigt murmelnd in die Grabgewölbe. Heimlich kommt er wieder herauf, schleicht die Mauern entlang und liest leise flüsternd die Inschriften der Toten. Bei der einen bricht er in schrilles Gelächter aus, bei der nächsten klagt er und seufzt er. Es klingt so gespenstisch, wenn er sich hinter dem Altare versteckt und wilde Weisen singt von Übeltat und Mord, von der Anbetung der Götzen zum Trotze der Gesetzestafeln, die so glatt und schön aussehen und doch so oft schon besudelt und gebrochen wurden. Hu! Der Himmel bewahre uns und lasse uns ruhig und traulich am Feuer sitzen. Er hat eine grauenhafte Stimme, der Wind, um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt.
Und gar erst oben im Turm! Da saust und pfeift der ungeschlachte Geselle hoch oben im Glockenstuhl, wo er frei aus und ein kann durch luftige Bogen und Mauerritzen und sich um die Wendeltreppe wickeln und den kreischenden Wetterhahn umherwirbeln und den Turm selber zittern und beben machen kann. Hoch oben im Kirchturm, wo der Glockenbalken steht und die Eisenriegel der Rost zernagt, wo die Platten von Blei und Kupfer, gerunzelt vom wechselnden Wetter, sich krachend biegen unter ungewohntem Tritt und die Vögel schmutzige Nester in die Ecken der alten eichenen Sparren und Balken stopfen; wo der Staub alt und grau liegt und gesprenkelte Spinnen, faul und fett geworden in träger Ruhe, bei den zitternden Schwingungen der Glocken, ohne den Halt zu verlieren, in ihren aus feinen Fäden in die Luft gesponnenen Schlössern schwanken oder wie Matrosen emporklimmen oder sich hinablassen – aufgeschreckt – und ein Gewimmel von Beinen veranstalten, wenn es gilt, das bißchen Leben zu retten.
Hoch oben im Turm einer alten Kirche, hoch über dem Glanz und dem Murren der Stadt und tief unter den jagenden Wolken, ist es schaurig und gespenstisch nachts. Und hoch oben im Turm einer alten Kirche, da hängen die Glocken, von denen ich erzählen will. Es waren alte Glocken, das sag ich euch. Vor Jahrhunderten hatten Bischöfe sie getauft, vor soviel Jahrhunderten, daß die Urkunden darüber lange schon verlorengegangen waren und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Gevattern und Gevatterinnen und ihre Taufpaten gehabt – ich für meinen Teil würde auch lieber einer Glocke als einem Jungen Pate stehen – und gewiß auch ihre silbernen Becher besessen. Aber die Zeit hat ihre Paten hingemäht und Heinrich VIII. ihre Becher eingeschmolzen, und so hängen sie nun da im Kirchturm, der Becher und der Namen beraubt ...
Doch nicht ihrer Sprache! O nein! Sie hatten eine klare, laute, klangvolle Stimme, diese Glocken, und weithin konnte man sie hören im Winde. Dabei waren sie viel zu breitschulterige Glocken, als daß der Sturm ihnen etwas hätte anhaben können, und wenn er böser Laune war, dann läuteten sie kühnlich gegen ihn an und sandten königlich und stolz ihre fröhlichen Klänge herab in die Ohren der Menschen. Und wenn sie sich's in den Kopf gesetzt, in einer stürmischen Nacht von einer armen Mutter gehört zu werden, die bei ihrem kranken Kinde wachte, oder von einem verlassenen Weibe, deren Mann auf See war, dann sollen sie sogar den heulenden Nordwest überbrüllt haben, wie Toby Veck behauptete.
Toby Veck, der immer Trotty Veck genannt wurde, obwohl niemand ohne besonderen Parlamentsbeschluß an seinem Namen etwas ändern durfte, da er zu seiner Zeit ebenso gesetzmäßig getauft worden wie die Glocken zu der ihrigen, wenn auch nicht unter demselben Gepränge und mit derselben Feierlichkeit. Ich für meinen Teil stehe blind ein für Toby Vecks Behauptung, weil ich weiß, daß er genug Gelegenheit hatte, sich seine Überzeugung zu bilden, und was Toby Veck sagte, das sage ich auch und stelle mich an seine Seite, wiewohl er den ganzen Tag – ein schweres Stück Arbeit – vor der Kirchentüre stehen mußte.
Toby Veck war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge. Im Winter zu warten war's freilich eine windige Stelle, wo man Gänsehaut bekam, rote Augen und blaue Nasen, und sich Zähneklappern und erfrorene Zehen holen konnte. Toby Veck wußte davon ein Lied zu singen. Der Wind blies pfeifend um die Ecke, besonders der Ost. Als wenn er von den äußersten Grenzen der Erde daherkäme, um Toby anzublasen. Und manchmal schien er ihn früher angetroffen zu haben, als er vermutet, denn wenn er um die Ecke kam und an Toby vorüberfuhr, kehrte er plötzlich wieder um, als wollte er sagen, aha, da ist er ja schon. Dann zog er ihm seine kleine, weiße Schürze über den Kopf wie einem nichtsnutzigen Buben das Röckchen, und dann zitterten Toby die Beine, und sein kleiner, schwacher Rohrstock rang vergebens gegen die Stöße und bog sich auf dem Boden krumm. Toby wurde hin und her gebeutelt, gezerrt und gezaust, geschoben und gehoben, bis er ganz schief stand, daß nicht viel mehr fehlte, und er wäre wie ein Frosch, eine Schnecke oder ein anderes tragbares Geschöpf durch die Luft geführt und wieder herabgeregnet worden in einem fremden Erdteil zum großen Erstaunen wilder Eingeborner, denen ein Dienstmann etwas Unbekanntes ist.
Trotzdem war windiges Wetter für Toby, wenn es ihn auch hart mitnahm, so eine Art Feiertag. Tatsache! Die Zeit, bis er wieder einen Sixpence verdiente, wurde ihm bei Wind nicht so lang wie bei anderer Witterung. Seine Aufmerksamkeit, wenn er mit dem ungestümen Element zu kämpfen hatte, war nicht so gespannt. Und es erfrischte ihn förmlich, wenn er hungrig und mißmutig werden wollte. Scharfer Frost oder Schneefall gehörten auch zu den »Ereignissen« und schienen ihm in ihrer Art gutzutun, wiewohl es schwer ist, zu sagen, in welcher. Also Wind und Frost und Schnee und vielleicht auch ein handfester Hagelsturm waren in Toby Vecks Kalender rotangestrichene Tage.
Bloß Regenwetter war ihm das ärgste. Die kalte, feuchte, klamme Nässe hüllte ihn dann wie in einen feuchten Mantel, die einzige Art von Mantel, die sich Toby leisten durfte, deren Entbehrung aber zu seiner Behaglichkeit nur beigetragen hätte. Nasse Tage, wenn der Regen langsam, dick und hartnäckig niederfiel, wenn die Straßen voll Nebel staken, daß er fast erstickte, und dunstende Regenschirme hin und her liefen und rotierten, wie Kreisel auf den dichtgedrängten Trottoirs aneinanderprallten und kleine Wirbel lästigen Sprühwassers von sich schleuderten; nasse Tage, wo die Rinnsteine rauschten und die vollen Dachrinnen lärmten, wo die Nässe von den vorspringenden Kanten des Kirchendachs trip, trip, trip auf Toby tropfte und das Bündel Stroh, auf dem er stand, in Schlamm verwandelte. Ja, das waren Tage, die seine Geduld arg auf die Probe stellten. Dann sah er aus seinem Versteck in der Ecke der Kirchenmauer, dem dürftigen Obdach, das in der Sommerszeit kaum so viel Schatten warf wie ein mäßiger Spazierstock, sehnsuchtsvoll bekümmert und mit langem Gesicht hervor. Wenn er aber eine Minute später herauskam, um sich durch Bewegung zu erwärmen, und einige Dutzende Male auf und nieder getrabt war, dann hellten sich seine Mienen bald wieder auf, und er kehrte versöhnt in seine Nische zurück.
Man nannte ihn Trotty oder Trotter nach seiner Gangart, die darauf zugeschnitten war, den Anschein großer Schnelligkeit vorzutäuschen. Mit ruhigen Schritten hätte er wahrscheinlich viel schneller gehen können, aber hätte man Toby seinen Trab genommen, er wäre bettlägerig geworden und gestorben. Das Traben bespritzte ihn mit Schmutz bei kotigem Wetter, es kostete ihn unsäglich mehr Mühe und Plage als ein ruhiger, bequemer Gang, aber gerade das war ein Grund, weshalb er so hartnäckig an ihm festhielt. Ein schwacher, kleiner, dünner alter Mann in körperlicher Hinsicht, war Toby ein wahrer Herkules an gutem Willen. Es machte ihm Freude, sein Geld schwer zu verdienen, es machte ihm Vergnügen, zu glauben – er war sehr arm, und mit dem »Vergnügen« sah es spärlich aus –, daß er seinen Mann stellte. Hatte er für einen Shilling oder achtzehn Pence eine Botschaft zu besorgen oder ein kleines Paket zu tragen, dann schwoll ihm der Kamm. Wenn er dahertrabte, rief er den Eilpostboten, die vor ihm hergingen, zu, sie möchten ihm doch aus dem Wege gehen, da er davon durchdrungen war, er müsse sie selbstverständlich überholen und über den Haufen rennen. Ebenso war er der felsenfesten Überzeugung, wenn er auch nie in Versuchung kam, sich auf die Probe zu stellen, daß er alles zu tragen vermochte, was ein Sterblicher vom Boden zu lüpfen imstande sei.
So trabte Toby selbst dann, wenn er auf ein paar Schritte bei nassem Wetter aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Mit seinem schadhaften Schuhwerk eine krumme Linie von aufgeweichten Fußstapfen im Straßenschmutz hinterlassend, die erstarrten Hände blasend und reibend, die von der eindringenden Kälte nur spärlich durch fadenscheinige graue Wollfäustlinge mit einer besonderen Abteilung für den Daumen und einem gemeinschaftlichen Raume für die übrigen Finger geschützt waren, mit krummen Knien und dem Rohrstock unter dem Arm, trabte Toby rastlos. Auch wenn er auf die Straße trat, um nach den Glocken zu sehen, wenn es läutete – – trabte er.
Diese Sorte Ausflug machte er mehrmals am Tage, denn sie waren seine Gefährten, die Glocken, und wenn er ihre Stimme hörte, dann zog es ihn, hinaufzublicken und darüber nachzusinnen, wie sie in Bewegung gesetzt wurden und wie wohl die Hämmer aussehen möchten, die auf sie schlügen. Vielleicht interessierten ihn die Glocken auch deswegen, weil ihr Leben so viel Berührungspunkte mit dem seinigen hatte. Sie hingen dort bei Wetter und Wind, durften bloß die Außenseite der Häuser anschauen und kamen nie in die Nähe der lodernden Feuer, die durch die Fenster schimmerten oder aus den Schornsteinen herausstoben. Sie hatten auch keinen Anteil an all den guten Dingen, die dort von der Straße durch die Türen oder durch die Gitter der Küchenfenster schwelgerischen Köchen überantwortet wurden. Und zeigten sich zuweilen an den Fenstern Gesichter und verschwanden wieder – manchmal hübsche, junge, liebliche Gesichter, manchmal das Gegenteil –, Toby konnte ebensowenig – und wenn er noch so über all das nachdachte – wie die Glocken dahinterkommen, woher sie kamen oder wohin sie gingen oder ob sie ihn meinten, wenn sie freundlich die Lippen bewegten. Toby war kein Kasuist – wenigstens wußte er es nicht, und ich will nicht behaupten, daß er alle diese Betrachtungen eine nach der andern anstellte oder mit seinen Gedanken eine Art Heerschau abgehalten hätte, aber was ich sagen will, ist, daß – wie zum Beispiel seine leiblichen Funktionen ohne sein Wissen und seine spezielle Erlaubnis arbeiteten –, so auch seine geistigen Fähigkeiten, und daß sie seine Sympathie zu den Glocken stets lebendig hielten.
Und wenn ich gesagt hätte: »Seine Liebe lebendig erhielten«, so würde ich das Wort nicht zurücknehmen, wenn es auch seine komplizierten Empfindungen nicht vollständig ausgedrückt haben würde. Als schlichter Mann umkleidete er die Glocken mit fremdartigen und feierlichen Eigenschaften. Sie waren so geheimnisvoll. Man hörte sie oft und sah sie nie, sie hingen so hoch oben, waren so weit weg und doch so voll von tiefer, kräftiger Melodie, daß er sie mit einer Art Ehrfurcht betrachtete und, wenn er aufsah zu dem dunklen Bogenfenster im Turm, so halb und halb erwartete, etwas, was zwar keine Glocke, aber doch dasjenige wäre, was er so oft im Glockengeläute klingen hörte, werde ihm winken. Und deswegen trat Toby mit Entrüstung den Gerüchten, die im Umlaufe waren, nämlich, daß es bei den Glocken spuke, als etwas Gehässigem und Sündhaftem entgegen. Kurz, sie klangen ihm oft in den Ohren und noch öfter im Herzen, aber immer im besten Sinn, und oft bekam er einen so steifen Hals, wenn er zu lange mit offenem Munde nach dem Turme gegafft hatte, daß er nachher einmal oder zweimal mehr Trab laufen mußte, um ihn wieder loszuwerden.
Er hatte das an einem kalten Tage eben wieder getan, als der letzte schläfrige Klang der zwölften Stunde wie eine melodische Riesenbiene – aber keine geschäftige – durch den Glockenstuhl summte.
»Mittagszeit – aha«, sagte Toby und trabte vor der Kirche auf und ab. »Aha!«
Tobys Nase war sehr rot, und seine Augenlider auch. Er zwinkerte viel und zog seine Schultern so nah wie möglich an die Ohren, und seine Beine waren sehr steif, kurz, er war außerordentlich durchfroren.
»Aha, Mittagszeit«, wiederholte Toby, indem er sich mit seinen Fäustlingen wie mit Boxhandschuhen auf die Brust schlug. Zur Strafe, weil sie so kalt war. »Aha – ha – ha.«
Dann trabte er ein oder zwei Minuten schweigend auf und ab.
»Es ist nichts los«, sagte Toby, blieb dann plötzlich stehen und befühlte bestürzt seine Nase ihrer ganzen Länge nach. Da er nicht viel von einer Nase hatte, war er damit bald fertig.
»Ich dachte schon, sie wäre weg«, sagte Toby und trabte weiter. »Es ist aber alles in Ordnung. Ich hätte ihr keinen Vorwurf machen können. Sie hat einen harten Dienst bei diesem kalten Wetter und wenig vom Leben, denn – – ich schnupfe nicht. Sie hat einen schweren Stand, das arme Ding, denn wenn sie einmal etwas Gutes riecht, was nicht oft geschieht, so kommt's gewöhnlich von anderer Leute Mittagessen. Es ist nichts regelmäßiger«, fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Mittagszeit, und nichts unregelmäßiger als das Mittagessen. Da liegt der große Unterschied zwischen beiden. Ich habe lange gebraucht, um das so klar zu erfassen. Ich möchte gerne wissen, ob es sich für einen Gentleman verlohnte, diese Observatschon an die Zeitung zu verkaufen oder vors Parlament zu bringen.«
Toby meinte es nicht ernst, denn er schüttelte den Kopf dazu.
»Die Zeitungen sind voll von Observatschonen wie diese und das gleiche ist's mit dem Parlament. Hier das letzte Wochenblatt«, und er nahm eine sehr schmutzige Zeitung aus der Tasche und hielt sie vor sich hin. »Voll von Observatschonen! Voll von Observatschonen! Ich lese die Zeitungen so gern wie nur irgend jemand«, sagte Toby langsam, legte das Blatt noch kleiner zusammen und steckte es wieder in die Tasche. »Aber jetzt geht's mir schon gegen den Strich. Es jagt mir beinah Schrecken ein. Ich weiß nicht, was aus uns armen Leuten werden soll. Gott gebe, daß wir's im neuen Jahr etwas besser haben.«
»Vater, Vater!« sagte eine liebliche Stimme ganz in der Nähe.
Aber Toby hörte sie nicht und trabte auf und nieder, sinnend und mit sich selbst sprechend:
»Mir scheint, wir haben uns verirrt, gehen irr oder sind irr. Ich hatte nicht viel Schule, als ich jung war, und kann nicht ins reine kommen, haben wir etwas auf der Erde zu schaffen oder nicht? Manchmal denke ich, es müsse doch so der Fall sein. Ein bißchen wenigstens. Dann wieder denke ich, wir müssen uns hier nur so eingeschlichen haben. Manchmal bin ich so irr, daß ich nicht einmal herauskriegen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist oder ob wir von Natur böse sind. Es heißt, wir verüben schreckliche Dinge, geben Anlaß zur Klage, verbreiten Wirrnis überall, – – man müsse sich vor uns in acht nehmen. Immer ist die Zeitung voll von uns. Neujahrsgespräch sind wir«, sagte Toby traurig. »Ich kann so viel schleppen wie irgend jemand auf der Welt und mehr als die meisten, denn ich bin stark wie ein Löwe; die andern sind's nicht. Aber wenn wir wirklich kein Recht auf ein neues Jahr haben und uns wirklich nur eingeschlichen haben – – – – –«
»Aber Vater, Vater!« rief die liebliche Stimme wieder. Diesmal hörte es Toby, fuhr zusammen, stand still und sah sich wieder aus seinem Nachdenken über die Möglichkeit eines aufdämmernden Lichts im kommenden Jahr in die Gegenwart zurückversetzt und seiner Tochter gegenüber. Er sah ihr in die Augen – glänzende Augen –, in denen eine Welt lag von unergründlicher Tiefe. Dunkle Augen, die die Blicke spiegelten, die sie ergründen wollten; klare, ruhige, ehrliche Augen von beständigem Glanz wie das Himmelslicht. Schöne, treue Augen, die von Hoffnung glänzten – von junger, frischer Hoffnung –, von einer Hoffnung, so erhebend kräftig und leuchtend, trotz zwanzig Jahren Arbeit und Armut, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden und sagten: »Ich denke doch, wir haben auf Erden etwas zu schaffen – ein klein wenig.«
Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und nahm das blühende Gesicht zwischen seine Hände.
»Nun, Herzblatt«, sagte Trotty, »was gibt's? Ich hab' dich heute nicht erwartet, Meg.«
»Ich dachte auch nicht, daß ich kommen könnte, Vater«, sagte das Mädchen und nickte mit dem Kopf und lächelte. »Aber da bin ich, und nicht allein; nicht allein!«
»Du willst doch nicht sagen«, bemerkte Toby und blickte neugierig auf einen verdeckten Korb, den sie in der Hand trug, »daß du– – –«
»Riech doch, lieber Vater«, sagte Margaret, »riech nur.«
Trotty wollte sofort den Deckel aufheben, doch sie hielt scherzend ihre Hand darauf.
»Nein, nein, nein«, sagte sie, übermütig wie ein Kind, »zieh's noch ein bißchen in die Länge. Ich werde nur den Rand ein wenig wegschieben, den – den Rand«, sagte Meg und tat es mit größter Vorsicht und sprach so leise, als ob sie fürchtete, von irgend etwas im Korbe gehört zu werden. »Nun? Was ist drin?« Toby schnupperte, dann rief er voll Entzücken aus: »Das ist ja was Heißes!«
»Kochend heiß«, jauchzte Meg, »ha, ha, ha, siedend heiß.«
»Hahahä«, lachte Toby und machte einen Luftsprung, »siedend heiß.«
»Aber was ist drin, Vater?« fragte Meg. »Komm, du hast noch nicht geraten, was drin ist. Du mußt doch raten. Ich nehm es nicht eher heraus, bis du nicht erraten hast, was drin ist. Nur nicht so schnell, warte ein bißchen. Ich will dir den Deckel ein wenig mehr aufmachen. So, jetzt rate.«
Meg hatte die größte Angst, daß er am Ende zu bald darauf kommen könnte, und zuckte immer wieder zurück, wenn sie ihm den Korb hinhielt, zog ihre hübschen Schultern in die Höhe und hielt sich das Ohr mit der Hand zu, als könne sie dadurch das rechte Wort in Tobys Mund zurückdrängen, und lachte immerfort leise in sich hinein.
Inzwischen beugte sich Toby, auf jedem Knie eine Hand, mit der Nase nach dem Korbe nieder und tat an dem Deckel einen langen Zug.
Sein verwirrtes Gesicht nahm einen Ausdruck an, als atme er Lachgas ein.
»Ah, das ist ja was Hochfeines«, sagte Toby, »es sind doch nicht am Ende gar polnische Würste?«
»Nein, nein, nein!« schrie Meg entzückt. »Es sind nicht polnische Würste.«
»Nein«, sagte Toby und tat einen neuen Zug. »Es ist milder als Polnische. Es riecht fabelhaft fein, es riecht immer besser und besser. Es riecht zu scharf für Kalbshaxen. Was?«
Meg war in Ekstase. Er konnte nicht noch mehr danebenraten als mit Kalbshaxen oder gar mit Polnischen.
»Leber«, sagte Toby und ging mit sich selbst zu Rate. »Nein, soviel Milde hat Leber nicht. Schweinsknöchel? Nein, es ist nicht schwach genug für Schweinsknöchel. Und für Hahnenköpfe fehlt's ihm an Schärfe. Bratwürste sind's nicht, das weiß ich. Ich will dir sagen, was es ist. Es sind - Kaldaunen!«
»Keine Spur!« schrie Meg, außer sich vor Entzücken. »Keine Spur!«
»Was mir alles durch den Kopf schießt«, sagte Toby und nahm plötzlich eine Stellung an, so schief, wie es die Gesetze der Anziehungskraft der Erde nur irgend erlaubten, »ich werde nächstens schon nicht mehr wissen, wie ich heiße. Ha! Kuttelfleck ist's.«
Richtig, Kuttelfleck war es, und Margaret versicherte hocherfreut, in einer halben Minute werde er sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedämpft worden seien.
»Und jetzt«, sagte Meg und machte sich vergnügt mit dem Korb zu schaffen, »will ich aufdecken, Vater, denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und ein Taschentuch drumgebunden, und wenn ich einmal so hochfahrend bin und benütze es als Tischtuch und nenne es so, so verstößt das gegen kein Gesetz, oder doch, Vater?«
»Nicht daß ich wüßte, mein Liebling«, sagte Toby, »Wiewohl immer neue Gesetze aufkommen.«
»Weißt du noch, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, was der Richter sagte! Wir armen Leute müßten alle Gesetze kennen! Nein, so was, du meine Güte, für wie gescheit sie uns halten!«
»Ja, mein Liebling!« rief Trotty, »und wie sie uns dann gerne hätten, wenn wir sie alle wüßten. Fett würden wir von der Arbeit, die wir bekämen, und heiß geliebt von den Vornehmen wären wir. Und wie!«
»Man hätte dann immer ein Mittagessen, das so gut röche wie dieses«, sagte Meg lustig. »Mach schnell, denn es ist auch eine heiße Kartoffel dabei und ein Quart Bier in der Flasche. Wo willst du essen, Vater? Auf dem Geländer oder auf den Stufen dort? Was wir für große Leute sind! Zwischen zwei Plätzen kön- nen wir wählen!«
»Heute auf den Stufen, Herzblatt«, sagte Trotty. »Bei trocknem Wetter auf den Stufen – auf dem Geländer, wenn's regnet. Auf den Stufen ist's viel bequemer von wegen des Sitzens, bei feuchtem Wetter, da gäbe es Rheumatismus.«
»Also hier«, sagte Margaret und klatschte in die Hände, nachdem sie alles vorbereitet. »Hier, hier steh's! Und wie fein es aussieht! Komm, Vater, setz dich!«
Seitdem Trotty drauf gekommen war, was der Korb enthielt, hatte er dagestanden und zerstreut sie angesehen und ebenso gesprochen, was bewies, daß, obgleich sie mit Ausschluß sogar der Kuttelflecke ihm vor Augen und Gedanken stand, er sie dennoch nicht sah, wie sie in diesem Augenblicke war, sondern daß offenbar irgendein phantastisches Bild, ein unbestimmtes Drama ihres zukünftigen Lebens ihm vorschwebte. Von ihrer muntern Aufforderung aus seinem Traum gerissen, wollte er eben melancholisch den Kopf schütteln, bezwang sich aber und trat an ihre Seite, da läuteten gerade, wie er sich niedersetzen wollte, die Glocken.
»Amen!« sagte Trotty, nahm den Hut ab und blickte empor.
»Amen? Den Glocken, Vater?« fragte Margaret.
»Sie fielen ein wie zum Gebet, mein Liebling«, sagte Trotty und setzte sich. »Ich bin überzeugt, sie sprächen ein gutes Gebet, wenn sie's nur könnten. Viele freundliche Dinge sagen sie mir oft.«
»Die Glocken?« lachte Meg, als sie die Schüssel, Messer und Gabel vor ihm hinsetzte. »So, so.«
»Ja, bestimmt, mein Liebling«, sagte Trotty und fiel über seine Mahlzeit her. »Wenn ich sie nur höre, was ist da für ein Unterschied, ob sie da sprechen oder nicht. – Gott segne dich, mein Kind!« fuhr Toby fort und deutete mit der Gabel nach dem Turm und wurde immer lebendiger durch das Essen. »Wie oft hab' ich diese Glocken sagen hören: Toby Veck, Toby, sei guten Muts, Toby, Toby Veck, Toby Veck, sei guten Muts, Toby! Tausende Male und öfter noch.«
»So, so, ich nicht!« rief Meg.
Und doch hatte sie's aber- und abermal gehört, denn es war doch das ewige Gesprächsthema Tobys.
»Wenn die Geschäfte schlecht gehen, so ganz schlecht, ich meine, so schlecht wie nur überhaupt möglich, dann kling's von dort her: Toby Veck, Toby Veck, bald kommt was.«
»Und es kommt auch was schließlich, Vater!« sagte Meg mit einem Anflug von Traurigkeit in ihrer lieblichen Stimme.
»Immer«, antwortete der arglose Toby. »Niemals bleibt's aus.«
Während dieser ganzen Unterhaltung setzte Toby ohne Unterlaß seinen Angriff auf das duftige Mahl fort, das vor ihm stand, und schnitt und aß, und schnitt und trank, und schnitt und kaute, und stach mit der Gabel vom Kuttelfleck nach den Erdäpfeln und von den Erdäpfeln nach dem Kuttelfleck mit nim- mer ermüdendem Appetit. Als er aber seinen Blick für den Fall, daß irgend jemand aus irgendeiner Tür oder einem Fenster nach einem Dienstmann winken sollte, rings um die Straße schweifen ließ, da fielen seine Augen auch auf Meg, die mit verschränkten Armen gegenüber saß und ihm mit glücklichem Lächeln beim Essen zusah.
»Gott vergebe mir«, sagte Toby und ließ Messer und Gabel sinken, »Meg, mein Täubchen, warum machst du mich nicht aufmerksam, was ich für eine Bestie bin!«
»Wieso, Vater?«
»Ich sitze hier«, sagte Toby reuevoll, »und pfropfe und stopfe mich voll und fresse mich tot, und du sitzest vor mir und fastest und hast nichts zu essen, während –«
» Ich habe doch schon gegessen, Vater«, unterbrach ihn seine Tochter lachend, »habe schon längst mein Essen unten.«
»Unsinn«, sagte Trotty, »zwei Mittagessen an einem Tag, so was gibt's nicht. – Du könntest mir ebensogut weismachen, daß zwei Silvester zusammenfielen oder daß ich einen Goldfuchs gehabt und ihn nie gewechselt hätte.«
»Trotzdem habe ich mein Mittagessen doch schon gegessen, Vater«, sagte Meg und trat näher an ihn heran. »Und wenn du weiteressen willst, werde ich dir dabei erzählen, wo und wie, und wie ich zu deinem Mittagsmahl kommen konnte und es dir herbringen und – – – sonst noch etwas.«
Toby schien noch immer ungläubig, aber sie blickte ihm ins Gesicht mit ihren klaren Augen, legte ihm die Hand auf die Schulter und bat ihn, doch nicht aufzuhören, solange es noch heiß sei. Da nahm Trotty Messer und Gabel wieder zur Hand und ging wieder ans Werk, aber viel langsamer als vorher und kopfschüttelnd, als sei er mit sich gar nicht zufrieden.
»Vater«, sagte Meg nach einigem Zaudern, »ich habe mit – – Richard gegessen. Er machte zeitig Mittag, und da er sein Essen mitbrachte, als er mich besuchte, da – da haben wir es miteinander geteilt, Vater.«
Trotty nahm einen Schluck Bier und schnalzte mit den Lippen. Dann sagte er: »Oh!« – Weil sie wartete.
»Und Richard sagt –«, nahm Meg wieder das Wort und zögerte.
»Was sagt Richard denn, Meg?« fragte Toby.
»Richard sagt, Vater«, und wieder zögerte sie.
»Daß Richard so lange braucht, um etwas zu sagen!« meinte Toby.
»Er sagt also, Vater«, fuhr Meg fort mit deutlicher Stimme, die aber ein wenig zitterte, und schlug ihre Augen auf, »er sagt, es sei schon wieder ein Jahr um, und was das für einen Nutzen hätte, von Jahr zu Jahr zu warten, wo es doch so unwahrscheinlich sei, daß wir jemals in bessere Verhältnisse kämen. Er sagt, wir wären jetzt arm, Vater, und würden es auch später sein. Jetzt aber wären wir noch jung, und die Zeit würde uns alt machen, ehe wir es merkten. Er sagte, wenn Leute wie wir warteten, bis der Weg geebnet sei, dann würde er uns gerade zum Grabe geebnet sein.«
Es hätte ein Mann von größerer Kühnheit dazu gehört als Toby Veck, um darauf etwas Stichhaltiges erwidern zu können. Daher schwieg er.
»Und wie hart ist's, Vater, alt zu werden und zu sterben und denken zu müssen, wir hätten einander erfreuen und beistehen können. Wie hart, uns unser Leben lang zu lieben und jedes für sich allein zu arbeiten und sich abzuhärmen und abzuzehren und einander alt und grau werden zu sehen. Selbst wenn ich's über mich brächte – was ich nie könnte – und ihn vergäße, o lieber Vater, wie hart ist's doch, ein Herz im Leibe zu haben, so voll wie das meine, und es langsam verdorren zu lassen, ohne auch nur einen einzigen glücklichen Augenblick in dem Leben des Weibes gehabt zu haben, der mich trösten und besser machen könnte.«
Trotty saß ganz still. Meg trocknete ihre Augen und sagte lachend und seufzend zugleich: »Das sagt Richard, Vater. Da er nun für einige Zeit gesicherte Arbeit hat und weil ich ihn liebe und schon drei Jahre liebe – viel länger als er weiß –, so wollen wir uns am Neujahrstag, dem besten und glücklichsten Tag im Jahr, heiraten. Weil das sicher Glück bringen muß. Es ist freilich eine kurze Frist, Vater, nicht wahr? Aber es braucht ja nicht erst mein Vermögen geordnet oder mein Brautkleid gemacht zu werden wie bei großen Damen, Vater! Nicht wahr? Das sagte er alles und sagte es in seiner Weise, fest und entschlossen und doch so gut und freundlich, daß ich ihm versprach, mit dir zu reden. Und da man mir ganz unerwartet diesen Morgen meine Arbeit bezahlt hat und du eine ganze Woche so spärlich gelebt hast, so wollte ich uns aus dem heutigen Tag einen Feiertag machen und brachte dir ein kleines Festessen mit, lieber Vater, um dich zu überraschen.«
»Schau nur, wie kalt er es auf der Treppe werden läßt.« Es war die Stimme des besagten Richard, der unbemerkt herangekommen war und vor Vater und Tochter stand und auf sie niederblickte, mit einem Gesicht so rot wie das Eisen, auf das tagaus, tagein sein gewaltiger Schmiedehammer niedersauste. Ein hübscher, wohlgebauter, kraftvoller, junger Bursche war er, mit Augen, die sprühten wie die glühenden Funken der Esse, und schwarzen Haaren, die sich prächtig um seine gebräunten Schläfen lockten, und mit einem Lächeln, das Megs Lobeshymnen in sehr begreiflichem Licht erscheinen ließ.
»Schau nur, wie er es auf den Stufen kalt werden läßt«, sagte Richard. »Meg weiß nicht einmal, was er gerne ißt.«
Trotty, ganz Feuer und Flamme, reichte Richard sogleich die Hand und wollte eben etwas in großer Hast sagen, als sich die Haustüre unversehens öffnete und ein Bedienter beinahe in die Kuttelflecke trat.
»Aus dem Weg da. Müßt Ihr Euch immer auf unsere Treppen setzen! Könnt Ihr nicht einmal mit dem Haus daneben abwechseln, was! Werdet Ihr Euch wohl aus dem Weg scheren oder nicht!«
Die letzte Frage war überflüssig, denn es war bereits geschehen.
»Was gibt's? Was gibt's?« fragte der Herr, dem die Tür aufgemacht wurde und der mit dem geheuchelt mühelosen Schritt aus dem Hause trat, der einen Gentleman verrät. Einen, der mit knarrenden Stiefeln, einer Uhrkette und weißer Wäsche den Berg des Lebens bereits wieder hinabsteigt und stets eine Würde zur Schau trägt und sich immer den Anschein gibt, als stäke er mitten in wichtigen und ernsten Geschäften. »Was gibt's? Was gibt's?«
»Kniefällig soll man Euch vielleicht bitten, daß Ihr unsere Treppe in Ruhe laßt«, sagte der Bediente in großer Erregung zu Toby Veck. »Ihr könnt sie nicht in Ruhe lassen. Es kann und darf nicht sein, was?«
»Na, ist schon gut, ist schon gut«, sagte der Herr. »Hallo, Sie da! Dienstmann!« Und er winkte Toby Veck mit dem Kopfe. »Kommen Sie mal her. Was ist das? Euer Mittagessen?«
»Ja, Sir«, sagte Trotty und ließ es in einer Ecke stehen.
»Lassen Sie's nicht dort stehen. Bringen Sie es her, bringen Sie es her! So, das ist also Euer Mittagessen, was?«
»Ja, Sir«, erwiderte Trotty und blickte mit starrem Auge und wässerigem Mund nach dem Stück Kuttelfleck, das er sich als letzten Leckerbissen aufgehoben hatte und das der Herr jetzt mit der Gabel aufspießte und umdrehte.
Zwei andere Herren waren mit jenem zugleich aus dem Hause getreten. Der eine war ein niedergeschlagener Gentleman von mittlern Jahren mit dürftiger Kleidung und unzufriedenem Gesicht; er hatte beständig die Hände in den Taschen seiner pfefferundsalzfarbigen, engen Hose, die infolge dieser Gewohnheit weit abstanden wie Ohren. Er war nicht besonders rein gewaschen und gebürstet. Der dritte Herr dagegen war von gewichtiger Statur und sorgfältig geschniegelt. Er trug einen blauen Frack mit blanken Knöpfen und eine weiße Halsbinde. Sein Gesicht war sehr rot, als ob das ganze Blut des Körpers in seinem Kopfe kreiste. Man hatte das Gefühl, als ob er aus diesem Grunde ein kaltes Herz haben müsse.
Derjenige, der Tobys Mittagsmahl auf der Gabel herumdrehte, rief den ersten unter dem Namen Filer an, und beide steckten jetzt die Köpfe zusammen. Da Mr. Filer außerordentlich kurzsichtig war, so mußte er so nahe mit dem Gesicht an das Überbleibsel von Tobys Mittagessen heran, um es zu erkennen, daß sich dem armen Trotty fast das Herz im Leibe umdrehte. Aber Mr. Filer aß es nicht.
»Es ist eine Art animalischen, eßbaren Stoffes, Alderman«, sagte Filer und bohrte mit dem Bleistift kleine Löcher hinein, »der der Arbeiterklasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelfleck bekannt ist.«
Der Alderman lachte und zwinkerte mit einem Auge, denn er war ein gar spaßhafter Herr, der Alderman Cute. Und ein Schlaukopf obendrein. Ein Eingeweihter! Einer, der alles wußte und alles kannte. Der tief hineinsah in des Volkes Herz. Wenn es je einer durchschaut hatte, so war es Cute.
»Wer aber ißt Kuttelfleck?« sagte Mr. Filer und blickte umher. »Kuttelfleck ist ohne Ausnahme der wenigst ökonomische, verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte dieses Landes möglicherweise produzieren können – überhaupt nur produzieren können. Man hat herausgefunden, daß ein Pfund Kuttelfleck beim Kochen sieben Achtel an Gewicht verliert, ein Fünftel mehr als irgendeine andere animalische Substanz. Kuttelflecke sind im eigentlichen Sinn des Wortes luxuriöser als Treibhausananas. Wenn man die Zahl der Rinder rechnet, die jährlich nur innerhalb des Stadtweichbildes geschlachtet werden, und die Quantität der Kuttelflecke, die die Leiber dieser Rinder ergeben, noch so niedrig anschlägt und den Wegfall gar nicht berechnet, so ergibt sich, daß von dem Verluste der Kuttelflecke, der durch das Kochen entsteht, eine Garnison von fünfhundert Mann fünf einunddreißigtägige Monate und einen Februar lang leben könnte. Diese Verschwendung! Diese Verschwendung!«
Trotty stand mit offenem Munde da, und die Knie schlotterten ihm. Er sah aus, als wenn er eine Garnison von fünfhundert Mann eigenhändig ausgehungert hätte.
»Wer ißt Kuttelflecke?« fragte Mr. Filer mit Wärme. »Wer ißt Kuttelflecke?«
Trotty verbeugte sich kläglich.
»Ihr? Ihr?« fragte Mr. Filer. »Dann will ich Euch etwas sagen, mein Freund. Ihr schnappt Eure Kuttelflecke den Witwen und Waisen vor dem Munde weg.«
»Ich hoffe doch nicht«, sagte Trotty schüchtern. »Da möchte ich lieber Hungers sterben!«
»Dividieren Sie die vorher erwähnte Zahl von Kuttelfleck«, fuhr Mr. Filer fort, »mit der ungefähren Zahl der Witwen und Waisen, und ein Gramm Kuttelfleck wird auf jede einzelne entfallen, Alderman! Und nicht ein Jota bleibt für den Mann übrig! Folglich ist er ein Räuber!«
Trotty war so erschüttert, daß es ihn gar nicht bekümmerte, als der Alderman das Stückchen Kuttelfleck selber verzehrte. Er war fast froh, es los zu sein.
»Und was sagen Sie?« fragte der Alderman aufgeräumt den Herrn mit dem roten Gesicht und dem blauen Frack. »Sie haben Freund Filer gehört. Was sagen Sie dazu?«
»Was kann man dazu sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich da sagen? Was soll einen an einem Kerl wie diesem«, er deutete auf Trotty, »interessieren in einer Zeit des Verfalles wie der unsrigen. Schauen Sie ihn nur an. Was für ein Geschöpf! O die gute, alte Zeit, die grandiose, alte Zeit! Die trefflichen alten Zeiten! Das waren so die rechten Zeiten für einen kühnen Bauernstand. Das war noch eine Zeit, mit der man etwas anfangen konnte. Heute gibt's das nicht mehr. Ach, die guten, alten Zeiten! Die guten, alten Zeiten!«
Er sprach sich nicht näher aus, was für Zeiten er meinte. Auch wollte er nicht etwa in einer Anwandlung von Selbstlosigkeit sagen, er mache der Gegenwart Vorwürfe, weil sie nichts Wichtigeres als seine Person hervorgebracht.
»Die guten, alten Zeiten! Die guten, alten Zeiten!« wiederholte er in einem fort. »Das waren noch Zeiten! Zeiten, einzig in ihrer Art! Was soll man da noch von ändern Zeiten reden oder gar diskutieren! Was für ein Volk jetzt lebt! Sie werden das doch nicht eine >Zeit< name="page123">haben mußte, denn er konnte es nicht ertragen, daß Margaret mitten in ihre Hochzeitsfreude von diesem weisen Herrn das Schicksal gesagt bekam. »Gott schütze sie«, dachte er, »sie wird's noch zeitig genug erfahren.«
Er gab daher dem jungen Schmied hastig einen Wink, er möge sie wegführen. Aber dieser war so vertieft in ein zärtliches Gespräch mit Meg, daß er erst aufmerksam wurde, als ihn bereits der Alderman Cute erblickt.
Hier hatte der Alderman seine Weisheit noch nicht anbringen können. Er war ein Philosoph, und was für ein praktischer; und da er keinen Zuhörer verlieren wollte, rief er: »Halt!«
»Sie wissen«, sagte der Alderman zu seinen beiden Freunden mit seinem gewohnten, selbstgefälligen Lächeln, »ich bin ein gerader Mann und ein Praktiker und gehe geradeaus und praktisch zu Werke. Das ist so meine Art. Für jemanden, der's versteht, mit dieser Sorte Leuten umzugehen und in ihrer eignen Weise mit ihnen zu sprechen, ist gar kein Geheimnis dabei. Sie da, Dienstmann, kommen Sie oder sonst jemand Ihresgleichen mir nicht damit, daß Sie nicht genug zu essen hätten oder nicht vom Besten, denn ich weiß das besser. Ich habe Ihre Kuttelflecke gekostet. Mich leimen Sie nicht. Sie wissen doch, was >leimen<>harte Zeiten<. Ihr kennt doch die Redensart. Hahaha, ich werde sie ausrotten. Es wird da gefaselt von Hungersnot. Ich werde das schon ausrotten. So steht die Sache. Lieber Himmel«, fuhr der Alderman fort und wandte sich wieder an seine Freunde. »Man kann bei dieser Sorte Volk alles ausrotten, man muß es nur geschickt anfangen.« Trotty nahm Margarets Hand und zog sie, ohne sich klar zu sein warum, durch seinen Arm.
»Eure Tochter, was?« fragte der Alderman und griff dem Mädchen vertraulich unter das Kinn.
Immer leutselig mit den arbeitenden Klassen, der Alderman Cute! Er wußte, was ihnen gefiel, und war nicht im geringsten stolz.
»Und wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.
»Tot«, sagte Toby. »Ihre Mutter war Wäscherin und wurde in den Himmel berufen, als das Kind geboren wurde.«
»Doch nicht, um dort Wäsche zu waschen?« scherzte der Alderman.
Mochte Toby imstande sein oder nicht, sich seine Frau im Himmel von ihrer alten Beschäftigung getrennt zu denken, so muß man sich doch fragen, wenn Mr. Alderman Cutes Gattin im Himmel gewesen wäre, hätte sie vielleicht dort die Würde einer Frau Bürgermeisterin innegehabt?
»Und Ihr macht ihr wohl den Hof, was?« sagte Cute zu dem jungen Schmied.
»Ja«, sagte Richard kurz, denn ihn ärgerte die Frage, »wir werden am Neujahrstag heiraten.«
»Was? Heiraten?« fragte Filer scharf.
»Nun ja, daran denken wir, Meister«, sagte Richard. »Wir haben es eilig, wie Sie sehen. Damit wir nicht früher – ausgerottet werden.«
»Ach«, seufzte Filer tief auf, »rotten Sie das doch aus, Alderman. Damit täten Sie etwas Großes! Heiraten! Heiraten! Diese Unkenntnis der ersten Grundsätze der Nationalökonomie bei diesem Volk! Diese Unüberlegtheit und Niedertracht ist, beim Himmel, genügend, um – Sehen Sie sich nur einmal dieses Paar an, tun Sie mir den Gefallen.«
Sie waren allerdings des Ansehens wert, und eine Ehe schien etwas so Vernünftiges und Anständiges für sie zu sein wie nur irgend etwas.
»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Filer, »und sich das ganze Leben abplagen und Daten auf Zahlen, Zahlen auf Daten häufen, ganze Berge hoch, und Hopfen und Malz ist verloren, wenn man ihnen dann klarmachen will, daß sie kein Recht haben zu heiraten. Und daß sie kein Recht haben, geboren zu werden. Wir wissen längst, daß sie kein Recht dazu haben. Wir haben das längst mathematisch erfaßt und zur mathematischen Gewißheit erhoben.«
Alderman Cute amüsierte sich köstlich und legte seinen Zeigefinger an die Nase, als wollte er damit seinen beiden Freunden sagen: Jetzt gebt einmal acht, was ich tun werde. Seht einmal den Praktiker! Und er rief Meg zu sich.
»Komm hierher, Mädel«, sagte Alderman Cute.
Das Blut war während der letzten Minuten Megs Geliebtem heiß in den Kopf gestiegen, und er wollte sie nicht gehen lassen. Doch bezwang er sich und trat mit vor, als sie hinging, und stellte sich neben sie. Trotty hielt noch immer ihre Hand in seinem Arm, sah aber so verstört von einem Gesicht zum andern wie ein Träumender.
»Ich will dir mit ein paar Worten einen guten Rat geben, Mädel«, sagte der Alderman in seiner bekannt leutseligen Weise. »Es ist mein Beruf, Rat zu erteilen, denn ich bin eine Justizperson. Du weißt, daß ich eine Justizperson bin, nicht wahr?« Meg bejahte schüchtern. Jedermann wußte doch, daß Alderman Cute eine Justizperson war, und was für eine emsige. Der Stolz der Öffentlichkeit, der Alderman Cute!
»Du willst dich also verheiraten«, fuhr der Alderman fort, »recht unschicklich und ungeziemend, da du dem weiblichen Geschlecht angehörst. Doch davon wollen wir absehen. Wenn du aber verheiratet bist, wirst du dich mit deinem Mann herumzanken und ein elendes, unglückliches Weib sein. Du bedenkst das nicht, aber es wird so kommen, weil ich es dir sage. Ich warne dich, weil ich mich entschlossen habe, die elenden und unglücklichen Weiber auszurotten. Laß dich also in solcher Gestalt nicht vor mir sehen. Du wirst Kinder haben. Sagen wir, Jungen. Diese Jungen werden natürlich wild aufwachsen und in den Straßen Unfug treiben, barfuß und in Lumpen. Merk dir, mein gutes Kind: Ich werde sie summarisch bestrafen, jeden einzelnen, denn ich bin fest entschlossen, Jungen ohne Schuhe und Strümpfe auszurotten. Vielleicht – sogar höchstwahrscheinlich – wird dein Mann jung sterben und dich mit einem Wickelkind zurücklassen. Dann wirst du vor die Tür gesetzt und treibst dich in den Straßen herum. Dann laß dich nur ja nicht so vor mir sehen, meine Liebe, denn ich bin fest entschlossen, obdachlose Mütter auszurotten. Es ist überhaupt mein Entschluß, alle jungen Mütter aufzuräumen. Komme mir dann nicht etwa mit Krankheit oder kleinen Kindern als Entschuldigungsgrund, denn alle Kranken und kleinen Kinder – ich hoffe, du kennst den Kirchengesang, ich fürchte, du kennst ihn nicht – werde ich ausrotten. Und solltest du vielleicht dich gar unterstehen, in undankbarer, gottloser und heuchlerischer Weise den Versuch zu machen, dich aufzuhängen oder zu ersäufen, so rechne nicht auf mein Mitleid, denn ich habe mich verschworen, den Selbstmord auszurotten. Untersteh dich also nicht. So liegen die Verhältnisse! Wir verstehen uns, was! Haha.«
Toby wußte nicht, ob er vor Schreck in die Erde sinken oder aufjauchzen sollte, als er sah, daß Meg, totenblaß geworden, die Hand ihres Geliebten losgelassen hatte.
»Und was dich angeht, junger Hund«, sagte der Alderman und wandte sich mit noch größerer Leutseligkeit und bürgerlicher Herablassung an den jungen Schmied, »warum willst du denn mit aller Gewalt heiraten? Weshalb brauchst du denn zu heiraten, du einfältiger Bursche. Wenn ich ein junger, hübscher, kräftiger Kerl wäre wie du, ich würde mich schämen, ein solcher Schwachkopf zu sein und mich an eine Schürze zu hängen. Wetter noch einmal! Sie ist ein altes Weib, wenn du in den besten Jahren bist. Das wird ein hübsches Bild geben, wenn eine Schlampe von Frauenzimmer und eine Herde von Schreihälsen dir auf Schritt und Tritt nachlaufen werden.«
Oh, Alderman Cute verstand gut mit gewöhnlichem Volk umzuspringen!
»Und marsch fort jetzt«, sagte der Alderman, »und geht in euch. Laßt die Dummheit bleiben, am Neujahrstag zu heiraten. Ihr werdet ganz anders denken, wenn das nächste neue Jahr kommt. Ein hübscher, junger Bursche wie du, dem alle Mädel nachschauen! Also, marsch, fort mit euch!« Und sie gingen. Nicht Arm in Arm oder Hand in Hand oder fröhliche Blicke wechselnd, sondern sie in Tränen, er düster und niedergeschlagen. Waren das die Herzen, die noch vor kurzem aus Trübseligkeit gerissen und vor Freude außer Rand und Band waren? Nein, nein! Der Alderman, Gottes Segen auf sein Haupt, hatte ihre Freude ausgerottet.
»Da Ihr gerade hier seid«, fuhr der Alderman zu Toby gewendet fort, »könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Könnt Ihr schnell laufen? Ihr seid ein alter Mann.«
Toby, der ganz geistesabwesend Meg nachgeblickt, beteuerte, daß er sehr schnell und außerordentlich kräftig sei.
»Wie alt?« verhörte ihn der Alderman.
»Ich bin über sechzig, Sir«, antwortete Toby.
»Oh, dieser Mann ist ein gutes Stück über das mittlere Alter hinaus«, rief Mr. Filer in einem Tone aus, als ob auch das seine Geduld auf eine harte Probe stelle und die Sache denn doch zu weit treiben heiße.
»Ich fürchte, ich bin Ihnen lästig, Sir«, sagte Toby, »ich befürchtete es schon heute morgen. O mein Gott!«
Der Alderman schnitt ihm kurz das Wort ab und nahm einen Brief aus der Tasche. Toby würde auch einen Shilling bekommen haben, da aber Mr. Filer klar bewies, daß man in diesem Falle eine gegebene Anzahl Personen um soundso viel per Kopf berauben würde, so bekam er nur einen Sixpence. Er war noch zu Tod froh, daß er den bekam.
Dann hängte sich der Alderman in seine beiden Freunde ein und stieg davon – aufgeblasen wie ein Truthahn. Gleich darauf aber kam er allein zurück, als hätte er etwas vergessen:
»Dienstmann!«
»Sir?«
»Haben Sie ein Auge auf Ihre Tochter. Sie ist viel zu hübsch.«
Selbst ihr hübsches Gesicht muß sie wohl jemand gestohlen haben, dachte Toby und sah sich den halben Shilling in seiner Hand an und dachte über den Kuttelfleck nach. Sie hat wahrscheinlich fünfhundert Damen jeder einen Reiz gestohlen. Es ist wirklich schrecklich.
»Sie ist viel zu hübsch, Mann«, wiederholte der Alderman. »Das wird kein gutes Ende nehmen. Passen Sie auf, was ich sage. Nehmen Sie sie gut in acht.«
Damit eilte er wieder fort.
»Unheil auf allen Wegen und Stegen - Unheil, wohin man auch blickt«, sagte Trotty und rang die Hände. »In Sünden geboren, es ist kein Geschäft auf der Welt.«
Da fielen die Glocken dröhnend ein, mit lautem, tiefem Klang. Aber sie gössen keinen Trost in sein Herz. Nein, nicht einen Tropfen.
»Sie haben einen andern Klang«, jammerte der alte Mann, »es ist kein Wort mehr drin von all den schönen Träumen. Und wozu denn auch. Es ist kein Geschäft hier unten. Im neuen Jahr nicht und nicht im alten. Ich möchte mich hinlegen und sterben.«
Und immer noch dröhnten die Glocken, daß die Luft erbebte.
»Rottet aus, gute Zeit, alte Zeit, Daten und Zahlen, Daten und Zahlen. Rottet aus, rottet aus.« Immer wieder heulten sie es in die Luft, bis Toby ganz schwindlig wurde. Er preßte seinen wirren Kopf, der ihm zu zerspringen drohte, zwischen die beiden Hände. Und das geschah zur rechten Zeit, denn in der einen Hand fand Toby den Brief, der ihn an seinen Auftrag erinnerte. Da fiel er mechanisch in seinen Trott und trabte davon.




Zweites Viertel


Der Brief, den Toby vom Alderman Cute bekommen, war an einen großen Mann in dem großen Bezirk der Stadt adressiert, in dem größten Bezirk der Stadt besser gesagt, denn er hieß bei seinen Bewohnern allgemein die »Welt«. Der Brief schien schwerer zu wiegen als je ein anderer Brief. Nicht weil der Alderman ihn mit einem großen Wappen und einer Menge Siegellack gesiegelt hatte, sondern wegen des gewichtigen Namens auf der Adresse und der schweren Menge Gold und Silber, das sich an ihn knüpfte.
»Wie verschieden von uns«, dachte Toby in tiefem Ernst und großer Einfalt, als er seine Blicke in die Richtung des Bezirkes warf. »Dividiere die Zahl der lebendigen Schildkröten im Weichbild durch die Zahl der Vornehmen, die sie kaufen können, und auf jeden fällt der richtige Teil. Den Leuten die Kuttelflecke vom Munde wegzunehmen - dazu sind sie zu erhaben.«
Mit unwillkürlicher Ehrfurcht vor der bedeutenden Person legte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.
»Seine Kinder –«, sagte Trotty, und ein Nebel schwamm vor seinen Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können sich um ihre Herzen bewerben und sie heiraten, sie dürfen glückliche Frauen und Mütter werden und schön sein, wie meine liebe Me –«
Er konnte ihren Namen nicht aussprechen, der letzte Buchstabe quoll in seiner Kehle auf zur Größe des ganzen Alphabets.
»Macht nichts«, dachte der arme Trotty, »ich weiß schon, was ich meine. Das ist mehr als genug für mich«, und mit diesem ungemein tröstlichen Gedanken trabte er weiter.
Es war bitterkalt an diesem Tage. Die Luft war scharf, schneidend und klar. Die Wintersonne schien hell, wenn auch ohne Wärme, herab auf das Eis, das zu schmelzen sie zu schwach war, und warf einen strahlenden Glanz darüber hin. Ein andermal hätte Trotty aus der Wintersonne eine Lehre gezogen, die auf arme Leute gepaßt hätte, aber heute ging es ihm nicht zusammen.
Das Jahr war steinalt an diesem Tag. Es hatte geduldig die Vorwürfe und Lästerungen seiner Verleumder ertragen und getreulich seine Arbeit verrichtet. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es hatte den vorgeschriebenen Kreis durchlaufen und legte jetzt müde sein Haupt nieder, um zu sterben. Ohne neue Hoffnungen, ohne heiße Triebe, ohne eigene Glückseligkeit, wohl aber ihr Bringer gewesen für andere, erhob es Anspruch darauf, daß man auch seine mühevollen Tage und langweiligen Tage im Gedächtnis bewahren möge und es jetzt in Frieden sterben lasse. Trotty hätte in dem scheidenden Jahr die Allegorie vom Leben des armen Mannes sehen können, aber jetzt war er dafür unempfänglich.
Hätte nicht auch er den gleichen Anspruch erheben können? Oder jeder beliebige englische Arbeiter die ganzen letzten siebzig verflossenen Jahre hindurch?!
Die Straßen waren voll Leben, und die Läden schimmerten bunt aufgeputzt. Das neue Jahr wurde wie ein junger Erbe der ganzen Welt mit Willkommen und hellem Jubel erwartet. Da gab es Bücher und Spiele fürs neue Jahr, glitzernde Schmucksachen fürs neue Jahr, Kleider fürs neue Jahr, Glückskarten fürs neue Jahr, Witze und Späße. Sein ganzes künftiges Leben war in Kalendern und Taschenbüchern aufgeteilt. Aufgang und Untergang des Mondes und der Sterne, Ebbe und Flut, alles wußte man schon vorher so genau bei Tag und Nacht wie Mr. Filer die Einwohnerzahl.
Neujahr! Neujahr, überall Neujahr! Das alte Jahr betrachtete man bereits als tot, und seine Habseligkeiten wurden so billig losgeschlagen wie die eines ertrunkenen Matrosen. Seine Muster und Moden galten als abgetan und wurden verschleudert, ehe es noch den Atem ausgehaucht. Seine Schätze waren wie Abfälle neben dem Reichtum seines noch ungeborenen Nachfolgers.
Trotty hatte in seinen Gedanken keinen Anteil, weder an dem neuen Jahr noch an dem alten. Rottet aus, rottet aus, Daten und Zahlen, Daten und Zahlen, gute Zeit, alte Zeit, rottet aus, rottet aus! Nach dieser Weise ging sein Trab, wollte sich keiner andern anpassen.
Aber auch dieser schwermütige Trott brachte ihn endlich an das Ende seines Wegs, an das Haus des Parlamentsmitglieds Sir Joseph Bowley.
Ein Portier öffnete die Tür, aber was für ein Portier! Nichts von Tobys Art. Er war etwas ganz anderes. Auch er trug einen Stab, aber einen andern als Toby.
Der Portier keuchte gewaltig, ehe er ein Wort sprechen konnte. Er war so atemlos geworden, weil er sich unvorsichtig schnell aus seinem Lehnstuhl erhoben hatte, ohne sich erst Zeit zu nehmen, nachzudenken und seine Gedanken zu sammeln. Als er die Stimme wiedergefunden, was eine geraume Zeit kostete, denn sie war weit, weit weg und lag unter einer schweren Last von Fleisch versteckt, sagte er mit einem speckigen Flüstern:
»Von wem?«
Toby verriet es ihm.
»Den müssen Sie selber reintragen«, und der Portier wies nach einem Zimmer, das am Ende der Halle lag. »Heute wird alles vorgelassen. Sie kommen noch gerade recht, der Wagen steht bereits vor der Tür. Man ist bloß auf ein paar Stunden in die Stadt gekommen.«
Toby streifte seine Füße, obwohl sie ganz rein waren, mit größter Sorgfalt ab, schlug den bezeichneten Weg ein und machte im Gehen die Bemerkung, daß es ein schrecklich großes Haus war, in dem das tiefste Schweigen herrschte und alles in Decken gehüllt war, wahrscheinlich, weil die Familie auf dem Lande lebte. Als er an die Zimmertür klopfte, wurde »herein« gerufen, und bald befand er sich in einer geräumigen Bibliothek, wo an einem mit Rollen und Papieren bedeckten Tisch eine vornehme Dame im Hut saß und einem nicht sehr noblen Herrn in schwarzem Anzug etwas diktierte, während ein anderer älterer und viel stattlicherer Herr, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, mit der einen Hand an der Brust auf und nieder ging und von Zeit zu Zeit wohlgefällig nach seinem eignen Porträt in Lebensgröße hinblickte, das über dem Kamin hing.
»Was ist das?« fragte der letztbezeichnete Gentleman. »Mr. Fish, wollen Sie wohl die Güte haben, die Angelegenheit zu erledigen.«
Mr. Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und übergab ihn mit großer Ehrfurcht.
»Vom Alderman Cute, Sir Joseph.«
»Ist das alles? Sonst haben Sie nichts, Dienstmann?« verhörte ihn Sir Joseph.
Toby verneinte. »Haben Sie nicht irgendeine Rechnung oder so was für mich - ich heiße Bowley, Sir Joseph Bowley. Irgend etwas, das man bezahlen könnte?« fragte Sir Joseph. »Wenn Sie was haben, geben Sie's her. Dort neben Mr. Fish ist das Scheckbuch. Ich dulde nicht, daß etwas ins neue Jahr verschleppt wird. Alle Rechnungen werden in diesem Hause am Schlusse des alten Jahrs beglichen, so daß, wenn der Tod meinen Lebensfaden zer – zer –«
»– reißen sollte«, half Mr. Fish.
»– schneiden sollte, Sir«, verbesserte Sir Joseph zurechtweisend und scharf, »alle meine Angelegenheiten in tadelloser Ordnung befunden werden.«
»Mein teuerer Sir Joseph«, unterbrach die Lady, die bedeutend jünger war als ihr Gatte, »wie schrecklich!«
»Mylady«, entgegnete Sir Joseph, bei manchem Worte stotternd, offenbar wegen des großen Tiefsinnes seiner Bemerkungen, »zur Zeit der Jahreswende sollen wir an uns – uns – uns – selbst denken. Wir sollen mit uns – uns – uns – abrechnen. Wir sollen fühlen und empfinden, daß jede Rückkehr dieser wichtigen Periode in den menschlichen Angelegenheiten Geschäfte mit sich bringt von höchstem Belang zwischen dem Menschen und seinem – seinem – seinem – Bankier.« Sir Joseph sprach diese Worte, als sei er tief erschüttert von dem ungeheuren sittlichen Gehalt dessen, was er sagte, und fühlte den Wunsch, daß auch Trotty Gelegenheit haben sollte, durch seine Rede gebessert zu werden. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, weshalb er das Siegel des Briefes immer noch nicht erbrach und Trotty sagte, er möge noch eine Minute warten.
»Hegten Sie, Mylady, nicht die Absicht, Mr. Fish sollte – – –«, bemerkte Sir Joseph.
»Ich dachte, Mr. Fish erwähnte es bereits«, antwortete die Lady und warf einen Blick auf den Brief. »Aber mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nach allem doch, daß ich es nicht so aus der Hand geben kann. Es ist so ungemein teuer.«
»Was ist teuer?« fragte Sir Joseph.
»Ach, diese milde Stiftung, Geliebter. Bloß zwei Stimmen zu einer Subskription von fünf Pfund werden zugelassen. Wirklich ungeheuerlich.«
»Mylady Bowley«, entgegnete Sir Joseph, »Sie setzen mich in Erstaunen. Richtet sich die Wonne der Empfindung nach der Anzahl der Stimmen, oder rechnet nicht vielmehr ein rechtschaffenes Herz mit der Anzahl der Bittsteller und der lautern Sinnesart derselben? Ist es nicht ein Vergnügen reinster Art, zwei Stimmen unter fünfzig zur Verfügung zu haben?«
»Für mich nicht, muß ich gestehen«, antwortete die Lady. »Mir ist es eine Qual, und außerdem kann man sich seine Bekanntschaften nicht verpflichten. Freilich, Sie sind des armen Mannes Freund, Sir Joseph, Sie denken anders.«
»Ja, ich bin der armen Leute Freund«, versetzte Sir Joseph mit einem Blick auf den armen Mann, der zugegen war. »Das kann man mir zum Vorwurf machen. Das ist mir zum Vorwurf gemacht worden. Doch ich begehre keinen andern Titel.«
»Gott segne den edlen Herrn!« dachte Trotty.
»Ich stimme zum Beispiel mit Cute hierin nicht überein«, sagte Sir Joseph und hielt den Brief in die Höhe. »Ich stimme nicht mit der Partei Filer überein. Ich stimme überhaupt nicht mit irgendeiner Partei überein. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit dergleichen zu schaffen, und nichts dergleichen hat mit ihm zu schaffen. Mein Freund, der arme Mann in meinem Bezirk, ist meine Sache. Kein Mensch und keine Körperschaft haben irgendwie ein Recht, sich zwischen meinen Freund und mich zu stellen. Das ist das Fundament, auf dem ich stehe. Ich nehme eine – eine – väterliche Stellung zu meinem Freunde ein. Ich sage, guter Mann, ich will dich behandeln wie ein Vater.«
Toby hörte mit tiefem Ernste zu, und ein Gefühl von Behaglichkeit überkam ihn.
»Sie haben nur mit mir zu tun, guter Mann«, fuhr Sir Joseph fort und sah Toby zerstreut an. »Einzig und allein nur mit mir. Sie brauchen sich sonst um nichts zu kümmern. Sie brauchen sich keine Mühe zu nehmen, selber über etwas nachzudenken. Ich will schon für Sie denken. Ich weiß, was Ihnen frommt, und bin Ihr beständiger Vater. Das ist die Ordnung einer allweisen Vorsehung. Der Zweck der Schöpfung ist nicht, daß ihr schwelgen und schlemmen und wie unvernünftige Tiere in Essen und Trinken alles sehen sollt« – Toby dachte reuevoll an seine Kuttelflecke –, »sondern daß ihr die Würde der Arbeit fühlt. Gehet hinaus in die frische Morgenluft und – und – bleibet da. Lebet streng und mäßig. Seid ehrerbietig. Übet euch in der Selbstverleugnung. Haltet eure Familie im Zaum, bezahlet eure Miete regelmäßig wie die Uhr schlägt, seid pünktlich im Bezahlen eurer Auslagen (ich gebe Ihnen ein gutes Beispiel, Sie werden Mr. Fish, meinen Geheimsekretär, stets an der Kasse sehen), – – dann werdet Ihr in mir stets einen Freund und Vater finden.«
»Nette Kinder, wahrhaftig, Sir Joseph«, unterbrach die Lady mit einem Schauder. »Rheumatismus, Fieber, krumme Beine und Asthma und alle Art von Scheußlichkeiten!«
»Mylady«, entgegnete Sir Joseph feierlich, »und trotzdem bin ich des armen Mannes Freund und Vater, trotzdem soll er sich Mut holen bei mir. Jedes Quartal kann er mit Mr. Fish in Verbindung treten. Alle Neujahrstage werde ich mit meinen Freunden auf sein Wohl trinken. Einmal in jedem Jahr werde ich mit meinen Freunden aus tiefstem Herzen heraus eine Rede an ihn halten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht sogar öffentlich und vor den Augen der ganzen vornehmen Welt von meinesgleichen eine Kleinigkeit bekommen, und wenn er, von dieser Anregung und der Würde der Arbeit nicht mehr aufrecht erhalten, dereinst in sein stilles, behagliches Grab sinkt, dann, Mylady« – Sir Joseph blähte die Nasenflügel auf –, »dann will ich – unter denselben Bedingungen – seinen Kindern ein Freund und Vater sein.«
Toby war tief ergriffen.
»Oh, Sie haben eine dankbare Familie, Sir Joseph«, rief seine Gattin.
»Mylady«, sagte Sir Joseph mit majestätischer Miene, »Undankbarkeit ist bekanntlich die Erbsünde dieser Menschenklasse. Ich erwarte keinen Dank.«
»Ja! Schlecht von Geburt an!« dachte Toby. »Nichts rührt uns.«
»Was ein Mensch tun kann, tue ich«, fuhr Sir Joseph fort. »Ich tue meine Schuldigkeit als des armen Mannes Freund und Vater und suche seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei jeder Gelegenheit die großen, sittlichen Lehren, deren seine Klasse bedarf, vor Augen halte, nämlich: gänzliche Unterordnung unter mich. Ihr habt mit euch selber gar – gar – nichts zu tun. Wenn euch schurkische und berechnende Personen etwas anderes sagen, und ihr werdet ungeduldig und unzufrieden und lasset euch widersetzliches Benehmen und schwarzen Undank zuschulden kommen, was unzweifelhaft vorkommt, so bin ich dennoch euer Freund und Vater. So ist's bestimmt in Gottes Rat. Es liegt in der Natur der Dinge.«
Mit diesen grandiosen Worten öffnete Sir Joseph den Brief des Alderman und las ihn.
»Sehr höflich und aufmerksam, in der Tat! Mylady, der Alderman ist so liebenswürdig, mich daran zu erinnern, daß er die ausgezeichnete Ehre (sehr – sehr gut) gehabt habe, mich im Hause unseres gemeinsamen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und er erlaubt sich anzufragen, ob es mir angenehm sei, daß Will Fern eingesteckt werde.«
»Sehr angenehm«, entgegnete Lady Bowley, »das war der Allerschlimmste. Er hat hoffentlich einen Raubüberfall verübt?«
»Das gerade nicht«, sagte Sir Joseph, »das gerade nicht, nicht so ganz, aber beinah. Er kam nach London, sich nach Arbeit umzusehen (er wollte sich verbessern, aha, da steckt der Haken), und man fand ihn nachts in einem Schuppen schlafen, nahm ihn fest und rührte ihn am nächsten Morgen vor den Alderman. Der Alderman bemerkt (sehr wichtig und vernünftig), daß er entschlossen sei, derlei gründlich auszurotten, und daß, wenn es mir angenehm wäre, es ihn glücklich machen werde, mit Will Fern einen Anfang zu machen.«
»Auf jeden Fall soll man an ihm ein Exempel statuieren, für alle Fälle«, erwiderte die Lady. »Letzten Winter, als ich das Häkeln und Stricken unter den Männern und Knaben im Dorf als hübsche Abendbeschäftigung einführte und die Verse:
Mit Freuden wollen wir dem Gutsherrn fronen, Nebst den Verwandten, welche bei ihm wohnen, Zufrieden sein mit unseren Portionen, Zum Himmel flehn, er möge uns verschonen, Mit falschem Stolz und unsere Demut lohnen;
nach dem neuen System in Musik hatte setzten lassen, damit sie sie während der Arbeit singen sollten, da greift dieser Fern – ich seh ihn noch vor mir - an seinen Hut und sagt: ›Mylady, ich bitte demütig um Verzeihung, aber bin ich nicht etwas anderes als ein großes Mädchen?‹ Ich war nicht erstaunt, denn wer kann etwas anderes als Unverschämtheit und Undank von dieser Volksklasse erwarten. Das gehört vielleicht nicht hierher, aber bitte statuieren Sie jedenfalls ein Exempel an ihm, Sir Joseph.«
»Ehüm«, hüstelte Sir Joseph. »Mr. Fish, wenn Sie die Angelegenheit erledigen möchten –«
Mr. Fish ergriff eilends die Feder und schrieb nach dem Diktat Sir Josephs: »Mein lieber Sir, ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Freundlichkeit in Sachen des Subjekts Will Fern, von dem ich zu meinem Bedauern nichts Günstiges berichten kann. Ich hatte mich beständig als seinen Freund und Vater betrachtet, bin aber leider wie gewöhnlich mit Undank und fortwährender Widersetzlichkeit gegen meine guten Absichten belohnt worden. Er ist ein unruhiger, widerspenstiger Kopf. Sein Charakter verträgt keine nähere Prüfung. Nichts kann ihn bewegen, dort glücklich zu sein, wo er es zu sein hat. Angesichts solcher Umstände scheint mir, ich gestehe es, wenn er wieder vor Sie kommt, und wie Sie mir mitteilen, hat er sich morgen zu stellen versprochen, und ich glaube, daß man sich insoweit auf ihn verlassen kann, seine Einsperrung für eine Zeit als Landstreicher ein der Gesellschaft geleisteter guter Dienst zu sein, und es würde ein warnendes Beispiel abgeben in einem Lande, wo sowohl derer wegen, die unbekümmert um gute und böse Worte die Freunde und Väter der Armen sind, als auch hinsichtlich der, allgemein gesprochen, verführten Volksklassen selber, solche Exempel sehr nötig sind. Ich bin, Sir, usw. usw.«
»Es scheint«, bemerkte Sir Joseph, als er den Brief unterzeichnet hatte und Mr. Fish siegelte, »als wäre dies Vorsehung. In der Tat! Am Schluß des Jahres bringe ich meine Rechnungen in Ordnung und ziehe meine Bilanz – – – selbst mit William Fern.«
Trotty, der schon längst wieder in seine trübe Stimmung verfallen war, trat mit wehmütigem Gesicht vor und nahm den Brief in Empfang.
»Meinen Dank und meine Empfehlung«, sagte Sir Joseph. »Halt!«
»Halt!« rief auch das Echo Mr. Fish.
»Ihr habt vielleicht«, sagte Sir Joseph orakelhaft, »gewisse Bemerkungen gehört, die zu machen ich mich veranlaßt sah in Hinblick auf den feierlichen Zeitabschnitt, bei dem wir angelangt sind, und auf die Verpflichtung, die uns obliegt, unsere Angelegenheiten zu ordnen, um auf alles vorbereitet zu sein. Ihr habt gehört, daß ich mich nicht hinter meiner hohen Stellung in der Gesellschaft verstecke, sondern daß Mr. Fish – dieser Herr hier – stets das Scheckbuch neben sich liegen hat und deswegen hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein völlig neues Blatt aufzuschlagen, um in den vor uns liegenden Zeitabschnitt mit glatter Rechnung einzutreten. Nun, mein Freund, kann er die Hand aufs Herz legen und sagen, daß er sich ebenfalls auf das neue Jahr gebührend vorbereitet hat?«
»Ich fürchte sehr, Sir«, stotterte Trotty, demütig zu ihm aufblickend, »daß ich noch ein wenig bei der Welt im Rückstande bin.«
»Im Rückstande bei der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley mit schrecklich bestimmtem Ton.
»Ich fürchte, Sir«, stotterte Trotty, »daß es sich noch so um zehn oder zwölf Shillinge dreht bei Mrs. Chickenstalker.«
»Bei Mrs. Chickenstalker«, wiederholte Sir Joseph in gleichem Ton wie vorher.
»Die Höcklerin«, erläuterte Toby. »Und dann eine – Kleinigkeit auf den Zins. Aber nur ganz wenig, Sir. Man soll nichts schuldig bleiben, ich weiß, aber die Not hat uns dazu getrieben.«
Sir Joseph sah seine Gemahlin und Mr. Fish und Trotty einen nach dem andern zweimal der Reihe nach an.
Dann machte er eine verzweifelte Bewegung mit beiden Händen zugleich, als gebe er es jetzt ganz auf.
»Wie ein Mann, und wenn er auch zu dieser unklugen und leichtsinnigen Menschenklasse gehört, wie ein alter Mann mit grauem Haar dem neuen Jahr entgegensehen kann, während seine Geschäftsangelegenheiten sich in einer derartigen Lage befinden! Wie er sich am Abend in sein Bett legen und am Morgen wieder aufstehen kann, ohne – – – da, da nehmt den Brief.« Und er drehte Trotty den Rücken zu: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!«
»Ich wünschte von Herzen, es wäre anders, Sir«, sagte Trotty, sich nach Kräften entschuldigend. »Wir sind schwer geprüft worden.«
Sir Joseph wiederholte nur immer: »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« und Mr. Fish sagte nicht bloß dasselbe, sondern verlieh der Aufforderung noch mehr Nachdruck, indem er Toby zur Türe drängte, so daß diesem nichts anderes übrigblieb, als noch schnell einen Bückling zu machen und das Haus zu verlassen. Und auf der Straße drückte der arme Trotty seinen schäbigen alten Hut über die Augen, um seinen Gram zu verbergen, weil er so gar keinen Anteil am neuen Jahr haben sollte.
Er lüftete ihn nicht einmal, um nach dem Glockenturm zu sehen, als er nach der alten Kirche zurückkam. Er blieb wohl einen Augenblick stehen aus alter Gewohnheit und erkannte, daß es dunkelte und daß der Turm sich in unbestimmten und schwachen Umrissen in die neblige Luft erhob. Er wußte auch, daß die Glocken sogleich einfallen würden und daß sie um diese Zeit in seine Träumereien wie Stimmen zu klingen pflegten. Um so mehr eilte er sich, beim Alderman den Brief abzugeben, um ihnen auszuweichen, bevor sie begännen, denn er fürchtete sich, sie zu allem noch vielleicht die Worte: »Freund und Vater! Freund und Vater!« läuten hören zu müssen.
Er entledigte sich daher seines Auftrags so schnell wie möglich und trabte heimwärts. Teils wegen seines Trabs, der auf der Straße wenigstens gar nicht angebracht war, teils infolge seines Hutes, der die Sache nicht besser machte, rannte er gegen jemand an und taumelte auf den Fahrdamm hinab.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, und er riß in so großer Verwirrung an seinem Hut, daß sein Kopf zwischen der Krempe und dem zerrissenen Futter stecken blieb wie in einer Art Bienenkorb. »Hoffentlich hab ich Sie nicht verletzt, Sir.«
Was das Verletzen anbelangt, so war Toby kein solcher Simson, daß er bei einer derartigen Gelegenheit nicht viel schlechter weggekommen wäre – und in der Tat war er weggeflogen wie ein Federball –, allein er hatte eine solche Meinung von seiner Stärke, daß er in großer Besorgnis um den andern schwebte und noch einmal fragte: »Hoffentlich habe ich Sie doch nicht verletzt.«
Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnenverbrannter, sehniger Landmann mit graumeliertem Haar und einem Stoppelbart, blickte einen Augenblick argwöhnisch jenen an, ob er ihn vielleicht verhöhnen wollte, aber als er den Ernst sah, antwortete er: »Nein, Freund, Sie haben mich nicht verletzt.«
»Und das Kind hoffentlich auch nicht?« fragte Trotty.
»Das Kind auch nicht«, antwortete der Mann. »Ich danke Ihnen herzlichst.«
Dabei warf er einen Blick auf das kleine Mädchen, das in seinen Armen schlief, bedeckte das Gesichtchen mit dem langen Zipfel seines ärmlichen Halstuchs und ging langsam weiter. Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Ihnen herzlichst«, ging Trotty tief zu Herzen. Der Mann war so matt und müde und so schmutzig vom Wandern und fühlte sich so fremd und verlassen in der Stadt, daß es ihm ein Trost zu sein schien, irgend jemand danken zu können, und wenn es auch für gar nichts war. Toby sah ihm nach, wie er sich mühselig weiterschleppte, während das Kind den Arm um seinen Nacken legte.
Trotty blickte, blind für die ganze übrige Straße, nur der Gestalt nach in den zerrissenen Schuhen, die nur mehr Überbleibsel waren in den rohledernen Gamaschen, in der groben Jacke und dem breitkrempigen Hut, der jenem über die Augen hing – sah nach dem Kind, das ihm die Arme um den Nacken gelegt hatte.
Ehe der Fremde in der Dunkelheit verschwand, blieb er stehen und sah sich um. Als er Trotty noch dort erblickte, schien er unschlüssig, ob er umkehren oder weitergehen sollte. Er schwankte eine Weile, dann kam er zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.
»Können Sie mir vielleicht sagen«, fragte der Mann mit einem müden Lächeln, »Ihr werdet es ja am besten wissen, wo der Alderman Cute wohnt?«
»Gleich hier in der Nähe. Ich will Sie mit Vergnügen hinführen.«
»Ich sollte ihn eigentlich erst morgen und an anderem Orte aufsuchen«, sagte der Mann und ging neben Toby her. »Aber ich möchte mich von einem Verdacht reinigen, der mich drückt, und dann gehen, wohin ich will und mir mein Brot suchen, wenn ich auch noch nicht weiß, wo. So wird er es mir nicht übelnehmen, wenn ich heut in sein Haus gehe.«
»Sie heißen doch nicht am Ende Fern?« rief Toby und fuhr zurück.
»Was?« rief der andere und sah den Dienstmann erstaunt an.
»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.
»Das ist mein Name.«
»Nun dann«, sagte Trotty faßte den Mann am Arm und sah sich vorsichtig um, »gehen Sie um Gottes willen nicht hin. Gehen Sie nicht hin. Er wird Euch beide zugrunde richten, so wahr Ihr auf der Welt seid. Hier! Kommen Sie in diese kleine Gasse, und ich will Ihnen sagen, was ich weiß. Gehen Sie nicht zu ihm!«
Der neue Bekannte sah Toby an, als hielte er ihn für verrückt, ging aber nichtsdestoweniger mit. Als sie sicher waren, daß sie niemand beobachten konnte, erzählte Trotty, was er wußte und wie man über Fern Bericht erstattet hatte, und alles andere.
Will Fern hörte ihm mit erstaunlicher Ruhe zu. Er widersprach nicht und unterbrach nicht ein einziges Mal. Er nickte dann und wann mit dem Kopfe, mehr zur Bekräftigung einer längst bekannten Sache, wie es schien, als zu ihrer Widerlegung, und schob nur ein- oder zweimal seinen Hut zurück, um sich mit der sommersprossigen Hand über die Stirn zu fahren, wo jede Ackerfurche, die er einst gepflügt, ihr Abbild im kleinen zurückgelassen zu haben schien. Doch weiter tat er nichts.
»Die Geschichte ist in der Hauptsache wahr genug, Mann«, sagte er endlich. »Ich könnte wohl hier und da etwas hinzufügen, aber soll es schon sein, wie's ist. Was liegt daran. Ich habe seinen Plänen zuwidergehandelt zu meinem Unglück, und ich kann mir nicht helfen, ich würde es morgen wieder tun. Was den Personalbericht anbelangt, so sucht und spioniert dieses vornehme Volk so lange herum, bis es irgendeinen kleinen Makel gefunden, bloß um keinen guten Faden an uns zu lassen. Nun, ich hoffe, sie verlieren ihren guten Ruf nicht so leicht wie unsereiner. Was mich betrifft, Mann, ich habe niemals mit dieser Hand« – er streckte sie aus – »etwas genommen, was nicht mein war und habe niemals eine Arbeit gescheut, mochte sie noch so schwer oder schlecht bezahlt sein. Wer etwas anderes sagen kann, der soll sie mir abhacken. Wenn mich aber die Arbeit nicht mehr nährt wie ein menschliches Geschöpf, wenn ich so schlecht lebe, daß ich Hunger leiden muß in und außer dem Hause, wenn ich sehe, daß das ganze Leben nichts als solche Arbeit ist, so anfängt und so endet, ohne Wechsel und Aussicht, dann sag ich zu dem vornehmen Volk: Bleibt mir vom Halse, laßt meine Hütte in Ruh. Meine Tür ist finster genug, ihr braucht sie nicht noch mehr zu verdun- keln. Ruft mich nicht in den Park, wenn ihr wieder einmal einen Geburtstag feiert, damit ich euch die Menge der Zuschauer vergrößern helfen soll. Oder wenn ihr eine feine Rede sprechen wollt oder sonst was. Haltet eure Spiele und euren Sport ab, ohne daß ich zuschauen muß, und freut euch drüber und amüsiert euch, soviel ihr wollt. Aber wir haben nichts miteinander zu schaffen. Mir ist am liebsten, man läßt mich allein.«
Als er sah, daß das Kind in seinen Armen die Augen aufgeschlagen hatte und verwundert umherblickte, hielt er inne, um ihm ein paar liebe Worte ins Ohr zu sagen, und stellte es neben sich auf den Boden. Dann wickelte er langsam eine der langen Flechten um seinen Zeigefinger wie einen Ring, während sich das Mädchen an sein bestaubtes Bein klammerte, und sagte zu Trotty: »Ich bin keine störrische Natur und leicht zufriedengestellt. Ich trage gegen niemand Böses im Sinn. Ich möchte nur leben wie ein Geschöpf des Allmächtigen. Ich kann es nicht und darf es nicht, und so ist eine Kluft gegraben zwischen mir und denen, die's dürfen und können. Und so wie ich bin, gibt's noch andere. Ihr könnt sie nach Hunderten und Tausenden zählen und nicht nach Dutzenden.«
Trotty wußte, daß Fern die Wahrheit sprach, und nickte beistimmend mit dem Kopf.
»Ich habe mir auf diese Weise einen bösen Namen geschaffen«, sagte Fern, »und fürchte, ich werde mir wahrscheinlich keinen bessern erwerben. Es ist nicht recht, daß man murrt, und ich murre. Gott weiß, daß ich lieber heiter wäre und zufrieden, wenn ich könnte. Na, ich weiß nicht, ob mir dieser Alderman viel antäte, wenn er mich einsperren ließe. Da ich niemand zum Freunde hab, der für mich ein Wort einlegen würde, täte er es gewiß, und sehen Sie das«, – und er zeigte mit dem Finger auf das Kind.
»Sie ist sehr hübsch«, sagte Trotty.
»O ja«, antwortete der andere mit leiser Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft dem seinen zukehrte und es lange ansah. »Mir sind schon oft mancherlei Gedanken gekommen. Es hat sich mir aufgedrängt, wenn mein Herz sehr kalt war und der Brotkorb leer. Auch neulich wieder, als sie uns wie zwei Diebe aufgegriffen haben. Aber sie – sie sollen das kleine Gesichtchen mir nicht zu oft behelligen, nicht wahr, Lilly. Es kann einen Menschen in Versuchung führen.«
Er dämpfte seine Stimme und sah das Kind so ernst und sonderbar an, daß ihn Toby fragte, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, ob sein Weib noch lebe.
»Ich habe niemals eins gehabt«, antwortete der Mann und schüttelte den Kopf. »Sie ist das Kind von meinem Bruder, eine Waise, neun Jahre alt, wenn man's ihr auch nicht ansieht. Sie ist so müde und erschöpft jetzt. Sie hätten sich ihrer vielleicht angenommen, die vom Armenverein, achtundzwanzig Meilen von dem Ort, wo wir her sind, und hätten sie zwischen vier Wände gesperrt, wie sie's mit meinem alten Vater auch gemacht haben, als er nicht mehr arbeiten konnte. – Er hat sie nicht mehr lang belästigt. – Ich nahm das Mädchen an Kindes Statt an, und seit der Zeit hat es bei mir gelebt. Ihre Mutter hat einmal hier in London eine Freundin gehabt. Wir gaben uns alle Mühe, sie ausfindig zu machen und Arbeit zu finden, aber es ist eine große Stadt. Macht nichts. Desto mehr Platz haben wir, darin herumzugehen, Lilly.«
Er sah dem Kind mit einem Lächeln in die Augen, das Toby mehr rührte als Tränen. Er faßte Fern bei der Hand.
»Ich weiß nicht einmal Ihren Namen«, sagte der Mann, »und habe Ihnen mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Ihnen dankbar und habe guten Grund dazu. Ich werde Ihrem Rat folgen und mich hüten vor dieser –«
»Justizperson«, ergänzte Toby.
»So, so,« sagte der Mann. »Ist das der Name, den man ihm gibt. Also gut, vor dieser Justizperson. Und morgen will ich versuchen, ob ich vielleicht in der Umgebung von London mehr Glück habe. Gut Nacht! Glückliches neues Jahr!«
»Halt«, rief Toby und hielt die Hand fest, als sie sich losmachen wollte, »halt! Das neue Jahr könnte mir kein Glück bringen, wenn wir so auseinandergingen. Ich hätte kein Glück, wenn ich das Kind und Sie so obdachlos herumirren ließe. Kommen Sie mit mir nach Hause. Ich bin ein armer Mann und wohne ärmlich. Aber ich kann Euch ein Nachtquartier geben, ohne daß mir deswegen etwas abginge. Kommt mit mir! So. Ich will sie tragen«, rief Trotty und hob das Kind auf. »Ein hübsches Kind. Ich könnte eine zwanzigmal schwerere Last tragen, ohne es zu spüren. Sagen Sie mir, wenn ich zu rasch gehe. Ich bin nämlich ungeheuer schnell zu Fuß. Ich war es von jeher.« Trotty sprach's und machte immer sechs seiner trabenden Schritte, wenn sein ermüdeter Begleiter nur einen brauchte, und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.
»Wie leicht sie ist«, sagte er und hielt seine Zunge im gleichen Trab wie seine Beine, denn er wollte nicht, daß sich der andere bedanke, und wünschte keine Pause eintreten zu lassen. »Leicht wie eine Feder. Leichter als eine Pfauenfeder, noch viel leichter. Dort um die nächste Ecke rechts müssen wir, Onkel Will. An der Pumpe vorüber und links gerade die Straße hinauf dem Wirtshaus gegenüber. Quer hinüber, Onkel Will, wo der Pastetenbäcker ist. Gleich sind wir dort. Die Marställe entlang, Onkel Will, und dann Halt gemacht an der schwarzen Tür mit dem Schild: ›T. Veck, Dienstmann‹. So, jetzt sind wir da, wirklich und leibhaftig, meine liebste Meg. Was! Da staunst du!« Mit diesen Worten setzte Trotty atemlos das Kind vor seiner Tochter in der Stube nieder.
Das kleine Mädchen sah Meg an, und da es in ihrem Gesicht nur Zutrauenerweckendes sah, lief es in ihre Arme.
»Hier sind wir und hier bleiben wir«, sagte Trotty und lief hörbar keuchend in der Stube herum. »Hier, Onkel Will, ist ein Feuer, seht Ihr! Warum kommt Ihr nicht zum Feuer? So, jetzt sind wir da. Meg, lieber Schatz, wo ist der Teekessel. So– – –da ist er und wird sogleich kochen!« Trotty hatte wirklich den Teekessel auf seiner wilden Jagd durch die Stube erwischt und stellte ihn jetzt an das Feuer, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kinde kniete und ihm die Schuhe auszog und die nassen Füße mit einem Tuch abtrocknete. Ja, und sie lächelte Trotty entgegen – so fröhlich und so heiter, daß Trotty sie hätte segnen mögen, wie sie dort kniete, denn er hatte beim Eintreten wohl bemerkt, daß sie in Tränen am Feuer gesessen.
»Ei, Vater«, sagte Meg, »bist du heute abend wunderlich. Ich möchte gern wissen, was die Glocken dazu sagen würden. Arme, kleine Füße, wie kalt sie sind!«
»Oh, sie sind jetzt wärmer«, rief das Kind. »Sie sind schon ganz warm.«
»Nein, nein, nein,« sagte Meg, »wir haben sie noch lange nicht genug gerieben. Wir haben so viel zu tun, so viel, und wenn sie trocken sind, wollen wir das feuchte Haar kämmen, und dann wollen wir mit frischem Wasser wieder etwas Farbe in das kleine, bleiche Gesichtchen bringen, und dann wollen wir so munter und fröhlich und glücklich sein.« – Das Kind brach in Schluchzen aus, schlang den Arm um ihren Hals, streichelte mit der Hand ihre schönen Wangen und sagte: »O Meg, meine liebe Meg!«
Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer hätte mehr tun können!
»Nun, Vater?« sagte Margaret nach einer Pause.
»Hier bin ich, hier bleib' ich«, sagte Trotty, »mein Schatz.«
»Du lieber Gott«, rief Meg, »er ist wirklich verrückt geworden. Er hat die Haube des Kindes auf den Teekessel gesetzt und den Deckel an die Tür gehängt.«
»Ich hab's nicht mit Absicht getan, mein Liebling«, sagte Trotty und machte schleunigst sein Versehen wieder gut.
»Meg, mein Liebling!« Margaret blickte auf und sah, daß er sich hinter dem Stuhl seines Gastes aufgestellt hatte und ihr allerlei geheimnisvolle Zeichen machte und den halben Shilling in die Höhe hielt, den er verdient.
»Als ich vorhin hereinkam, sah ich draußen auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen und ein Stück Speck dabei, wenn ich nicht irre. Da ich mich nicht mehr genau erinnere, wo es war, will ich selber nachschauen gehen und es suchen.« Mit dieser unerhört schlauen Ausrede entfernte sich Trotty, um den besagten Proviant gegen bar bei Mrs. Chickenstalker zu kaufen, und kam dann mit dem Vorwande, er habe das Gesuchte im Finstern nicht gleich finden können, wieder zurück.
»Hier ist es endlich«, und er packte aus. »Alles in Ordnung. Ich war meiner Sache ganz sicher, daß es Tee und Speck gewesen. Meg, mein Augapfel, wenn du Tee machen möchtest, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, werden wir schnell fertig sein. Es ist ein außerordentlich merkwürdiger Umstand«, und er machte sich mit der Röstgabel an die Arbeit, »ein höchst merkwürdiger Umstand, der aber allen meinen Freunden wohlbekannt ist, daß ich Speckschnitten und Tee absolut nicht leiden kann. – Ich freue mich, wenn es andern schmeckt«, sagte Trotty sehr laut, damit es sein Gast hören möge, »aber selber essen könnt' ich es absolut nicht.«
Und doch sog er den Duft des zischenden Specks ein, als wenn er ihn, ach! selber nur zu gern äße. Und als er das kochende Wasser in die Teekanne goß, blickte er liebevoll hinab in die Tiefen des blanken Kessels und ließ sich den duftigen Dampf um die Nase wirbeln und sich Kopf und Gesicht in eine dichte Wolke hüllen. Trotzdem trank er nicht und aß nicht, außer am Anfang einen Bissen – der Form wegen –, der ihm unendlich behagte, wie er aber laut erklärte, nicht im geringsten schmecken wollte. Nein!
Trottys einzige Beschäftigung war, Will Fern und Lilly beim Essen und Trinken zuzusehen, und dasselbe tat auch Meg. Niemals wohl fanden Zuschauer bei einem City-Gastmahl oder bei einem Hofbankett so viel Vergnügen daran, andere speisen zu sehen, und wären es König und Papst gewesen.
Margaret lächelte Trotty an, Trotty nickte Meg zu. Meg schüttelte den Kopf und applaudierte Trotty unhörbar, und Trotty erzählte Meg in der Taubstummensprache unverständliche Geschichten, wie und wo und wann er den Besuch gefunden. Und sie waren glücklich. Sehr glücklich.
»Trotzdem«, dachte Trotty bekümmert, als er Margarets Gesicht beobachtete, »trotzdem das Verhältnis abgebrochen ist, wie ich sehe.«
»Jetzt will ich euch etwas sagen«, sagte Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft natürlich bei Meg.«
»Bei der guten Meg!« rief das Kind und liebkoste sie. »Bei Meg!«
»Recht so«, sagte Trotty »ich würde mich gar nicht wundern, wenn auch Megs Vater einen Kuß bekäme. Ich bin Megs Vater.«
Mächtig entzückt war er, als das Kind schüchtern auf ihn zukam und ihn küßte, worauf es wieder zu Margaret zurückging.
»Sie ist so feinfühlig wie Salomo«, sagte Trotty, »hier sind wir und hier – nein ich versprach mich. Wir bleiben nicht – ich – was wollt' ich doch nur sagen, Meg, mein Herzblatt?«
Meg blickte den Gast an, der auf seinem Stuhle lehnte, das Gesicht abgewandt, und den Kopf des Kindes streichelte, das in ihrer Schürze halbversteckt ruhte.
»Wahrhaftig«, sagte Toby. »Wahrhaftig, ich weiß nicht, was heute mit mir los ist, meine Gedanken gehen wahrscheinlich Holz klauben im Walde. Will Fern, Ihr kommt mit mir. Ihr seid todmüde und ganz erschöpft vor Mangel an Ruhe. Ihr kommt mit mir.«
Der Mann spielte noch immer mit des Kindes Locken, lehnte immer noch auf Megs Stuhl, wandte immer noch sein Gesicht ab. Er sprach nicht, doch wie seine rauhen groben Finger zitternd in dem schönen Haar des Kindes spielten, da lag mehr Beredsamkeit in ihnen, als Worte hätten sagen können.
»Ja, ja«, sagte Trotty, unbewußt die Bitte beantwortend, die sich im Gesicht seiner Tochter ausdrückte. »Nimm sie mit dir, Meg, und bring sie zu Bett. So, fertig! Und Euch, Will, will ich zeigen, wo Ihr liegt. Es ist nicht gerade ein feiner Platz, bloß ein Heuboden, doch ich sag' es immer, es ist einer der größten Vorteile, wenn man in einem Marstall wohnt, der einen Heuboden hat. Solange Remise und Stall nicht besser vermietet sind, wohnen wir hier billig. Es ist eine Menge weiches Heu oben, das einem Nachbarn gehört, und es ist so sauber, wie Meg es selber nicht sauberer machen könnte. Nur Mut, Mann, – Kopf hoch und frischen Mut fürs neue Jahr allerwegen.«
Die Hand hatte des Kindes Haar losgelassen, war zitternd auf Trottys Arm gefallen, und Trotty rastlos schwatzend, führte seinen Gast so zärtlich und behutsam hinauf wie ein Kind.
Schneller als Meg zurückkommend, horchte er einen Augenblick an der Tür der kleinen Kammer, die an die Stube stieß. Das Kind sprach ein einfaches Gebet, ehe es schlafen ging, und er hörte es Megs Namen zärtlich nennen und dann innehalten und nach dem seinen fragen.
Es dauerte einige Zeit, ehe der kleine, närrische Kerl sich sammeln, das Feuer schüren und seinen Stuhl an den warmen Kamin rücken konnte. Doch als er dies getan und das Licht geputzt, nahm er seine Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. Sorglos zuerst und die Zeilen überfliegend, bald aber mit ernster und trauriger Aufmerksamkeit. Dieses selbige gefürchtete Zeitungsblatt lenkte Trottys Gedanken wieder in das gleiche Fahrwasser, in dem sie den ganzen Tag einhergetrieben waren, seine Gedanken, die die Ereignisse des Tages so scharf gekennzeichnet hatten. Sein Interesse an den beiden müden Wanderern hatte seinem Denken eine Zeitlang eine andere Richtung gegeben und eine glücklichere, als er aber jetzt wieder allein war und von Verbrechen und Gewalttat las, da verfiel er wieder in seinen frühern Ideengang.
In dieser Stimmung geriet er auf einen Bericht – es war nicht der erste der Art, den er gelesen – von einer Frau, die in der Verzweiflung Hand an sich und ihr Kind gelegt hatte. Ein so schreckliches Verbrechen, wenn er an seine liebe Meg dachte, schien es ihm, daß er die Zeitung fallen ließ und entsetzt in den Stuhl zurücksank.
»Unnatürlich und grausam!« sagte er, »unnatürlich und grausam! Nur Leute, die von Herzen schlecht und von Natur böse sind und auf der Erde nichts zu suchen haben, können solche Taten begehen. Es ist nur zu wahr, was ich heute gehört habe, nur zu richtig. Wir sind böse von Geburt.«
Die Glocken nahmen ihm die Worte so plötzlich vom Munde, brüllten auf, so laut, klar und dröhnend, daß es Toby wie ein Blitz traf.
Und was war's, das sie sagten? »Toby Veck, Toby Veck! Wir warten deiner! Warten dein! Toby Veck! - Warten dein! warten dein! Komm zu uns! Komm zu uns! Bringt ihn her! Bringt ihn her! Plagt ihn und jagt ihn! Plagt ihn und jagt ihn! Stört ihn im Schlaf! Stört ihn im Schlaf! Toby Veck! Toby Veck! Türe auf, Toby Veck! Türe auf, Toby Veck! Türe auf! Toby! Toby! Türe auf! Toby!«
Dann fingen sie wieder von vorn an mit ihrem wilden, ungestümen Geläut und dröhnten, daß die Steine in den Wänden und der Mörtel zitterten.
Toby horchte. »Träume, Träume.« Es befiel ihn wie Reue, daß er nachmittags von ihnen weggelaufen. »Nein, nein, nein, nichts mehr dieser Art.« Aber wieder und wieder kam es, noch ein dutzendmal. »Jagt ihn und plagt ihn! Plagt ihn und jagt ihn! Bringt ihn her! Bringt ihn her!« Bis die ganze Stadt wie taub war.
»Meg«, fragte Trotty und öffnete leise ihre Tür. »Hörst du etwas?«
»Ich höre die Glocken, Vater. Sie läuten heute nacht so laut.«
»Schläft sie schon?« fragte Toby, um irgend etwas zu sagen.
»Und wie friedlich und glücklich! Sie hält meine Hand fest, ich kann noch nicht fortgehen.«
»Meg«, flüsterte Trotty, »hör nur die Glocken!«
Sie horchte, die ganze Zeit über ihr Gesicht ihm zukehrend, aber ihre Mienen veränderten sich nicht. Sie verstand die Glocken nicht. Trotty zog sich zurück, er nahm seinen Platz am Feuer wieder ein und lauschte noch einmal.
Es litt ihn nicht lange da. Er konnte es unmöglich mehr ertragen. Die Kraft der Glocken war furchtbar.
»Wenn die Turmtüre wirklich offenstünde«, sagte er, legte hastig seine Schürze ab und vergaß dabei seinen Hut, »was könnte mich hindern, hinaufzusteigen und mir Gewißheit zu verschaffen? Wenn sie verschlossen ist, brauch' ich weiter keine Gewißheit mehr. Dann weiß ich genug.«
Er war eigentlich fest überzeugt, als er leise auf die Straße hinausschlüpfte, daß die Turmtür fest verschlossen sein müsse, denn er kannte sie gar wohl und hatte sie kaum dreimal im Leben offen gesehen. Sie hatte ein niedriges, rundes Portal außen an der Kirche in einer dunkeln Ecke hinter einer Säule und so große eiserne Angeln und ein so ungeheures Schloß, daß man mehr von den Angeln und dem Schlosse sah als von der ganzen Türe. Aber wie groß war Trottys Erstaunen, als er jetzt barhäuptig zur Kirche kam, die Hand suchend in den dunkeln Winkel streckte, schaudernd vor Furcht, es könne sie jemand unversehens packen, und bereit, sie jeden Augenblick zurückzuziehen – – und die Tür offen fand. Im ersten Schrecken wollte er umkehren und ein Licht oder einen Begleiter holen. – Bald jedoch fand er seinen Mut wieder.
»Was hab' ich denn zu fürchten?« fragte er sich. »Es ist doch eine Kirche, und wahrscheinlich ist der Mesner drin und hat die Tür vergessen zu schließen.«
So ging er denn hinein und tappte sich vorwärts, wie ein Blinder, denn es war stockfinster. Totenstille. Die Glocken schwiegen.
Den Staub von der Straße hatte es hereingeweht. Er lag dort fußtief, daß Toby wie auf Sammet ging. Es war etwas Beängstigendes, Unheimliches dabei. Die enge Treppe stieß so dicht an die Tür, daß Toby bei der ersten Stufe stolperte, sie im Fallen hinter sich zuwarf und dann nicht mehr aufklinken konnte.
Das war ihm nur ein Grund mehr, vorwärts zu gehen. Er tastete sich aufwärts, immer aufwärts, im Kreise herum, immer höher, immer höher und höher.
Es war eine böse Treppe, so niedrig und schmal, daß seine tastende Hand immer an etwas stieß. Und es fühlte sich so oft an wie eine gespenstische Gestalt, die aufrecht stand und ihm auswich, um nicht entdeckt zu werden, daß er oft an der glatten Mauer in die Höhe fühlte, um nach dem Gesicht zu suchen, während ihn eine Gänsehaut überlief. Zweimal oder dreimal unterbrach eine Nische, die ihm so groß vorkam wie die ganze Kirche, die einförmige Mauerfläche. Dann glaubte er am Rand eines Abgrunds zu stehen und kopfüber hinunterstürzen zu müssen, bis er die Wand wiederfand. Immer hinauf, hinauf und hinauf, im Kreise herum und hinauf, hinauf, hinauf, höher, höher und höher hinauf. Allmählich wurde die dumpfe, erstickende Luft frischer – Zugluft wehte, und endlich blies der Wind so stark, daß Toby sich kaum auf den Beinen halten konnte. Endlich gelangte er an ein Bogenfenster in dem Turm wie an eine Brustwehr und hielt sich fest und sah hinab auf die Giebel der Häuser, die rauchenden Schornsteine, auf die Lichtflecken und Strahlenmassen (in der Gegend, wo Margaret sich jetzt wahrscheinlich wunderte, wo er nur sein möchte, und vielleicht nach ihm rief, die wie in einen Teig von Nebel und Finsternis eingeknetet waren.
Das war die Glockenstube, wohin der Mesner kam. Toby hatte eins von den zerschlissenen Seilen erfaßt, die durch Öffnungen von der eichenen Decke herunterhingen. Zuerst fuhr er zurück, denn es fühlte sich an wie ein Haarbüschel. Dann zitterte er bei dem bloßen Gedanken, daß er die dumpfe Glocke aufwecken könnte.
Die Glocken selber hingen höher! Und höher hinauf tastete sich Trotty in seiner Betäubung oder unter dem Einfluß des Spuks. Über Leitern, steil und beschwerlich, wo die Füße kaum mehr Halt fanden, und hinauf, hinauf, hinauf sich klammernd und klimmend, hinauf, hinauf, hinauf, höher, höher, höher hinauf!
Bis er durch die Luke klomm und mit dem Kopf über dem Balken war. Da hing er mitten unter den Glocken. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit ihre gewaltigen Umrisse zu unterscheiden, aber da waren sie, da hingen sie, schattenhaft, finster und stumm.
Ein bleiernes Gefühl von Furcht und Einsamkeit überfiel ihn augenblicklich, als er in dies luftige Nest von Gestein und Erz emporklomm. Ihn schwindelte. Er lauschte. Dann rief er ein wildes »Hallo!«
»Hallo!« dehnte traurig das Echo.
Schwindelnd, verwirrt, außer Atem und von Entsetzen geschüttelt, blickte Toby ins Leere und sank ohnmächtig zusammen.


Drittes Viertel


Schwarz brüten die Wolken, und es kochen die Wasser der Tiefe, wenn die tobende Gedankensee ihre Toten herausgibt nach tiefer Windstille. Ungeheuer, so wild und ungeschlacht, tauchen auf in einer vorzeitigen, lückenhaften Auferstehung, die mancherlei Glieder und Teile der verschiedensten Dinge in ein Ganzes vereint, wie der Zufall es fügt. Nach welchen Gesetzen sich die Glieder trennen, vermischen und zusammenfinden, um Sinn und Form zu bilden zu neuem Leben, das kann der Mensch nimmer erfassen, und ist er auch jetzt und immerdar der Gral des großen Mysteriums, der dieses Geheimnis birgt. Und wann und wie sich die Finsternis der nachtschwarzen Kuppel zum schimmernden Licht wandelte, wann und wieso sich der einsame Turm mit Milliarden Gestalten bevölkerte, wann und wieso das durch Trottys Schlaf und Ohnmacht wispernde »Plagt ihn und jagt ihn« zu der Stimme wurde, die in seine wachen Ohren rief: »Stört ihn im Schlaf!«; wann und wieso er aufhörte, in seiner verworrenen Vorstellung die Scharen der Dinge, die da waren, mit den Scharen der Dinge, die nur zu sein schienen, miteinander zu verwechseln, das zu erfahren, gibt es nicht Weg noch Steg. Als er aber wieder aufgewacht mit beiden Beinen auf den Brettern stand, da sah er folgenden gespenstischen Spuk.
Er sah den Turm, wohinauf ein Zauber seine Schritte gelenkt, wimmeln von zwerghaften Phantomen, von den Geistern, Kobolden und Elfen der Glocken. Er sah sie unaufhörlich und ohne Unterlaß aus den Glocken springen, fliegen, fallen, stürzen. Er sah sie rings um sich her auf dem Boden, über sich in der Luft –, sah sie die Seile hinabklettern; sah, wie sie von den schweren, eisengegürteten Balken herniederblickten, durch die Ritzen und Löcher in den Mauern auf ihn hereinschielten, in schwingendem Reigen wegzogen von ihm, weiter und weiter, wie die kräuselnden Wasserringe wegfliehen von einem plumpen Steine, der plötzlich in sie hineinplatscht. Er sah sie in jeder Art und Gestalt, häßliche und hübsche, verkrüppelte und schlanke; er sah sie jung, er sah sie alt, gütig und grausam, fröhlich und mürrisch; er sah ihren Tanz und hörte sie singen. Manche rauften sich das Haar, und er hörte ihr Heulen. Es wimmelte die Luft von ihnen. Er sah sie kommen und gehen ohne Unterlaß. Er sah sie abwärts reiten und in die Höhe fliegen, sah, wie sie von dannen segelten und dicht neben ihm hockten; alle ruhelos und in wilder Bewegung. Granit und Ziegel, Schiefer und Holz wurden für ihn wie für sie zu Glas. Er sah sie drinnen in den Häusern geschäftig an der Schläfer Betten. Er sah sie den Menschen Linderung bringen in ihre Träume, sah, wie sie andere mit knotigen Geißeln schlugen. Er sah sie ihnen in die Ohren gellen oder leise, zarte Musik auf ihren Pfühlen spielen. Er sah, wie sie dem einen mit Vogelgesang und Blumenduft das Herz froh machten, dem andern aus Zauberspiegeln, die sie in den Händen hielten, grauenhafte Gesichter in die gestörte Ruhe warfen.
Er sah diese gespenstischen Wesen auch unter wachen Menschen die verschiedensten und miteinander unverträglichsten Dinge treiben und die seltsamsten Veränderungen an sich vornehmen. Er sah, wie der eine sich Flügel ohne Zahl anschnallte, um seine Geschwindigkeit zu vergrößern, und ein anderer sich mit Ketten und Gewichten beschwerte, um die seine zu hemmen. Er sah, wie manche die Zeiger an den Turmuhren vorrückten; wie andere sie festhielten, um die Zeit zum Stehen zu bringen. Er sah, wie die einen eine Hochzeit feierten und andere zum Begräbnis gingen. Wie sie hier einen Ball aufführten und dort um die Wahlurne tanzten. Und überall ruheloses und unermüdliches Hasten und Jagen.
Verwirrt von der Menge der wechselnden, sonderbaren Gestalten wie durch das Dröhnen der Glocken, die über ihm läuteten ohne Rast, ohne Ruh, klammerte sich Trotty an einen hölzernen Stützpfeiler und wandte sein kreideweißes Gesicht hierhin und dorthin in stummem versteinertem Staunen.
Und mitten in seinem Staunen hielt plötzlich das Läuten still, und blitzschnell wandelte sich das Bild. Der Schwarm zerstob, die Gestalten fielen in sich zusammen. Ihre Schnelligkeit ließ sie im Stich, sie suchten zu fliehen, aber über ihrem Fallen und Stürzen starben sie hin und zergingen in der Luft. Kein neuer Zuzug ergänzte ihre Zahl. Ein einziger Nachzügler noch sprang eilig aus der großen Glocke heraus und kam auf die Füße zu stehen. Doch er war tot und gestorben, ehe er sich umdrehen konnte. Einige von denen, die im Turme rumort und Luftsprünge gemacht hatten, blieben ein Weilchen und drehten sich noch. Doch bei jedem Sprung wurden sie schwächer und ihre Zahl kleiner und kleiner, und sie gingen bald den Weg, den alle übrigen gegangen. Der letzte von allen, das war ein kleiner Kerl mit einem Buckel; er hatte sich in einem Schallwinkel verkrochen, wo er quirlte und quirlte und sich noch lange in drehender Bewegung hielt und mit solcher Ausdauer, daß zuletzt von ihm ein Bein, dann bloß nur ein Fuß blieb, bis endlich gar nichts mehr von ihm übrig war. Dann lag der Turm in Todesschweigen. Da erblickte Trotty – was er vorher nicht gesehen – in jeder Glocke eine bärtige Gestalt, so hoch und breit wie die Glocke selbst. Etwas Unbegreifliches: eine Gestalt und doch die Glocke selbst. Von riesenhafter Größe, die ernsten, finstern Blicke auf ihn gerichtet, wie er so an den Boden gewurzelt stand.
Geheimnisvolle und furchtbare Gestalten, die auf nichts standen, in der Nachtluft des Turmes hingen und mit ihren bedeckten und bekappten Häuptern bis an die dunkle Decke ragten, bewegungslos und schattenhaft. Schattenhaft und dunkel, wie von einem Schein umwoben, der von ihnen selbst ausging; – die verhüllte Hand auf den gespenstischen Mund gelegt. Er wollte sich schnell durch die Öffnung im Boden hinunterlassen, aber die Kraft, sich zu bewegen, war von ihm genommen. Er hätte sich kopfüber in die Tiefe gestürzt, um aus dem Bannkreis der Augen dieser schrecklichen Gestalten zu entkommen, die ihn bewachten und bewachten und den Blick nicht von ihm gewandt hätten, würde man ihnen auch die Augäpfel herausgenommen haben. Wieder und wieder schlug ihm das Grausen und Entsetzen der einsamen Stätte und der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte, wie mit Geisterhand ins Genick. Fern von jeglicher Hilfe und der lange, finstere, im Kreise gehende Weg voll Gespenstern zwischen ihm und der Erde der Menschen, hier oben, hoch, hoch, hoch oben, in der Kuppel des Turms, den bei Tage die Vögel umkreisen in schwindelnder Höhe; abgeschnitten von allen guten Menschen, die zu solcher Stunde in ihren Betten lagen und schliefen. Eiskalt überrieselte es ihn. Nicht wie ein Gedanke: wie lebendige, körperliche Empfindung. Seine Augen hingen furchtsam an den riesigen Wächtern, die nicht wie Gestalten waren von dieser Welt, in ihren Hüllen aus tiefer Dunkelheit gewebt, in ihrem unirdischen Aussehen und in übernatürlicher Weise über dem Boden schwebend. Die dunkel und doch so deutlich waren wie die starken Sparren aus Eichenholz; die Kreuzstücke, Balken und Bäume, die hier oben standen als Stützen und Träger der Glocken. Wie in einem Walde von behauenem Holz standen die Riesen und hielten ihre düstere, reglose Wacht inmitten dieser Verschlingungen und Verkreuzungen von toten Ästen, die verdorrt waren durch die gespenstische Nähe.
Ein Luftzug, kalt und schneidend, fuhr stöhnend durch den Turm. Als er vorüber war, da hob der Geist der großen Glocke zu sprechen an:
»Was ist das für ein Gast?«
Die Stimme klang tief und dumpf, und Trotty schien es, als töne sie nach in den andern Gestalten.
»Ich dachte, man habe mich beim Namen gerufen«, sagte Trotty und hob bittend die Hände auf. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin und warum ich kam. Ich habe auf die Glocken gehorcht so manches Jahr, und es hat mir das Herz erleichtert.«
»Und hast du ihnen gedankt?« fragte die Glocke.
»O tausendmal!« schrie Trotty.
»Wie?«
»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte bloß mit Worten danken.«
»Und hast du ihnen immer gedankt?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns niemals gelästert in Worten?«
»Nie«, schrie Trotty eifrig.
»Niemals uns Schlimmes und Falsches nachgesagt und uns boshaft und böse genannt?«
»Niemals«, wollte Trotty antworten, doch schwieg er plötzlich bestürzt.
»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: vorwärts! Die Zeit will, daß er vorwärts schreite, will, daß er sich vervollkommne und seinen Wert erhöhe, sein Glück mehre und sein Leben besser gestalte und dem Ziele zuschreite, das vor seinen Augen liegt und abgesteckt wurde, als die Zeit und er begannen. Jahre der Dunkelheit, des Greuels und der Gewalttat sind gekommen und gegangen. Unzählbare Millionen haben gelitten, gelebt und sind gestorben. Um den Weg zu zeigen, der vorwärts führt. Wer stehenbleibt und den Gang der Zeit hemmen will, der greift in eine mächtige Maschine, die alle erschlägt, die im Wege stehen, und nach dem Stillstand eines Augenblicks nur um so ungestümer und rascher vorwärts treibt.«
»Das hab ich nie getan, soviel ich weiß, Sir«, sagte Trotty. »Wenn ich es getan habe, so geschah es unabsichtlich. Ich würde so etwas bestimmt nicht tun.«
»Wer fälschlich der Zeit und ihren Dienern in den Mund einen Klageruf legt um die Tage, die geprüft und zu leicht gefunden wurden und die Spuren zurückgelassen haben, so tief, daß sie ein Blinder sehen kann – einen Klageruf, der der Gegenwart nur so weit dienen könnte, als er der Menschheit zeigt, wie sehr Hilfe not tut –, wer dies tut, der tut unrecht. Und dieses Unrecht hast du uns, den Glocken, getan.«
Trottys ärgste Furcht war geschwunden. Er hatte eine zärtliche und dankbare Neigung zu den Glocken gehabt, und als er hörte, daß man ihn einer so schweren Kränkung bezichtigte, erfüllte sich sein Herz mit Reue und Leid.
»Wenn Ihr wüßtet«, sagte Trotty und faltete inbrünstig die Hände, »– oder vielleicht wißt Ihr es –, wie oft Ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft Ihr mich aufgerichtet habt, wenn ich niedergeschlagen war, wie Ihr das einzige Spielzeug meiner kleinen Meg waret, als ihre Mutter gestorben und sie und ich allein zurückgeblieben, würdet Ihr mir wegen eines einzigen übereilten Wortes nicht gram sein ...«
»Wer in unserm Klang ein Echo hört menschlicher Leidenschaft und der Sorge um elende Nahrung, um die die Menschen welken und sich grämen, der fügt uns Unrecht zu. Dies Unrecht hast du uns getan«, sagte die Glocke.
»Das habe ich getan«, sagte Trotty. »Oh, verzeiht mir.«
»Wer in unserm Dröhnen jenes elende Erdgewürm reden hört, die Unterdrücker der Gedemütigten und Niedergebrochenen, die da bestimmt sind, höher erhoben zu werden, als jene Maden der Zeit kriechen können«, fuhr der Geist der Glocke fort, »wer also tut, der tut uns Unrecht. Und du hast uns Unrecht getan.«
»Nicht mit Absicht«, sagte Trotty, »in meiner Unwissenheit. Nicht mit Absicht.«
»Zuletzt und zumeist«, fuhr die Glocke fort, »wer den Gefallenen und Entstellten seiner Art und Gattung den Rücken kehrt, von ihnen als niedrig und gemein die Hand abzieht und den Abgrund nicht sehen will mit mitleidigem Auge, in den sie stürzten, in ihrem Falle noch huschend nach Büschel und Schollen von jenem Erdreich, dessen sie verlustig gingen, daran hängend, sich daran klammernd – den Abgrund, in dem sie zermalmt und sterbend liegen –, wer solches tut, der fügt dem Himmel und der Menschheit, der Zeit und der Ewigkeit Unrecht zu. Und solches Unrecht hast du auch getan.«
»Schone mich«, rief Trotty und sank in die Knie, »um der Barmherzigkeit willen.«
»Horch!« sagte der Schatten.
»Horch!« riefen die andern Schatten.
»Horch!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty bekannt vorkam.
Die Orgel tönte leise in der Kirche unten, und ihr Ton schwoll an, und die Melodie drang zum Dache hinauf und füllte Chor und Schiff. Sie breitete sich aus, mehr und mehr, sie stieg hinauf, hinauf, hinauf, hinauf, höher und höher und höher hinauf und weckte fühlende Herzen auf in den Eichenpfeilern, in der Höhlung der Glocken, in den eisengegürteten Türen, in den Treppen aus festem Gestein, bis die Mauern des Turms sie nicht mehr fassen konnten und sie sich aufwärts schwang zum Firmament.
Kein Wunder, daß eines alten Mannes Brust den mächtigen, ungeheuern Klang nicht fassen konnte; der Schall sprengte das enge Gefängnis mit einem Strom von Tränen, und Trotty schlug die Hände vor sein Gesicht.
»Horch!« sagte der Schatten.
»Horch!« sagten die andern Schatten.
»Horch!« sagte des Kindes Stimme.
Eine feierliche, vielstimmige Weise stieg in den Turm empor. Es war eine sehr traurige, düstere Weise: ein Totenlied.
Und als Trotty lauschte, da hörte er seiner Tochter Stimme unter den Singenden.
»Sie ist tot«, schrie der alte Mann. »Meg ist tot. Ihr Geist ruft nach mir. Ich höre ihn!«
»Der Geist deines Kindes weint um die Toten und mischt sich unter die Toten mit toten Hoffnungen, toten Vorstellungen, toten Träumen der Jugend«, antwortete die Glocke. »Sie selbst aber lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne von dem Wesen, das deinem Herzen am nächsten steht, wie böse die Bösen geboren sind. Sieh, wie elend und kahl der schönste Blumenstengel wird, reißt man die Knospen aus und Blatt um Blatt. Folge ihr in die Verzweiflung nach!«
Jeder der Schatten reckte den rechten Arm aus und wies niederwärts.
»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter«, sagte die Gestalt. »Geh! Er steht hinter dir.«
Trotty sah sich um und sah – das kleine Mädchen? Das kleine Mädchen, das Will Fern durch die Straßen getragen, das kleine Mädchen, das Meg bewacht und das jetzt im Schlummer lag.
»Ich selbst trug sie, diese Nacht«, sagte Trotty »in meinen Armen.«
»Zeig ihm, was er nennt: Ich selbst«, sagten die dunklen Gestalten aus einem Munde.
Der Turm tat sich auf zu seinen Füßen. Trotty blickte nieder und sah sich selbst auf dem Boden liegen, draußen vor dem Turm, zerschmettert und regungslos.
»Nicht mehr unter den Lebenden«, schrie er auf. »Tot.«
»Tot«, sagten die Gestalten aus einem Munde.
»Barmherziger Himmel! Und das neue Jahr –«
»Vorbei«, sagten die Gestalten.
»Was!« schrie er mit Schaudern. »Ich verfehlte den Weg, trat im Finstern heraus aus dem Turm in die Nacht und fiel herab – vor einem Jahr?«
»Vor neun Jahren«, erwiderten die Gestalten.
Und wie sie diese Antworten gaben, zogen sie ihre ausgestreckten Hände zurück, und wo ihre Gestalten gewesen, da hingen die Glocken.
Und sie läuteten, da ihre Zeit wiedergekommen; und wieder erwachten ungeheure Scharen von Phantomen zum Leben, wieder wie damals geschäftig, wieder wie damals hinschwindend und in ein Nichts zusammenschrumpfend, als das Dröhnen verstummte.
»Was sind sie?« fragte Trotty seine Führerin. »Wenn ich nicht wahnsinnig werden soll, sag, was sind sie?«
»Kobolde der Glocken. Ihre Klänge auf den Fittichen der Luft«, antwortete das Kind. »Sie nehmen Form an und handeln, wie die Gedanken und Hoffnungen der Sterblichen es ihnen eingeben.«
»Und du«, sagte Trotty verwirrt, »was bist du?«
»Pst! Pst!« antwortete das Kind. »Schau her!« In einer ärmlichen niedrigen Stube an derselben Stickerei arbeitend, die er so oft und oft von ihr gesehen, zeigte sich ihm Meg, seine eigene geliebte Tochter. Er versuchte nicht, ihr Küsse auf die Wange zu drücken und sie an sein liebendes Herz zu schließen. Er wußte, daß solche Zärtlichkeit nicht mehr für ihn war. Er hielt nur seinen zitternden Atem an und wischte nur die Tränen weg, die sein Auge blendeten, damit er sie sehen könnte.
O wie verändert, wie verändert war sie! Das Licht des klaren Auges wie trübe! Die Rosen ihrer Wangen verwelkt. Schön war sie noch immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung war gestorben, die Hoffnung, die fröhliche Hoffnung, die einst zu ihm gesprochen wie eine Stimme.
Sie blickte von der Arbeit auf nach ihrer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihrem Auge und fuhr zurück.
Sofort erkannte er das jetzt erwachsene Mädchen wieder. In den langen seidenen Locken erkannte er die alten Ringel wieder, und um die Lippen schwebte noch derselbe kindliche Ausdruck. Siehe, in den Augen, die forschend auf Margarets Gesicht ruhten, strahlte noch derselbe Blick, den er in ihren Zügen gelesen, als er sie damals in sein Haus getragen hatte.
Was war aber das neben ihm? Mit Scheu in das kindliche Gesicht blickend, sah er etwas in den Zügen, ein feierliches, unbestimmtes, unerklärliches Etwas, das kaum mehr als eine Erinnerung an jenes Kind ausdrückte, das es wohl der Gestalt nach sein konnte, und doch war es dasselbe Kind, dasselbe und trug auch seine Kleidung.
Horch, sie sprachen miteinander.
»Meg«, sagte Lilly mit Zögern, »wie oft du aufblickst von deiner Arbeit, um mich anzusehen.«
»Hat sich mein Aussehen so geändert, daß es dich erschreckt?«
»Gewiß nicht, liebe Meg. Du glaubst es gewiß selbst nicht. Aber warum lächelst du nicht mehr, wenn du mich anblickst, Meg?«
»Das tue ich doch, oder nicht?« Sie antwortete und lächelte sie an.
»Jetzt wohl«, sagte Lilly »aber gewöhnlich nicht. Wenn du zuweilen denkst, ich sei beschäftigt und bemerke es nicht, dann siehst du so ängstlich und besorgt aus, daß ich kaum wage, die Augen aufzuschlagen. Wohl haben wir bei diesem harten mühseligen Leben wenig Ursache zu lächeln, aber du warst doch sonst so heiter.«
»Bin ich es nicht noch?« fragte Meg mit seltsamer Unruhe und stand auf und umarmte sie. »Mache ich dir unser mühseliges Leben noch mühseliger, Lilly?«
»Du warst doch das einzige Wesen«, sagte Lilly und küßte sie heiß, »das mir das Leben erhielt, bisweilen das einzige Wesen, dessentwegen ich weiterlebte, Meg. Diese Arbeit, diese Arbeit! Die vielen Stunden und Tage, die langen, langen Nächte hoffnungsloser, freudenarmer, nimmerendender Arbeit – nicht um Vermögen zu sammeln, vornehm oder fröhlich zu leben, nicht einmal um bescheiden, wenn auch noch so notdürftig zu leben, nur gerade, um trocknes Brot zu verdienen, um gerade so viel zu erübrigen, um davon darben zu können und in uns das Bewußtsein unseres harten Schicksals lebendig zu erhalten. O Meg, Meg!« schrie sie und schlang schmerzerfüllt ihre Arme um sie. »Wie kann die grausame Welt ein solches Leben so lange mit ansehen.«
»Lilly!« sagte Meg, sie beruhigend und strich ihr das Haar aus dem tränenfeuchten Gesicht. »Aber Lilly, du, so hübsch und so jung!«
»O Meg«, unterbrach sie Lilly und beugte sich weg von ihr auf Armeslänge und sah ihr flehend ins Gesicht. »Das ist gerade das Schlimmste von allem. Wäre ich alt, Meg, wäre ich welk und runzlig, dann wäre ich frei von den schrecklichen Gedanken, die mich so in Versuchung führen in meiner Jugend.«
Trotty wandte sich um nach seiner Führerin. Doch der Geist des Kindes hatte die Flucht ergriffen. Er war fort.
Auch er selbst blieb nicht.
Denn Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt ein großes Fest in Bowley Hall zur Geburtstagsfeier der Lady Bowley. Und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – die Lokalblätter sahen das als einen besonderen Fingerzeig der Vorsehung an und spielten darauf an, daß die Zahl »I« der Lady Bowley auch zugleich die bekannte Schöpfungszahl »I« sei –, so fand dieses Fest an einem Neujahrstage statt.
Bowley Hall war voll von Gästen. Der Gentleman mit dem roten Gesicht war da. Mr. Filer war da. Der große Alderman Cute war da. Alderman Cute hatte eine große Vorliebe für vornehme Leute, und sein Verhältnis zu Sir Joseph Bowley hatte sich infolge seines damaligen aufmerksamen Briefs außerordentlich gefestigt. Er war seit der Zeit geradezu ein Freund der Familie geworden. – Und viele Gäste waren da. Trottys Geist war da, und das arme Gespenst wanderte trübselig herum und suchte nach seiner Führerin.
In der großen Halle sollte das prunkhafte Dinner stattfinden, bei dem Sir Joseph Bowley in seiner berühmten Stellung als Freund und Vater der Armen seine große Rede halten sollte. Eine Reihe Plumpuddings sollten zuerst von seinen »Freunden« und deren Kindern in einer andern Halle gegessen werden, und auf ein gegebenes Zeichen sollten sich diese Freunde und Kinder unter ihre Freunde und Väter mischen und so eine Familienversammlung bilden, daß vor lauter Rührung nicht einmal ein männliches Auge trocken bleiben sollte.
Aber noch mehr war vorgesehen. Sogar noch mehr als das. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, wollte mit seinen Knechten eine Partie Kegel, eine wirkliche Partie Kegel schieben.
»Es erinnert einen förmlich«, sagte Alderman Cute, »an die Tage des alten Königs Heinz, des starken Königs Heinz, des dicken Königs Heinz.«
»Ja, das war ein edler Charakter!«
»Ja, ein sehr edler«, sagte Mr. Filer trocken. »Besonders was das Heiraten und Ermorden seiner Frauen anbelangt. Nebenbei gesagt, gibt's mehr Frauen als Männer.«
»Nicht wahr, du wirst die schönen Damen bloß heiraten und sie nicht ermorden, was«, sagte Alderman Cute zu dem zwölfjährigen Erben Bowleys. »Ein süßer Junge. Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben, ehe wir uns versehen«, sagte der Alderman, nahm ihn bei den Schultern und sah ihn so nachdenklich, wie er nur irgend konnte, an. »Wir werden von seinen Erfolgen bei den Wahlen hören, von seinen Reden im Parlament, von den Angeboten seitens der Regierung und seinen brillanten Leistungen auf allen Gebieten; o wir werden ihm unsere geringen Huldigungen im Gemeinderat darbringen, das weiß ich, eher als wir denken.«
»O das machen die Schuhe und Strümpfe«, dachte Trotty, aber sein Herz schlug dem Kinde entgegen, um der Liebe willen zu den schuh- und strumpflosen Jungen, denen der Alderman an jenem Mittag die Laufbahn von Taugenichtsen vorausgesagt und die seiner armen Meg Kinder hätten sein können.
»Richard«, stöhnte er und durchstreifte die Gesellschaft. »Wo ist er nur? Ich kann Richard nicht finden. Wo ist Richard?«
Hier wahrscheinlich nicht, wenn er noch lebte!
Schmerz und Einsamkeit verwirrten Trotty. Er wanderte immer noch unstet in der vornehmen Gesellschaft herum, suchte seine Führerin und sagte unablässig: »Wo ist nur Richard? Zeig mir Richard!«
Als er so herumlief, begegnete er Mr. Fish, dem Geheimsekretär, der in großer Aufregung war. »Gott steh mir bei!« rief Mr. Fish. »Wo ist nur der Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«
Den Alderman gesehen? Lieber Himmel, wer konnte den Alderman nicht sehen. Er war so fürsorglich, so leutselig – sich des begreiflichen Wunsches der Menge, seiner ansichtig zu sein, so bewußt, daß er sich immerwährend vor allen Augen hielt. Und wo vornehme Leute waren, da war bestimmt auch Cute, angezogen von der Sympathie, die große Seelen verbindet.
Mehrere Stimmen sagten, daß er sich in dem Kreise befände, der um Sir Joseph stand. Mr. Fish bahnte sich einen Weg, fand ihn und zog ihn in eine Fensternische, um ihm heimlich etwas zu sagen. Trotty gesellte sich zu ihnen. Nicht aus eignem Antrieb. Er fühlte, daß sich seine Schritte von selbst dorthin lenkten.
»Mein lieber Alderman Cute«, sagte Mr. Fish, »noch ein bißchen weiter zum Fenster. Etwas Schreckliches ist vorgefallen. Ich habe es in diesem Augenblick erfahren. Ich dächte, es wäre das beste, Sir Joseph nichts mitzuteilen, bis der Tag vorüber ist. Sie kennen Sir Joseph, und ich bitte Sie um Ihre Meinung. Ein außerordentlich schreckliches und beklagenswertes Ereignis!«
»Fish«, entgegnete der Alderman, »Fish, lieber Freund, was ist geschehen? Doch keine Revolution, will ich hoffen. Keine – keine Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit?«
»Deedles, der Bankier«, der Sekretär schnappte nach Luft, »Gebrüder Deedles, der heute hätte hiersein sollen, der im höchsten Ansehen steht an der Börse –«
»Umgeschmissen!« sagte der Alderman. »Das kann nicht sein.«
»Erschossen hat er sich –«
»Großer Gott!«
»Hat sich eine Doppelpistole in seinem eigenen Bankhause an den Mund gesetzt«, sagte Mr. Fish, »und sich das Gehirn herausgeschossen. Und ohne Grund – fürstliche Verhältnisse.«
»Verhältnisse!« rief der Alderman aus. »Ein Mann mit fürstlichem Vermögen. Einer der allerrespektabelsten Menschen. Selbstmord, Mr. Fish. Mit eigener Hand.«
»An diesem Morgen«, entgegnete Mr. Fish.
»O das Gehirn, das Gehirn!« Und der fromme Alderman hob die Hände zum Himmel. »O die Nerven, die Nerven; die Geheimnisse der Maschine, die wir Mensch nennen. Das Unscheinbarste hebt sie aus den Angeln! Armselige Geschöpfe, die wir sind! Vielleicht eine schwerverdauliche Speise, Mr. Fish. Vielleicht das Betragen seines Sohnes, der, wie ich hörte, ein wüstes Leben führt und ohne die mindeste Erlaubnis seines Vaters Wechsel auf ihn zu ziehen pflegte! Einer der angesehensten Leute, die ich jemals kennen gelernt habe! Ein beklagenswerter Umstand, Mr. Fish. Ein öffentliches Unglück. Ich werde beantragen, daß man die tiefste Trauer trägt. Ein außerordentlich angesehener Mann, aber es lebt Einer über uns. Wir müssen uns unterwerfen, Mr. Fish. Wir müssen uns beugen in Demut.«
»Was, Alderman! Kein Wort von Ausrotten? Denke an deinen hohen sittlichen Standpunkt und deinen Stolz. Komm, Alderman! Nimm einmal die Waage. Wirf in diese Schale, die leere – gar keine schwerverdauliche Speise, nur das Bild der versiegten Natur, ein armes Weib ohne Brot für ihr Kind, das doch ein Recht darauf hat seit der heiligen Mutter Evas Zeiten. Wäge die zwei, du Daniel! Und tritt zum Richterstuhl, wenn dein Tag gekommen sein wird. Wäge sie vor den Augen der leidenden Tausende und sie werden sich der greulichen Posse, die du spieltest, erinnern. Oder angenommen, du verlörest deine fünf Sinne – der Weg dahin ist kürzer als du denkst – und legtest Hand an deine eigene Gurgel zur Warnung für deine Genossen, wenn sie in ihrer sattgefressenen Verderbtheit andern vorkrächzen, was dann!«
Die Worte kamen aus Trottys Brust, wie wenn sie eine andere Stimme in ihm gesprochen hätte. Alderman Cute versprach Mr. Fish, daß er ihm behilflich sein wollte, die traurige Kunde Sir Joseph beizubringen, wenn der Tag vorüber wäre. Dann, bevor sie schieden, drückte er Mr. Fish die Hand in der Bitternis seines Schmerzes und sagte: »Ein außerordentlich angesehener Mann!« und fügte hinzu, daß er nicht begreifen könne (nicht einmal er), warum solche Trübsal auf Erden zugelassen werde.
»Man könnte fast denken, wenn man es nicht besser wüßte«, sagte Alderman Cute, »daß manchmal in der allgemeinen Einrichtung des sozialen Gebäudes sich etwas wie eine heftige Erschütterung vollzieht. Gebrüder Deedles!«
Das Kegelschieben ging unter ungeheurem Beifall vor sich. Sir Joseph schob meisterhaft. Der junge Bowley tat auch mit auf kürzern Stand, und allgemein war man der Meinung, daß jetzt, wo ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel schöben, das Land unbedingt wieder auf die Beine kommen müßte, und in so kurzer Zeit, daß man staunen werde. Genau zur üblichen Stunde wurde das Bankett serviert. Trotty ging unfreiwillig mit den übrigen in den Saal, denn er fühlte sich von einem mächtigeren Drang als seinem eigenen Willen dorthin getrieben.
Es war ein prächtiges Schauspiel; die Damen waren sehr schön; die Gäste entzückt, fröhlich und bester Laune. Als sich die untern Türen auftaten und das Volk hereinströmte in ländlicher Tracht, da erreichte die Schönheit der Szene ihren Höhepunkt. Nur Trotty murmelte immerwährend vor sich hin: »Wo ist nur Richard? Er soll ihr doch helfen und sie trösten. Ich kann Richard nicht sehen.«
Es wurden einige Reden gehalten und auf Lady Bowleys Gesundheit getrunken. Und Sir Joseph Bowley hatte gedankt und seine große Rede gehalten, in der er nachgewiesen, daß er der geborene Freund und Vater und so weiter sei und hatte als Toast die Freunde und Kinder und die Würde der Arbeit ausgebracht, da zog im Hintergrund des Saales eine kleine Störung Tobys Aufmerksamkeit auf sich. Nach einigem Wirrwarr, Lärm und Widerstand bahnte sich ein Mann den Weg durch die Menge und trat vor.
Es war nicht Richard, aber einer, an den Trotty schon öfter hatte denken müssen. Bei einer schwächern Beleuchtung hätte er vielleicht an der Identität des abgezehrten, alten, grauen und gebeugten Mannes gezweifelt, hier aber bei dem hellen Lichterschein, der auf den eckigen, knorrigen Kopf fiel, erkannte er sofort Will Fern, als dieser den ersten Schritt vorwärts tat.
»Was ist das?« rief Sir Joseph, sich erhebend. »Wer ließ den Mann herein? Es ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Mr. Fish, möchten Sie nicht die Güte haben – – –«
»Eine Minute«, sagte Will Fern, »eine Minute! Mylady! Sie haben heute zugleich mit dem neuen Jahr Geburtstag. Gestatten Sie mir, nur eine Minute zu sprechen.«
Sie verwendete sich für ihn. Sir Joseph nahm seinen Sitz wieder ein mit angeborener Würde.
Der zerlumpte Gast sah sich in der Gesellschaft um und bezeigte ihr seine Ehrerbietung, indem er sich tief verbeugte.
»Vornehme Herrschaften!« sagte er. »Sie haben soeben auf das Wohl der Arbeiter getrunken. Sehen Sie auf mich!«
»Geradenwegs aus dem Gefängnis«, sagte Mr. Fish. »Geradenwegs aus dem Gefängnis«, sagte Will. »Und nicht zum ersten oder zweiten oder dritten Mal, auch nicht zum vierten Mal.«
Man hörte Mr. Filer sagen, daß viermal bereits die Durchschnittszahl übersteige. Es wäre eine Schamlosigkeit.
»Vornehme Herrschaften!« wiederholte Will Fern. »Sehen Sie mich an. Sie sehen, ich bin auf der untersten Stufe angekommen, man kann mich nicht mehr beleidigen oder mir schaden und kann mir nicht mehr helfen. Denn die Zeit, wo mir Ihre freundlichen Worte oder Taten hätten helfen können« – er schlug sich mit der Hand auf die Brust und schüttelte den Kopf – »ist vorbei wie der Duft der Bohnenblüten oder des Klees vom vergangenen Jahr. Lassen Sie mich ein Wort für diese sprechen.« Und er wies auf die Arbeiterschaft im Saal. »Und da Sie so schön beisammen sind, so hören Sie einmal die wirkliche Wahrheit an.«
»Es ist nicht ein Mensch hier«, sagte der Gastgeber, »der Euch zum Fürsprecher haben möchte.«
»Sehr möglich, Sir Joseph. Ich glaube es auch. Deswegen ist aber, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht ist es sogar ein Beweis dafür. Meine vornehmen Herrschaften! Ich habe viele Jahre in diesem Orte gelebt. Sie können die Hütte von der eingefallenen Hürde drüben sehen. Ich habe die Damen sie wohl hundertmal in ihre Skizzenbücher zeichnen sehen. Sie soll sich so hübsch ausnehmen in einem Bilde. Aber bei Gemälden ist das Wetter nicht mit drauf, und wahrscheinlich ist es leichter, sie abzuzeichnen als drin zu leben. Gut. Ich lebte drin. Wie hart, wie bitter hart ich drin lebte und wohnte, davon will ich nicht reden. Jeden Tag im Jahr können Sie sich ja selbst überzeugen.«
Er sprach, wie er an dem Abend gesprochen, als Trotty ihn auf der Straße gefunden hatte. Seine Stimme war tiefer und rauher und bebte dann und wann. Doch er erhob sie niemals leidenschaftlich, und selten sprach er lauter, als es das ernste Thema erforderte.
»Es ist härter, als Sie sich denken, vornehme Gesellschaft, in Ehren aufzuwachsen, ich meine, in den allergewöhnlichsten Ehren, an einem solchen Orte. Daß ich als Mensch aufwuchs und nicht als Tier, spricht einigermaßen für mich, wenn man bedenkt, wie's mir damals ging. Wie ich jetzt dastehe, läßt sich für mich nichts mehr sagen oder tun. Ich bin darüber hinaus.«
»Ich bin sehr froh, daß dieser Mann gekommen ist«, bemerkte Sir Joseph heiter umherblickend. »Man störe ihn nicht, es scheint die Vorsehung die Hand im Spiel zu haben. Er ist ein Exempel, ein lebendes Exempel. Ich glaube und hoffe zuversichtlich und erwarte bestimmt, daß es für meine Freunde hier nicht verloren sein wird.«
»Ich schleppte mich durch«, sagte Fern nach einem Augenblick Stillschweigen, »irgendwie. Weder ich noch irgend jemand kann sagen, wie, aber so schwer, daß man es mir am Gesicht ansah, was ich war. Nun, meine Herren, Ihr Herren, die Sie zu Gericht sitzen – wenn Sie einen Mann, dem die Unzufriedenheit ins Gesicht geschrieben steht, sehen, dann sagen Sie zueinander, er ist verdächtig, ich mißtraue ihm, diesem – – – Will Fern. Bewacht den Kerl! Ich sage nicht, daß das nicht selbstverständlich wäre, ich sage nur, es ist so. Und von dieser Stunde an muß dem Will Fern alles schiefgehen, mag er tun oder lassen, was er will.«
Alderman Cute steckte die Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück; lächelte – und zwinkerte in das Licht eines in der Nähe stehenden Armleuchters. Womit er soviel sagen wollte wie: Nun natürlich! Ich hab's ja immer gesagt, das gewöhnliche Gejammer. Du lieber Himmel, wir sind über derlei schon hinaus – ich und die menschliche Natur.
»Nun, Gentlemen«, sagte Will Fern, streckte seine Hände aus, und einen Augenblick stieg ihm das Blut in sein abgezehrtes Gesicht. »Sehen Sie, wie Ihre Gesetze gemacht sind, uns Fallen zu stellen und uns niederzuhetzen, wenn wir so weit gekommen sind. Ich versuche anderswo zu leben, folglich bin ich ein Vagabund. Ins Gefängnis mit mir. Ich komm wieder zurück, schlag mir in euern Wäldern ein paar Nüsse vom Baum, liegt denn was dran? Ins Gefängnis mit mir. Einer eurer Wildhüter sieht mich am hellen, lichten Tag in der Nähe meines eigenen Strichs Garten mit einer Flinte: Ins Gefängnis mit mir! Ich spreche natürlich mit dem Mann ein Wörtchen, als ich wieder freikomme: Ins Gefängnis mit mir. Ich schneide mir einen Stock ab: Ins Gefängnis mit mir. Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe: Ins Gefängnis mit mir. Es ist zwanzig Meilen von hier, und als ich zurückkomme, bettle ich um eine Kleinigkeit auf der Straße: Ins Gefängnis mit mir. Kurz, der Gendarm, der Wildhüter – irgend jemand – findet mich irgendwo bei irgendwas. Also ins Gefängnis mit mir, denn ich bin doch ein Vagabund und ein bekannter Galgenvogel; und das Gefängnis ist meine einzige Heimat geworden.«
Der Alderman nickte beredt mit dem Kopfe, als wollte er sagen: »Und was für eine gute Heimat«.
»Sag ich das um meinetwillen? Wer kann mir meine Freiheit zurückgeben? Wer gibt mir meinen guten Namen zurück? Wer kann mir meine unschuldige Nichte zurückgeben? Nicht alle die Lords und Ladys im weiten England. Aber, Gentlemen, Gentlemen, wenn Ihr Euch wieder mit Menschen befaßt von meinesgleichen, dann faßt's am rechten Ende an. Gebt uns um Gottes willen bessere Wohnungen als die, in denen wir liegen von der Wiege an. Gebt uns bessere Nahrung, wenn wir uns um unser Leben schinden. Gebt uns mildere Gesetze, daß wir zurückkönnen, wenn wir auf falschem Wege sind. Und stellt uns nicht immer Kerker, Kerker, Kerker hin, wohin wir uns auch wenden mögen. Dann könnt Ihr dem Arbeiter jegliche Herablassung zeigen, die Ihr wollt. Er wird sie so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie ein Mann es nur tun kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches, williges Herz. Aber Ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihn einpflanzen. Denn ob er nun ein Wrack oder eine Ruine geworden sein mag wie ich, oder einer von denen ist, die dort stehen, sein Herz ist Euch entfremdet in der jetzigen Zeit. Bringt es zurück, Ihr Vornehmen, bringt es zurück! Bringt es zurück, ehe der Tag kommt, wo selbst die Worte der Bibel in seinem verirrten Sinn sich verwirren und ihm so zu klingen scheinen, wie sie mir zuweilen zu klingen schienen im Gefängnis: ›Wohin du gehst, da kann ich nicht hingehen. Wo du wohnst, da wohne ich nicht. Dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott ist nicht mein Gott!‹«
Ein plötzlicher Aufruhr und eine Erregung erhob sich in dem Saale. Trotty dachte zuerst, daß sich mehrere erhoben hätten, um den Mann hinauszuwerfen, und daher käme der plötzliche Wandel der Szene. Aber der nächste Augenblick zeigte ihm, daß Saal und Gesellschaft verschwunden waren und daß seine Tochter wieder vor ihm saß, die Arbeit in der Hand. Aber in einem ärmern, noch niedrigeren Stübchen als vorher und ohne Lilly zur Seite.
Der Stickrahmen, an dem sie gearbeitet hatte, war beiseite gelegt und zugedeckt. Der Stuhl, in dem Lilly gesessen, stand zur Wand gekehrt.
Eine lange Geschichte sprach aus diesen kleinen Dingen und aus Megs gramgefurchtem Gesicht. Wer hätte sie nicht lesen können?
Meg heftete ihre Augen auf ihre Arbeit, bis es zu dunkel geworden war, die Fäden zu unterscheiden, und als die Nacht sank, da zündete sie die dünne Kerze an und arbeitete weiter. Noch immer stand ihr alter Vater unsichtbar bei ihr, blickte auf sie herab voll zärtlicher, inniger Liebe und sprach zu ihr von den alten Zeiten und den Glocken, wiewohl er wußte, der arme Trotty daß sie ihn nicht hören konnte.
Der Abend war zum großen Teil verstrichen, als es an die Tür klopfte. Sie öffnete: Ein Mann stand auf der Schwelle. Schlottrig, betrunken und schmutzig, von Laster und Unmäßigkeit verwüstet, mit wirrem Haar und ungeschorenem Bart.
Nur noch Spuren davon standen in seinem Gesicht, daß er einstmals in seiner Jugend ein stattlicher Mann gewesen sein mochte, gut gewachsen und mit hübschen Zügen.
Er blieb stehen, bis sie ihm erlaubte einzutreten; sie wich ein bis zwei Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und voller Trauer an.
Trottys Wunsch war erfüllt: Er sah Richard.
»Kann ich hereinkommen, Margaret?«
»Ja, komm herein, komm herein.«
Hätte ihn Trotty nicht vor diesen Worten schon erkannt, wäre er im Zweifel geblieben, denn nach der heiseren, rauhen Stimme hätte er ihn für einen ganz Fremden halten müssen.
Es standen nur zwei Stühle im Zimmer. Sie gab ihm ihren und blieb von ihm entfernt stehen, abwartend, was er zu sagen habe.
Er saß da und starrte mit nichtssagendem stupidem Lächeln auf den Boden. Ein Bild so tiefer Herabgekommenheit und völliger Hoffnungslosigkeit, von so elender Verkommenheit, daß sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und sich abwandte, damit er nicht sehen sollte, wie sehr es sie erschütterte. Durch das Rascheln ihres Kleides oder sonst ein Geräusch erwachend, erhob er den Kopf und begann in einer Weise zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt gar keine Pause geherrscht hätte.
»Immer noch bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«
»Ich tu es immer.«
»Auch früh?«
»Auch früh!«
» Sie sagte das auch; sie sagte, du würdest niemals müde oder wolltest nicht eingestehen, daß du müde wärest. Die ganze Zeitlang, als ihr zusammen lebtet. Selbst dann nicht, wenn dich die Kraft verließ zwischen Arbeit und Hunger. Doch das erzählte ich dir ja schon, als ich das letztemal hier war.«
»Ja«, antwortete sie, »und ich bat dich, davon nichts mehr zu reden. Und du versprachst es mir feierlich, Richard, daß du davon niemals mehr sprechen wolltest.«
»Ein feierliches Versprechen«, lallte er mit einem blödsinnigen Lachen und ins Leere starrend. »Ein feierliches Versprechen. So, so.« Nach einiger Zeit wieder erwachend wie vorher, sagte er mit plötzlicher Lebhaftigkeit:
»Was kann ich tun, Margaret, was kann ich dafür, sie ist wieder bei mir gewesen.«
»Wieder«, rief Meg und krampfte die Hände. »Denkt sie so oft an mich. Schon wieder ist sie dagewesen.«
»An die zwanzigmal«, sagte Richard, »Margaret. Sie verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Sie kommt auf der Straße hinter mir drein und steckt es mir in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei der Arbeit bin (ha, ha, das kommt nicht oft vor), und bevor ich mich umsehen kann, flüstert mir ihre Stimme ins Ohr und sagt: ›Richard, schau dich nicht um. Um Gottes willen gib ihr das – das –.‹ Sie bringt mir's in die Wohnung, schickt es mir im Brief, sie klopft an die Scheiben und legt es aufs Fensterbrett. Was kann ich tun dagegen? Da schau her.«
Er hielt ihr eine kleine Börse hin und klimperte mit dem Gelde.
»Gib sie weg«, sagte Meg. »Gib es weg. Wenn sie wiederkommt, sag ihr, Richard, daß ich sie liebe von ganzem Herzen. Daß ich mich niemals schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten. Daß ich bei meiner einsamen Arbeit beständig an sie denke. Daß sie bei mir ist bei Tag und Nacht. Daß ich ihrer gedenken würde mit meinem letzten Atemzug, wenn ich morgen sterben müßte, aber daß ich's nicht mit anschauen kann.«
Er zog die Hand langsam zurück und sagte, die Börse mit den Fingern zusammendrückend, in einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:
»Ich hab es ihr schon gesagt; ich hab es ihr gesagt, so klar und deutlich, wie man es mit Worten nur kann. Ich hab ihr das Geschenk zurückgegeben und vor ihrer Tür liegenlassen, wohl schon dutzendemal. Und wenn sie dann wiederkam und vor mir stand, Auge in Auge, was konnte ich da tun?«
»Du sahst sie«, rief Meg, »du hast sie gesehen? O Lilly meine liebe, süße Lilly! Lilly! O Lilly, Lilly!«
»Ich hab sie gesehen«, fuhr er fort, nicht als Antwort, sondern immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Lilly stand da und zitterte: ›Wie sieht Meg aus, Richard? Spricht sie noch von mir? Ist sie magerer geworden? Mein alter Platz am Tisch! Wer sitzt an meinem Platze? Und der Stickrahmen, auf dem sie mich die Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ – – – Das sagte Lilly ich hörte sie das sagen.«
Meg unterdrückte ihr Schluchzen. Mit strömenden Tränen beugte sie sich über ihn, um zu lauschen. Nicht einen Atemzug seines Mundes wollte sie verlieren.
Und er fuhr fort, die Arme auf die Knie gestützt und vor sich hinstarrend, als wenn alles, was er sagte, auf dem Fußboden stünde in halb unleserlichen Zügen und als ob er damit beschäftigt wäre, die Schrift zu entziffern und abzulesen:
»›Richard‹, hat sie gesagt, ›ich bin sehr tief gesunken, und du kannst dir denken, was ich gelitten habe, als ich das zurückgeschickt bekam und doch wiederkomme, um es dir nochmals zu geben. Doch du liebtest sie einst, wie ich mich selbst noch erinnern kann. Andere traten zwischen euch. Ungewißheit, Eifersucht und Zweifel und Nichtigkeiten entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, daran kann ich mich selbst noch erinnern.‹
Ich glaube, es ist wahr«, fügte er hinzu, sich selbst unterbrechend, »doch das gehört nicht hierher. – – – ›O Richard, wenn du sie jemals liebtest und noch eine Erinnerung hast an das, was dahin und vorbei, so nimm das noch einmal und bringe es ihr. Noch einmal! Sag ihr, wie ich dich bettelte und bat. Sag ihr, daß ich meinen Kopf auf deine Schulter gelegt habe, wo vielleicht ihr Haupt gelegen, und wie ich dich demütig darum bat, Richard. Sag ihr, daß du mir ins Gesicht gesehen hast und daß die Schönheit, die sie immer so pries, verblaßt und vergangen ist, vergangen und dahin, und an ihrer Stelle magere, hohle Wangen sind, daß sie Tränen vergießen würde bei ihrem Anblick. Sag ihr alles und nimm's wieder mit, und sie wird es nicht zurückweisen. Sie wird es nicht übers Herz bringen.‹«
So saß er sinnend da und wiederholte die letzten Worte, bis er plötzlich wieder zu sich kam und aufstand.
»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«
Sie schüttelte den Kopf und bat ihn durch eine Gebärde zu gehen.
»Gute Nacht, Margaret.«
»Gute Nacht.«
Er wandte sich um nach ihr und war betroffen von ihrem Schmerz und vielleicht von dem Mitleiden für ihn selber, das in ihrer Stimme zitterte. Es war eine plötzliche Regung, und für einen Augenblick belebte etwas sein Gesicht, wie ein Blitz aus seinem frühern Wesen. Doch im nächsten Moment ging er, wie er gekommen war. Das Aufglimmen eines längst erloschenen Feuers leuchtete nicht hinab in die Tiefen seiner rettungslosen Erniedrigung.
Bei jeder Stimmung, jedem Kummer, in allen Qualen des Geistes und Körpers mußte Meg fortarbeiten. Sie setzte sich wieder nieder und stickte. Nacht, Mitternacht! Immer noch saß sie an der Arbeit.
Sie hatte ein dürftiges Feuer. Die Nacht war sehr kalt, und von Zeit zu Zeit stand sie auf, es zu schüren. Die Glocken läuteten halb ein Uhr, und immer noch arbeitete sie, und als die Töne verklangen, da klopfte etwas leise an die Tür. Ehe sie noch darüber nachdenken konnte, wer es wohl sein möchte zu dieser späten Stunde noch, tat sich die Türe auf. Sie sah die Gestalt, die hereintrat, rief ihren Namen und schrie auf: »Lilly!«
Und schon sank die Gestalt von ihr in die Knie und klammerte sich an ihr Kleid.
»Steh auf, mein Lieb, steh auf, Lilly. Mein einziger Liebling.«
»Nie mehr, Meg, nie mehr! Hier! Hier! An dich geschmiegt will ich sein, mich klammern an dich, ich will deinen lieben Atem auf meinem Gesicht fühlen.«
»Süße Lilly! Lilly, mein Liebling! Kind meines Herzens – keiner Mutter Liebe kann inniger sein – leg deinen Kopf an meine Brust.«
»Nie mehr, Meg, nie mehr! Als ich zum erstenmal dein Gesicht erblickte, knietest du vor mir. Auf meinen Knien vor dir laß mich sterben, hier sterben!«
»Du bist zurückgekommen. Mein alles! Wir wollen zusammen leben, zusammen ringen, hoffen, miteinander sterben.«
»O küsse meine Lippen, Meg! Lege deine Arme um mich, drück mich an deine Brust! Sieh freundlich auf mich nieder – doch hebe mich nicht auf. Laß mich hier sterben. Laß mich hier liegen auf meinen Knien, dein liebes Gesicht zum letztenmal sehen! Vergib mir, Meg! O Liebe, Liebe, vergib mir. Ich weiß, du tust es, ich sehe, du tust es, doch sage es mir auch, Meg.«
Und Margaret sagte es mit den Lippen auf Lillys Wangen. Und sie hielt in den Armen – sie fühlte es wohl – ein gebrochenes Herz.
»Gott segne dich, mein teuerstes Lieb! Küsse mich noch einmal! Auch Er duldete, daß sie zu Seinen Füßen saß und sie trocknete mit ihrem Haar. O Meg, welche Gnade und welch Erbarmen!«
Und wie sie starb, da berührte der Geist des wiederkehrenden Kindes unschuldig und strahlend den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm zu kommen.


Viertes Viertel


Verschwommen kam es Trotty zum Bewußtsein, daß die Glocken wieder läuteten, daß sich der Schwarm der Phantome wieder bildete und neu gestaltete, daß wieder die Gespenster aus den Glocken sprangen, bis sich die Erinnerung an sie in dem Gewirr ihrer Zahl von selbst verlor. So etwas wie ein Bewußtsein, das während mehrerer Jahre geschwunden gewesen sein mußte, kam über ihn, und ohne daß er wußte wie, stand der Geist des Kindes wieder neben ihm, und sie blickten wieder auf eine Gesellschaft von Sterblichen.
Eine frohe Gesellschaft, eine rotbackige, behäbige Gesellschaft. Es waren nur zwei Menschen, aber sie waren rotbackig genug für zehn. Sie saßen an einem hellen Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und geröstetem Brot in diesem Zimmer länger anhielt als irgendwo anders, dann mußte der Tisch soeben erst gedeckt worden sein. Da aber alle Ober- und Untertassen sauber waren und auf den richtigen Plätzen im Eckschrank standen und die kupferne Röstgabel ruhig in ihrem Winkel hing, die vier müßigen Zinken gespreizt, als wolle sie sich Maß für einen Handschuh nehmen lassen, so blieben keine anderen sichtbaren Zeichen einer eben beendeten Mahlzeit als höchstens die, daß sich die schnurrende Hauskatze den Bart leckte und die Gesichter ihrer Herrschaft vor Fröhlichkeit, wenn nicht zu sagen vor Fett, glänzten.
Das behäbige Paar – offenbar verheiratet – hatte sich redlich in das Feuer geteilt und war versunken in dem Anblick der sprühenden Funken, die durch den Rost hinabfielen. Bald nickte es in halbem Schlummer, dann erwachte es wieder, wenn eine heiße Kohle, lauter prasselnd als die ändern, herabfiel und einen Lärm machte, als ob das ganze Feuer herauskommen wollte.
Es lag indessen keine Gefahr vor, daß es plötzlich auslöschen würde, denn es flackerte nicht bloß in der kleinen Stube und auf den Glasscheiben der Tür und auf den Zuggardinen, die die Scheibe zur Hälfte verdeckten, sondern leuchtete auch noch in den kleinen Laden hinein. Ein kleiner Laden, ganz vollgestopft und -gepfropft mit Vorräten, ein geradezu gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen, so dehnbar und voll wie der eines Haifischs. Käse, Butter, Feuerholz, Seife, Pökelfleisch, Dochte, Speck, Flaschenbier, Kreisel, Zuckerwerk, Kinderdrachen, Vogelfutter, roher Schinken, Rutenbesen, Herdkacheln, Salz, Essig, Wichse, Salzheringe, Schreibmaterialien, Schwammsauce, Schnürband, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schiefergriffel – alles galt als Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alles hing in Netzen herum. Wieviel andere Arten von Kleinwaren noch da waren, ließe sich schwer sagen, doch Knäuel von Paketschnur, Ketten von Zwiebeln, Bündel von Kerzen, Krautnetze und Bürsten hingen in Büscheln von der Decke herab wie seltene Früchte, während verschiedene, sonderbare Töpfe, denen aromatische Düfte entströmten, die Wahrheit der Inschrift über der Außentür bestätigten, die das Publikum belehrte, daß der Inhaber dieses kleinen Ladens ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakhändler sei. Trotty fielen von all den Gegenständen diejenigen am meisten ins Auge, die im Schein des Feuers standen oder in dem weniger hellen Licht von zwei rauchigen Lampen, die nur trübe brannten, als ob ihnen die Vollblütigkeit des Ladens schwer auf die Lungen drückte. Er warf dann noch einen Blick auf die beiden Gesichter in der Wohnstube und hatte keine große Mühe mehr, in der umfangreichen alten Dame Mrs. Chickenstalker zu erkennen, die von jeher zur Beleibtheit geneigt hatte – in den Tagen schon, als er mit einer kleinen Rechnung noch in ihrem Schuldbuch stand.
Die Züge ihres Gefährten waren ihm weniger vertraut. Das große, breite Kinn mit Speckfalten, so tief, daß man einen Finger hätte hineinlegen können, die erstaunten Augen, die miteinander wetteiferten, so tief wie möglich in die Fettpolster des schwammigen Gesichts zu versinken – die mit der gemeinhin Stockschnupfen genannten Störung behaftete Nase, der kurze, dicke Hals und der schwer arbeitende Brustkasten in Verbindung mit andern Schönheiten ähnlicher Art waren wohl Dinge, die geeignet schienen, sich dem Gedächtnis einzuprägen. Aber Trotty wußte zuerst doch nicht, wohin er sie in seiner Erinnerung tun sollte. Endlich erkannte er in dem Gefährten, den sich Mrs. Chickenstalker auf der krummen, exzentrischen Lebensbahn zugelegt, den frühern Portier Sir Joseph Bowleys. Eine schlagflüssige Unschuld, die er schon früher unbewußt im Geiste mit Mrs. Chickenstalker in Verbindung gebracht hatte. Wahrscheinlich deswegen, weil er in dem feinen Hause, das ihm der Portier geöffnet, seine Verpflichtungen gegen diese Dame gebeichtet und schweren, ernsten Vorwurf deshalb auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.
Trotty fühlte wenig Interesse an einer Veränderung wie dieser nach all den einschneidenden Erlebnissen, die er mit angesehen hatte; aber oft ist die Art, wie sich Ideen verknüpfen, sehr machtvoll, und er blickte unwillkürlich hinter die Tür, wo die Schulden der Kunden angekreidet waren. Sein Name stand nicht dort. Wohl einige andere, aber sie waren ihm fremd. Und es waren ihrer unendlich viel weniger als in frühern Zeiten, woraus er schloß, daß der Portier das Bargeschäft über alles liebte und seit seinem Eintritt ins Geschäft den Schuldnern der Mrs. Chickenstalker ziemlich scharf auf die Finger gesehen haben mußte.
Trotty war so verzweifelt und tief betrübt über das traurige Schicksal seines unglücklichen Kindes, daß es ihm neue Sorge bereitete, seinen Namen als Schuldner auf dem schwarzen Brett der Mrs. Chickenstalker ausgelöscht zu wissen.
»Was für Wetter ist denn heute nacht draußen, Anna?« fragte der frühere Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sich kratzte, so weit er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, und mit einer Miene, die zu sagen schien: Ich bleibe hier, wenn's draußen schlechtes Wetter ist, und selbst, wenn's gutes wäre, brauchte ich nicht hinauszugehen.
»Der Wind geht, und es graupelt«, antwortete seine Frau, »der Himmel hängt voller Schnee. Dunkel ist's und sehr kalt.«
»Ich freue mich, daß wir geröstete Semmeln gehabt haben«, sagte der ehemalige Portier, wie jemand, der sein Gewissen beruhigt weiß. »Es ist eine Nacht, wie für geröstete Semmeln geschaffen, oder für Pfannkuchen, oder für Zwieback.« Der frühere Portier zählte noch einige Speisen auf, als wolle er sich guter Taten rühmen. Dann kratzte er sich seine fetten Beine wie zuvor und drehte sie in den Kniegelenken, um die Wärme des Feuers auch an die noch ungerösteten Fleischteile kommen zu lassen. Dabei lachte er, als ob ihn jemand kitzelte.
»Du bist heute gut aufgelegt, Tugby, mein Liebling«, bemerkte seine Frau.
Die Firma lautete jetzt: Tugby, vorm. Chickenstalker.
»Nein«, sagte Tugby, »nein. Nicht besonders. Ich bin nur ein wenig gehobener Stimmung. Die Röstschnitten waren so schön.«
Dabei gluckste er, bis er ganz schwarz im Gesicht war. Er hatte lange zu tun und mußte seine fetten Beine die wunderlichsten Verrenkungen machen lassen, bis er wieder eine bessere Farbe bekam. Er hatte auch nicht eher ein menschliches Aussehen, bis ihn Mrs. Tugby heftig in den Rücken geboxt und ihn geschüttelt hatte wie eine große Flasche.
»Gott, gütiger Himmel! Allbarmherziger Gott, erbarme dich dieses Mannes«, schrie Mrs. Tugby in großem Schrecken. »Was macht er nur?«
Mr. Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit schwacher Stimme, er sei nur ein wenig gehobener Stimmung.
»Dann, bitte, sei das nicht wieder«, sagte Mrs. Tugby »wenn du mich nicht zu Tod erschrecken willst mit deinem Strampeln und Herumfuchteln.«
Mr. Tugby sagte, er wolle es nicht wieder tun. Aber eigentlich war sein ganzes Dasein eine Art Gefecht, bei dem er, nach der ständig zunehmenden Kürze seines Atems und der Purpurfarbe seines Gesichts zu schließen, den Kürzern zu ziehen schien.
»Also, draußen geht der Wind, und es graupelt, und der Himmel droht mit Schnee, und es ist dunkel und sehr kalt, nicht wahr, mein Herz«, sagte Mr. Tugby indem er ins Feuer sah und wieder an den Ursprung seiner gegenwärtigen Heiterkeit dachte.
»Ja. Rauhes Wetter, wahrhaftig«, erwiderte seine Frau und schüttelte den Kopf.
»Ja, ja, die Jahre sind wie die Christen in dieser Hinsicht«, sagte Mr. Tugby. »Einige sterben schwer und andere leicht. Das heurige hat nicht mehr viel Tage zu leben und kämpft sich doch mächtig ab dafür. Es gefällt mir deswegen nur um so besser. Es ist eine Kundschaft da, mein Schatz.«
Als Mr. Tugby die Türe knarren hörte, war Mrs. Tugby bereits aufgestanden.
»Also, was wünschen Sie denn«, sagte diese Dame und trat in den kleinen Laden hinaus. »Was wünschen Sie denn? Ach entschuldigen Sie, Sir. Ich wußte nicht, daß Sie es sind.« Sie entschuldigte sich bei einem Herrn in Schwarz, der, den Rockkragen hochgeschlagen und mit nachlässig schiefsitzendem Hute, die beiden Hände in den Taschen, sich quer über das Tafelbierfaß gesetzt hatte und zur Erwiderung nickte.
»Es steht schlecht oben, Mrs. Tugby«, sagte der Gentleman, »der Mann wird nicht am Leben bleiben.«
»Was, der Dachstübler?« fragte Mr. Tugby und kam heraus in den Laden, um an der Konferenz teilzunehmen.
»Der Dachstübler, Mr. Tugby«, sagte der Gentleman, »kommt eilig die Treppen herunter und wird bald – unterhalb des Erdgeschosses angelangt sein.«
Abwechselnd Tugby und seine Frau ansehend, klopfte der Gentleman mit den Knöcheln auf das Faß, um aus dem Ton zu schließen, wieviel Bier noch darin sei. Dann trommelte er, als er das ergründet, einen Marsch auf dem leeren Teile.
»Der Dachstübler, Mr. Tugby«, sagte er, nachdem Tugby einige Zeit in stummer Bestürzung dagestanden, »– fährt ab.«
»Dann«, sagte Tugby, zu seiner Frau gewandt, »muß er aus dem Hause raus, noch ehe er aus der Haut draußen ist.«
»Ich glaube nicht, daß Sie ihn transportieren können«, sagte der Gentleman kopfschüttelnd, »ich möchte die Verantwortung nicht übernehmen und sagen, man könne es probieren. Lassen Sie ihn lieber, wo er ist. Er kann's nicht mehr lange machen.«
»Das ist das einzige Thema«, sagte Tugby und wog so lange seine Faust in der Butterwaage ab, bis sie krachend auf den Ladentisch fiel, »über das wir uns herumgezankt haben, sie und ich; und worauf läuft's jetzt hinaus? Nun stirbt er eben doch noch hier. Stirbt auf unserm Grund und Boden. Stirbt in unserm Haus.«
»Und wo hätte er denn sonst sterben sollen, Tugby?« fragte seine Frau.
»Im Armenhaus«, gab er zur Antwort. »Wozu sind denn die Armenhäuser gebaut worden?«
»Dazu nicht«, sagte Mrs. Tugby mit großer Energie, »dazu nicht. Deswegen habe ich dich auch nicht geheiratet. Gib dich keiner Täuschung hin, Tugby. Ich will es nicht haben. Ich erlaube es nicht. Eher laß ich mich scheiden und werde dein Gesicht nie mehr wiedersehn. Als noch mein Witwenname über der Tür stand, viele Jahre hindurch, war dieses Haus als das der Mrs. Chickenstalker weit und breit bekannt, und immer stand es in gutem Ruf und großem Ansehen. Als mein Witwenname noch über der Tür stand, habe ich ihn als hübschen, kräftigen, männlichen und ungenierten Burschen gekannt; ich kannte sie als das liebenswürdigste, niedlichste Mädchen, das jemals ein Auge erblickt hat; ich kannte ihren Vater (armer Teufel, er fiel vom Turm herunter, auf den er einmal im Schlafwandeln gestiegen war) als den schlichtesten, arbeitsamsten und gutherzigsten Mann, der je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Hause jage, dann sollen mich die Engel dereinst aus dem Himmel jagen. Sie würden's tun. Und recht geschähe mir.«
Ihr altes Gesicht, das ehemals rund gewesen war und Grübchen in den Wangen gehabt hatte in frühern Zeiten, schien wie ehemals hervorzuleuchten aus ihren Zügen. Als sie diese Worte sagte, sich die Augen trocknete und gegen Tugby den Kopf und zugleich das Taschentuch schüttelte mit dem Ausdruck einer Entschiedenheit, der offenbar nicht leicht zu widerstehen war, da sagte Trotty: »Gott segne sie! Gott segne sie!«
Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was folgen würde, denn er wußte weiter noch nichts, als daß sie von Margaret sprachen. Wenn Tugby im Wohnzimmer drüben ein wenig gehobener Stimmung gewesen, so glich er diesen Überschuß mehr als aus dadurch, daß er jetzt im Laden nicht wenig niedergeschlagen war und seine Gattin anstarrte, ohne eine Antwort finden zu können. Im geheimen aber versenkte er, entweder in einem Anfall von Zerstreutheit oder als vorsichtige Maßregel für alle Fälle, das ganze Geld aus der Ladenkasse in seine Taschen.
Der Gentleman auf der Biertonne, der ein autorisierter Armenassistenzarzt zu sein schien, war offenbar viel zu sehr an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Frau gewöhnt, als daß er seinerseits irgendwelche Bemerkung hätte fallenlassen. Er saß leise pfeifend auf seinem Faß und ließ kleine Tropfen Bieres aus dem Hahn auf den Boden fallen, bis vollständiges Stillschweigen eingetreten war. Dann erhob er den Kopf und sagte zu Mrs. Tugby, verwitweten Chickenstalker:
»Die Frau hat selbst jetzt noch etwas recht Interessantes. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«
»Na, das«, sagte Mrs. Tugby und ließ sich in seiner Nähe nieder, »ist der bitterste Teil ihrer Geschichte, Sir. Sehen Sie, sie und Richard hielten es miteinander vor vielen Jahren. Als sie noch ein junges, schönes Paar waren, war alles schon geordnet, und sie sollten sich an einem Neujahrstag heiraten. Da setzte sich's Richard in den Kopf, weil es ihm vornehme Leute eingeredet hatten, daß er was Besseres tun könnte und daß er's bald bereuen würde. Daß sie nicht gut genug für ihn wäre und daß ein junger Mann, der Grütze im Kopfe hätte, etwas Gescheiteres tun könnte als heiraten. Und die vornehmen Leute hatten ihr Angst eingejagt, daß er sie im Stich lassen würde und daß ihre Kinder an den Galgen kommen müßten und daß es gottlos wäre, zu heiraten, und ähnliches Zeug mehr. Und kurz und gut, sie schoben's auf und schoben's auf, und ihr Vertrauen zueinander war begraben, und so löste sich am Ende das Verhältnis auf. Aber durch seine Schuld. Sie hätte ihn geheiratet, Sir, mit Freuden. Ich habe sie oft nachher gesehen, wie ihr das Herz bebte, wenn er hochmütig und unbekümmert an ihr vorbeiging, und niemals hat sich ein Weib mehr eines Mannes wegen gegrämt als sie sich um Richard, als er das erstemal auf Irrwege geriet.«
»Oh, ist er auf schlechte Wege geraten?« fragte der Gentleman, den Holzstöpsel aus dem Fasse ziehend, um durch das Spundloch hineinzuspähen.
»Sehen Sie, ich glaube, daß er nicht recht wußte, was er wollte. Ich glaube, er hatte sich's zu Herzen genommen, daß sie miteinander abgebrochen, und er wäre, wenn er sich nicht der vornehmen Herren wegen geschämt hätte und vielleicht auch weil er unsicher war, wie sie es aufnehmen würde, gerne eine Probe eingegangen, um Margarets Hand wiederzugewinnen. Das ist mein Glaube. Er sagte nie etwas. Und das war desto schlimmer. Er ergab sich dem Trunke, dem Müßiggang und schlechter Gesellschaft. Lauter Vergnügungen, die soundso viel besser für ihn sein sollten als der häusliche Herd, den er hätte haben können. Er verlor sein gutes Aussehen, seine Willenskraft, seine Gesundheit, seine Körperstärke, seine Freunde, seine Arbeit, kurz: alles.«
»Er verlor nicht alles, Mrs. Tugby«, entgegnete der Gentleman, »denn er gewann eine Frau, und ich möchte gerne wissen, wie er sie gewann.«
»Ich komme schon dazu, Sir, im Augenblick. Dies ging jahrelang so fort, er sank tiefer und tiefer. Sie, das arme Wesen, litt Not genug, bloß um das Leben zu fristen. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Arbeit geben wollte und Notiz von ihm nahm. Die Türen wurden vor ihm zugeschlagen, er mochte gehen, wohin er wollte. Er wandte sich von Ort zu Ort und von Tür zu Tür, und als er nun zum hundertsten Male zu einem Herrn kam, der es immer wieder mit ihm versucht hatte, denn er war ein guter Arbeiter bis zuletzt, da sagte der Herr, der seine Geschichte kannte: >Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich. Es gibt nur eine Person in der Welt, die Euch möglicherweise retten könnte. Verlangt von mir nicht eher Vertrauen, als bis sie es mit Euch versucht hat.<« »So«, sagte der Gentleman, »und weiter?« »Nun, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder; sagte, es sei so und so; sagte, es sei immer so gewesen und bat sie, ihn zu retten.« »Und sie –? Lassen Sie sich es nicht so zu Herzen gehen, Mrs. Tugby.« »Sie kam an dem Abend zu mir und fragte mich wegen der Wohnung. >Was er mir einst war, liegt im Grab neben dem<, sagte sie, >was ich ihm einst war, aber ich hab' es mir überlegt und will den Versuch machen. Hoffentlich kann ich ihn retten um der Liebe des frohherzigen Mädchens von damals willen (erinnern Sie sich ihrer?), die an einem Neujahrstag heiraten sollte und um der Liebe ihres Richard willen.<


Und sie sagte, er wäre von Lilly zu ihr gekommen, und erzählte, wie Lilly ihm immer vertraut habe, und sie wolle das niemals vergessen. So heirateten sie denn, und als sie nach Hause kamen und ich sie sah, da wünschte ich, daß Prophezeiungen wie die, die sie auseinandergebracht hatten, als sie noch jung gewesen, nicht oft sich so erfüllen möchten, wie es in diesem Fall geschehen ist. Ich für meinen Teil möchte nicht um einen Berg Gold den Mund aufmachen, um Prophezeiungen solcher Art jemandem mit auf den Weg zu geben.«
Der Gentleman stand von dem Fasse auf und reckte sich, indem er die Bemerkung machte:
»Er mißhandelte sie wohl, als sie seine Frau geworden war?«
»Ich glaube nicht, daß er es jemals getan hat«, sagte Mrs. Tugby, ihre Augen wischend, und schüttelte den Kopf. »Eine Zeitlang ging es besser mit ihm, aber seine Gewohnheiten waren schon zu sehr eingewurzelt, als daß er sie noch hätte ausreißen können. Er bekam Rückfälle, und es fing an, wieder mit ihm abwärtszugehen, als die Krankheit über ihn kam. Ich glaube, er hat immer ein tiefes Gefühl für Margaret gehabt. Ich weiß es. Ich hab' ihn gesehen, wie er weinend und bebend ihre Hand zu küssen suchte, und ich habe gehört, wie er sie >Meg< name="page182">dem Geist des Kindes an seiner Seite wehte die Stiegen hinauf wie ein Lufthauch.
»Folg ihr, folg, folg ihr.« Er hörte die gespenstigen Stimmen in den Glocken die Worte wiederholen, als er hinaufstieg. »Lern es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist.«
Vorüber! Vorüber! Und das war sie, einst ihres Vaters Stolz und Freude, dieses hagere, abgehärmte Weib, das an der Lagerstätte, die nicht den Namen Bett verdiente, weinte und ein Kind an die Brust drückte und den Kopf auf dieses Kind hatte niedersinken lassen. Was es für ein jämmerliches, mageres, kränkliches, kleines Geschöpf war! Doch wie teuer und lieb es ihr war!
»Gott sei Dank«, sagte Toby und faltete die Hände. »Gott sei Dank, sie liebt ihr Kind!«
Der Gentleman, der weiter nicht hartherzig oder gleichgültig gegen solche Szenen war, sie nur täglich vor Augen hatte und wußte, es waren bedeutungslose Ziffern in den Filerschen Berechnungen, legte die Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte: »Sein Leid ist vorüber. Es ist besser so.« Mrs. Tugby suchte Meg mit liebevollen Worten zu trösten. Mr. Tugby mit philosophischen Gründen.
»Schauen Sie her!« sagte er, die Hände in den Taschen. »Sie dürfen nicht verzweifeln. Das nützt nichts. Sie müssen dagegen ankämpfen. Was würde aus mir geworden sein, wenn ich verzweifelt wäre, als ich noch Portier war und oft sechsmal in der Nacht im Galopp einhersausende Zweispännerequipagen vor unserem Tore hielten! Ich stützte mich auf meine Seelenstärke und machte nicht auf.«
Und wiederum hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich zu seiner Führerin und sah, wie sie von ihm wegschwebte und durch die Luft glitt. »Folge ihr!« sagte sie und verschwand. Trotty umschwebte Meg, setzte sich zu ihren Füßen nieder und suchte in ihrem Gesicht nach einer Spur ihres frühern Aussehens, lauschte auf einen Ton ihrer einst so lieblichen Stimme. Er umschwebte das Kind, das so schwächlich war, so frühzeitig alt, so schrecklich in seinem Ernst und so kläglich in seinem schwachen, traurigen, jammervollen Weinen. Er betete es förmlich an. Er umklammerte es als einziger Beschützer, den es hatte. Das Kind war doch das letzte unzerrissene Band, das Meg noch an das Leben fesselte. Er setzte seine väterliche Hoffnung und sein Vertrauen auf das schwache Kind und bewachte die Mutter mit jedem Blick, als sie es so in den Armen hielt, und sagte tausendmal: »Sie liebt es, Gott sei Dank! Sie liebt es!« Er sah, wie die Frau sie in der Nacht pflegte und zu ihr kam, wenn der brummende Gatte schlief und alles still war, – sie ermutigte, mit ihr weinte und ihr Nahrung reichte. Er sah den Tag kommen und die Nacht, und Tag und Nacht entschwinden und die Zeit vergehen. Er sah das Todeshaus des Toten entledigt, das Zimmer ihr und dem Kinde überlassen. Er hörte das Kleine wimmern und weinen. Er sah, wie es Meg quälte und sie wieder zum Bewußtsein ihrer Lage zurückrief, wenn sie kaum eingeschlummert war, und sie mit seinen kleinen Händen auf die Folter spannte. Doch sie war beständig mild und geduldig mit dem Kind. So geduldig. War ihm eine liebende Mutter im innersten Herzen, und sein Leben schien mit dem ihren so innig verknüpft, als wenn sie es noch unter dem Herzen trüge.
Die ganze Zeit hindurch litt sie Mangel, schmachtete in Elend und bitterster Not. Mit dem Kind im Arm wanderte sie hierhin und dorthin, immer auf der Suche nach Arbeit; und während des Kindes abgezehrtes Gesicht in ihrem Schoße lag und sie ansah, arbeitete sie für jämmerlichen Lohn einen Tag und eine Nacht für so viel Pfennige, als das Zifferblatt Stunden hat. Ob sie je das Kind gescholten, es vernachlässigt oder in augenblicklichem Hasse angesehen, ob sie es je in einem Anfall geschlagen hätte! Nie. Und Trottys Trost war: sie liebte es immer.
Sie sprach zu niemand von ihrer Not und war den ganzen Tag auf der Wanderschaft, um nicht von ihrer einzigen Freundin gefragt zu werden. Denn jede Hilfe, die sie aus ihrer Hand empfing, entfachte neuen Streit zwischen der guten Frau und ihrem Mann, und es war für Meg nur neues Leid, täglich die Veranlassung zu Hader und Zwietracht zu sein in einem Hause, dem sie so viel Dank schuldete.
Sie liebte das Kind immer noch, sie liebte es mehr und mehr, doch ihre Liebe nahm eine andere Form an, eines Nachts!
Sie sang das Kind gerade leise in Schlaf und ging auf und ab, als sich die Tür vorsichtig öffnete und ein Mann hereinsah.
»Zum letztenmal«, sagte er.
»William Fern!«
»Zum letztenmal.« Er lauschte wie jemand, der verfolgt wird, und sprach flüsternd:
»Margaret, meine Zeit ist abgelaufen. Ich wollte noch Abschied von dir nehmen, dir ein Wort des Dankes sagen, bevor's vorbei ist.«
»Was hast du getan?« fragte sie und sah ihn entsetzt an.
Er warf ihr einen Blick zu, aber gab keine Antwort.
Nach kurzem Schweigen machte er eine Handbewegung, als wollte er ihre Frage beiseite schieben oder sie weglöschen, und sagte: »Jene Nacht ist lange, lange schon vorbei, Margaret, aber sie steht noch so klar vor meinen Augen wie je. Da dachten wir nicht, daß wir uns jemals so wiedersehen würden.« Er sah um sich. »Dein Kind, Margaret? Laß mich dein Kind in die Arme nehmen!« Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es. Und er zitterte, als er es nahm, vom Kopf bis zu den Füßen.
»Ist es ein Mädchen?«
»Ja.«
Er bedeckte das kleine Gesicht mit der Hand.
»Sieh, wie schwach ich geworden bin, Margaret. Ich hab' nicht den Mut mehr, es anzusehen. Es ist lange her, doch – wie heißt sie?«
»Margaret«, antwortete sie schnell.
»Das freut mich! Das freut mich!« sagte er.
Er schien aufzuatmen; nach kurzer Pause nahm er die Hand weg und sah dem Kind ins Gesicht.
Doch sogleich bedeckte er es wieder.
»Margaret«, sagte er und gab ihr das Kind zurück, »es sind Lillys Züge.«
»Lillys Züge?«
»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lillys Mutter starb und mir sie zurückließ.«
»Als Lillys Mutter starb und sie zurückließ«, wiederholte Margaret verstört.
»Wie schrill du sprichst! Warum siehst du mich so an, Margaret!?«
Meg sank auf einen Stuhl nieder, preßte das Kind an die Brust und weinte. Bisweilen ließ sie es aus ihren Armen los, um ängstlich in das kleine Gesicht zu sehen. Dann preßte sie es wieder an die Brust. Wenn sie es anblickte, dann mischte sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe. Dann weinte ihr alter Vater.
»Folg ihr!« dröhnte es durch das Haus. »Lern es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«
»Margaret«, sagte Fern, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn, »ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht! Leb wohl! Gib mir die Hand und sag mir, daß du mich von dieser Stunde an vergessen willst und denken, es habe mit mir ein Ende genommen.«
»Was hast du getan?« fragte sie wiederum.
»Es wird heute nacht ein Feuer sein«, sagte Will Fern und trat von ihr zurück. »Es wird viele Feuer geben diesen Winter, um die – dunkeln Nächte zu erleuchten. Im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du siehst, daß sich der Himmel in der Ferne rötet, dann lodern sie auf. Wenn du siehst, daß sich der Himmel in der Ferne rötet, dann denke nicht mehr an mich, oder wenn du nicht anders kannst, dann stell dir vor, daß die Flammen der Hölle in meinem Innern sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht! Leb wohl!«
Sie rief nach ihm, doch er war fort. Sie saß ganz stumpf da, bis ihr Kind sie aufweckte zum Bewußtsein des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit. Sie ging im Zimmer auf und ab die ganze nicht endenwollende Nacht hindurch und wiegte es in den Armen und beruhigte es. Von Zeit zu Zeit sagte sie: »Wie Lilly, als ihre Mutter starb und sie zurückließ.« Und wenn sie diese Worte wiederholte, da wurde ihr Schritt schneller, ihr Auge so entsetzt, ihre Liebe so wild und schrecklich.
»Aber es ist Liebe immer noch«, sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird niemals aufhören, es zu lieben. Meine liebe Meg.«
Sie zog am nächsten Morgen das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt an. Eine vergebliche Mühe bei den elenden Lumpen – und versuchte noch einmal, sich Lebensmittel zu verschaffen. Es war der letzte Tag im alten Jahr. Sie suchte herum, bis die Nacht anbrach, und fand keinen Bissen Brot. Alles war vergeblich. Sie mischte sich unter die Elenden, die harrend im Schnee standen, bis es einem Beamten, der die öffentlichen Almosen verteilen sollte (das gesetzliche nämlich, nicht das, von dem in der Bergpredigt die Rede ist), gefällig sein würde, die Leute hereinzurufen und auszufragen und diesem zu sagen: »Geh da- und dorthin«, zu dem ändern: »Komm nächste Woche«, eine Art Fußball aus einem ändern Unglücklichen zu machen und ihn da- und dorthin zu treten, von Fuß zu Fuß, von Haus zu Haus, bis er matt und müde geworden sich hinlegte, um zu sterben, oder sich aufraffte zu einem Raub und sich dadurch zu jenem Verbrecherstand aufschwang, dessen Ansprüche keinen Aufschub dulden. Auch hier war sie vergebens. Sie liebte ihr Kind und wünschte nur noch, es an ihrem Herzen liegen zu haben. Das war ihr schon genug.
Es war Nacht, eine frostiger finstere, schneidend kalte Nacht, als sie, das Kind fest an sich drückend, um es zu erwärmen, an ihre Schwelle kam. Sie war so matt und schwach, daß sie nicht sah, daß im Torweg jemand stand, und es erst bemerkte, als sie in die Türe treten wollte. Da erkannte sie den Eigentümer des Hauses, der sich so im Torweg hingestellt hatte, daß er den ganzen Eingang ausfüllte. Bei seiner Gestalt fiel ihm das nicht schwer.
»Oh«, sagte er leise, »Sie sind zurückgekommen?«
Sie warf einen Blick auf das Kind und nickte mit dem Kopf.
»Glauben Sie nicht, daß Sie lange genug hier gelebt haben, ohne Zins zu bezahlen? Glauben Sie nicht, daß Sie, ohne zu zahlen, ein recht fleißiger Kunde in meinem Laden gewesen sind?« fragte Mr. Tugby.
Sie wiederholte dieselbe stumme Bewegung.
»Wie wär's, wenn Sie versuchten, einmal anderswo zu kaufen«, sagte er. »Wie wär's, wenn Sie sich nach einer ändern Wohnung umsehen würden? Was meinen Sie dazu?«
Sie sagte mit leiser Stimme, es sei schon so spät. Morgen.
»Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen«, sagte Tugby, »und was Sie eigentlich vorhaben. Sie wissen ganz gut, daß Ihretwegen zwei Parteien im Hause sind, und Sie möchten gern, daß sie sich in den Haaren liegen Ihretwegen. Ich kann Streit nicht leiden und spreche leise, um Streit zu vermeiden, aber wenn Sie sich jetzt nicht fortscheren, dann will ich einmal laut sprechen und Ihnen ein paar Worte sagen, die laut genug sein werden, daß Sie sie hören können. Hereinkommen werden Sie mir nicht. Ich stehe Ihnen gut dafür.«
Sie strich ihre Haare mit der Hand zurück und warf einen jähen Blick zum Himmel hinauf und in die dunkeln, drohenden Wolken.
»Es ist der letzte Abend im alten Jahr, und ich will nicht böses Blut und Streit und Zank ins neue hinübernehmen, weder Ihnen, noch sonst jemand zu Gefallen«, sagte Tugby, der ein Freund und Vater im kleinen war – im Krämerstil. »Ich begreife nur nicht, daß Sie sich nicht schämen, Ihre Schliche und Ränke ins neue Jahr hinüberzunehmen. Wenn Sie sonst nichts in der Welt zu tun haben, als immer zu verzweifeln und immer Zwietracht zwischen Mann und Frau zu stiften, dann wäre es besser, Sie würden abfahren. Schauen Sie, daß Sie weiterkommen!«
»Folge ihr! In der Verzweiflung!«
Wieder hörte der alte Mann die Stimme. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, und sie zeigten ihm den Weg, den Margaret einschlug, die dunkeln Straßen hinab.
»Sie liebt es doch«, rief er in angstvoller Fürbitte. »Ihr Glocken! Sie liebt es immer noch.«
»Folg ihr!« Die Schatten schwebten über den Weg, den sie genommen, wie Wolken.
Er folgte ihr und hielt sich dicht an ihrer Seite. Er blickte ihr ins Gesicht. Er sah, wie sich wieder der wilde, schreckliche Ausdruck in ihre Liebe mischte und in ihren Augen flackerte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilly! Um sich zu ändern - wie Lilly!« Und sie verdoppelte ihre Eile.
»Wenn es nur etwas gäbe, um sie zu erwecken. Einen Anblick, einen Ton, einen Duft, um in ihrem fiebernden Hirn eine zärtliche Erinnerung zu erwecken. Wenn nur ein einziges freundliches Bild aus der Vergangenheit in ihr aufstiege!«
»Ich war ihr Vater, ich war ihr Vater«, schrie der alte Mann und streckte die Hände aus nach den dunklen Schatten, die über ihm hinflogen. »Habt doch Erbarmen mit ihr und mit mir. Wo geht sie hin, reißt sie zurück! Ich war ihr Vater!«
Aber sie wiesen nur auf sie, wie sie dahineilte, und sagten: »Verzweiflung! Lern es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist.«
Hundert Stimmen hallten es wider. Die Luft bestand nur aus Atem, auf dem diese Worte schwebten. Er schien sie einzusaugen bei jeder Bewegung seiner Lungen. Sie waren überall, und es gab kein Entrinnen. Und immer noch jagte Margaret weiter, immer dasselbe flackernde Licht in den Augen, dieselben Worte auf den Lippen: »Wie Lilly! Um zu verderben wie Lilly!«
Plötzlich blieb sie stehen.
»Reißt sie zurück!« schrie der alte Mann und raufte sich das weiße Haar. »Mein Kind! Meg! Laß sie umkehren! Großer Vater, laß sie umkehren!«
Sie hüllte das Kind in ihren zerrissenen Schal. Mit fiebrigen Händen streichelte sie ihm die Glieder, rückte sein Köpfchen zurecht und ordnete die spärlichen Lappen. In ihren welken Armen hielt sie es fest, als wolle sie es nie mehr loslassen. Und mit ihren verdorrten Lippen küßte sie es im letzten Schmerz und in verzweifelter Liebe.
Sie zog die kleine Hand an sich und hielt sie fest unter den Lumpen, ganz nahe an ihr zermartertes Herz; preßte das schlafende Gesicht an sich, dicht und fest an ihre Wangen, und lief weiter hin zum Flusse.
Hin zu dem wogenden Flusse, dem schnellen und trüben, wo brütend die Winternacht saß wie der letzte finstere Gedanke vieler, die dort Zuflucht gesucht. Wo vereinzelte Lichter an den Ufern glommen, düster und rot, wie Fackeln, die brennen, um den Pfad zum Tod zu weisen. Wo keine menschlichen Wohnungen ihre Schatten warfen in die tiefe, undurchdringliche, melancholische Finsternis.
Zum Flusse hin, zu der Pforte der Ewigkeit hin eilten ihre verzweifelten Schritte, beflügelt wie die reißenden Wasser, die dem Meere zuströmen. Er wollte sie berühren, als sie an ihm vorüber zu der dunklen Fläche hinabeilte, doch die wilde, verzweifelte Gestalt im Rasen ihrer schrecklichen Liebe fegte an ihm vorbei wie der Wind. Die Verzweiflung hatte alle Hemmungen menschlichen Denkens zerrissen. Er folgte ihr. Sie stand einen Augenblick am Rande des Wassers still, ehe sie den gräßlichen Sprung tat. Er fiel auf die Knie und schrie zu den Gestalten in den Glocken, die jetzt über ihm schwebten: »Ich hab' es gelernt von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie! Rettet sie!«
Da konnte er seine Finger in ihr Gewand einkrallen, sie festhalten. Wie die Worte seinem Munde entflohen, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren und wußte, daß er sie festhielt.
Die Gestalten blickten unverwandt herab auf ihn.
»Ich habe es gelernt«, rief der alte Mann. »Vergebt mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung, so gut gewesen, die Natur in dem Herzen verzweifelnder Mütter verkannte. Seht nicht an meine Vermessenheit, meine Bosheit und mein Unwissen, und rettet sie!« Er fühlte, wie seine Hand, mit der er sie hielt, erlahmte. Die Gestalten schwiegen noch immer.
»Habt Erbarmen mit ihr«, schrie er. »Dies schreckliche Verbrechen wächst hervor aus verkehrter, verzerrter Liebe, aus der stärksten, tiefsten Liebe, die wir gefallenen Geschöpfe kennen. Bedenket, wie tief ihr Elend gewesen sein muß, wenn seine Saat solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine lebende Mutter auf der Erde, die nicht auch zu solchem Ende käme, wenn ein solches Leben vorhergeht. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit ihrem eignen hat und selber stirbt und ihre eigene unsterbliche Seele in die Waagschale wirft, um es zu erlösen.«
Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.–––
»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch«, sagte der alte Mann, und seine Blicke erspähten das Kind. Er redete wie in Verzückung. »Ich weiß, daß unser Erbteil uns erwartet in den Händen der Zeit. Ich weiß, daß der Tag kommt, wo das Meer der Zeit aus seinen Ufern tritt und wie dürres Laub wegschwemmen wird alle, die uns unterdrücken und uns Unrecht tun. Ich sehe es, wie es daherflutet. Ich habe erkannt, daß wir vertrauen und hoffen müssen und nicht an uns verzweifeln sollen und an dem Guten, das in den ändern lebt. Ich hab' es gelernt von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist. Ich halte sie fest in meinen Armen. O ihr gütigen und erbarmensreichen Geister, meine Seele ist voll des Dankes!«
Er hätte noch weiter gesprochen, wenn nicht die Glocken, die alten, vertrauten Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde – die Glocken –, ihr Freudenläuten zum neuen Jahr begonnen hätten. So fröhlich und glücklich und heiter, daß er auf die Füße sprang und damit den Zauber brach, der ihn im Bann gehalten hatte.
»Niemals wieder, Vater«, sagte Meg, »darfst du mir Kuttelfleck essen, ohne vorher den Doktor zu fragen, ob sie dir auch bekommen werden. Wie hast du dich nur gebärdet! Gütiger Himmel.«
Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihr einfaches Hochzeitskleid bunte Bänder. So selig und glücklich und in blühender Jugendfrische, so verheißungsvoll –, daß er laut aufschrie, wie wenn er einen Engel in seinem Zimmer sähe. Dann sprang er auf, um sie in seine Arme zu schließen.
Doch er verwickelte sich mit den Füßen in den Zeitungsblättern, die heruntergefallen waren, und jemand trat unvermutet ins Zimmer.
»Nein«, sagte die Stimme dieses Jemand, und es war eine helle, fröhliche Stimme. »O nein, nicht du. Nicht du. Der erste Kuß Megs im neuen Jahre gehört mein. Mein! Ich habe draußen vor der Türe gewartet, bis die Glocken anfingen zu läuten, und komme jetzt, mir mein Recht holen. Meg, mein einziges Kleinod, ein glückliches neues Jahr! Ein ganzes Leben von glücklichen Jahren, mein geliebtes Weib!«
Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen. Man konnte keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte; er saß in seinem Stuhl, schlug sich auf die Knie und lachte; saß in seinem Stuhl, schlug sich auf die Knie und lachte und weinte zugleich; er sprang von seinem Stuhl auf und umarmte Meg; er sprang von seinem Stuhl auf und streichelte Richard; er sprang von seinem Stuhl auf und liebkoste sie beide; er lief zu Meg hin und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, auf und ab wie eine Figur in einer Zauberlaterne – – und setzte sich immer wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug, er war außer sich vor Freude.
»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzblatt, dein wirklicher, glücklicher Hochzeitstag!«
»Heute!« schrie Richard und schüttelte Trotty die Hand. »Die Glocken läuten das neue Jahr ein. Hört ihr sie?«
Ja, sie läuteten! Gott segne ihre starken Herzen! Ja, sie läuteten! Die großen Glocken – mit tiefem Klang und voller Melodie. Edle Glocken! Nicht aus gemeinem Erz, von keinem gewöhnlichen Gießer geschaffen. Wann hatten sie jemals geläutet wie heute!
»Du hattest doch, mein Herzblatt«, sagte Trotty »einen Wortwechsel heute?«
»Weil er ein so böser Mensch ist, Vater«, sagte Meg, »nicht wahr, Richard. So ein halsstarriger Gewaltsmensch! Wollte er doch mit dem großen Alderman ›aufräumen‹ und sich so wenig zurückhalten, als –«
»Dich zu küssen, Meg«, fiel ihr Richard in die Rede, und tat es sogleich.
»Nein, wahrhaftig nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es für einen Zweck gehabt!«
»Richard, mein Junge«, schrie Trotty. »Du warst immer ein Kapitalbursche, und das mußt du bleiben bis an dein seliges Ende! Aber du hast doch heute abend am Feuer geweint, mein Herzblatt, als ich nach Hause kam. Warum weintest du denn am Feuer?«
»Ich habe an die Jahre denken müssen, die wir zusammen verbracht haben, Vater. Bloß deswegen. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und so einsam sein.«
Trotty kehrte wieder zu seinem geliebten Stuhl zurück, als das Kind, durch den Lärm aufgeweckt, halb angezogen hereinkam.
»Aber da ist sie ja!« schrie Trotty und fing sie auf. »Hier ist ja die kleine Lilly! Hahaha! Hier sind wir und hier bleiben wir, und nochmals: hier sind wir und hier bleiben wir! Und hier sind wir und hier bleiben wir. Und Onkel Will dazu.« Er unterbrach seinen Trab, um Fern herzlich zu beglückwünschen. »O Onkel Will, die Visionen, die ich heute nacht hatte, weil ich Euch beherbergt habe! Ach Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr gekommen seid, mein guter Freund.«
Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, platzte eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung einer Menge Nachbarn, die alle »Glückliches neues Jahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch lange Jahre!« und andere gute Wünsche in Bruchstückform hereinriefen. Die große Trommel (die ein intimer Freund Trottys war) trat einen Schritt vor und sprach:
»Trotty Veck, mein Junge, wir haben es herausgekriegt, daß deine Tochter morgen heiratet. Nicht eine Seele, die dich kennt und dir nicht alles Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Glück wünscht, oder die euch beide kennt und nicht euch beiden alles Glück wünscht, was das neue Jahr bringen kann, und wir sind hier, um es gebührend einzuspielen und einzutanzen.«
Was mit allgemeinem Jubel aufgenommen wurde.
Die große Trommel war ein bißchen betrunken, aber man merkte es nicht.
»Was das für ein Glück ist, weiß Gott, so hochgeachtet zu sein. Wie freundschaftlich und nachbarlich sie alle zu mir sind. Es geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«
Man war zum Tanze gestellt in einer halben Sekunde (Meg und Richard an der Spitze). Und die große Trommel war eben im Begriff, draufloszuledern mit aller Macht, da wurde draußen ein Gemisch der wunderbarsten Töne laut, und eine stattlich aussehende lustige Frau von fünfzig Jahren oder so drum herum kam herein und neben ihr ein Mann, der ein Steingefäß von furchterregender Größe schleppte. Beiden dicht auf dem Fuß die übliche Katzenmusik mit hohlen Knochen und Kinderklappern und Glocken. Nicht den großen Glocken – den Silvesterglocken –, sondern tragbaren, aus Glas, zum Trinken.
Trotty sagte: »Es ist Mrs. Chickenstalker«, und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.
»Zu heiraten und mir nichts davon zu sagen«, rief die gute Frau.
»So was! Ich hätte den letzten Abend des alten Jahres nicht verbringen können, ohne dir Glück zu wünschen. Das hätt' ich nicht zuweg gebracht, Meg, und wenn ich krank im Bette gelegen wäre. So, jetzt bin ich hier, und da es Neujahr und zugleich Polterabend ist, habe ich ein – wenig Grog gemacht und ihn gleich mitgebracht.«
Mrs. Chickenstalkers Ansicht von ein »wenig Grog« tat ihrem Charakter alle Ehre an. Der Steinkrug dampfte und rauchte wie ein Vulkan. Der Mann, der ihn trug, war schon halb ohnmächtig. »Mrs. Tugby«, sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumtrabte, »ich wollte sagen, Mrs. Chickenstalker, Gottes Segen auf Ihr Haupt! Ein glückliches neues Jahr und noch viele, viele solche.« »Mrs. Tugby«, fuhr er fort, als er sie zum Gruß geküßt hatte, »das heißt Mrs. Chickenstalker, dies sind William Fern und Lilly.« Zu seiner großen Überraschung wurde die würdige Dame abwechselnd blaß und rot.
»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire starb?« rief sie. Lillys Onkel bejahte, und beide wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Mrs. Chickenstalker Will die Hände schüttelte, Trotty aus freiem Entschluß abermals auf die Wange küßte und das Kind an ihren umfangreichen Busen zog.
»Will Fern«, sagte Trotty, indem er seinen rechten Fäustling anzog, »doch nicht das Freundesherz, das Sie zu finden hofften?«
»Freilich«, antwortete Willy und legte Trotty beide Hände auf die Schultern. »Wie es scheint, ein ebenso gutes Freundesherz, wenn das sein kann, wie ich bereits in Ihnen eins gefunden.«
»Oh«, sagte Trotty, »spielt doch endlich eins auf. Möchtet ihr nicht die Güte haben?«
Zu den Klängen der Musikbande, der Kinderklappern und der Katzenmusik und während noch die Glocken fröhlich vom Turme schallten, führte Trotty mit Mrs. Chickenstalker – nach Meg und Richard das zweite Paar – einen Tanz auf in einer Art Walzerschritt, den weder vorher noch nachher jemals ein menschliches Auge gesehen hatte und der auf dem ihm so eigentümlichen Dienstmannstrab aufgebaut schien.
Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen nur ein Traum gewesen? Er selber nur ein Traum? Und der Erzähler dieser Geschichte – ein Träumer, der eben erwacht? Sollte dies auch so sein, dann präget ihr, die ihr ihm zuhörtet, die ernsten Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entsprangen, euerer Seele ein und sucht in euerer Sphäre – keine ist zu weit und keine zu eng für solch einen Zweck – sie besser zu gestalten und minder drückend. Möge das neue Jahr ein glückliches für euch sein und ein glückliches für alle die, deren Glück von euch abhängt. So möge denn jegliches Jahr glücklicher sein als das vorherige, und nicht der geringste unserer Brüder oder Schwestern soll ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an Freude, zu dessen Genuß der große Schöpfer ihn schuf.